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Helmuth Schönauer bespricht:
Alois Hotschnig
Der Silberfuchs meiner Mutter
Roman

Germanisten kümmern sich um die Autoren, Rezensenten um die Leser. Bei einem Meisterwerk treffen beide friedlich aufeinander und besingen das Kunststück von vorne und hinten.

Alois Hotschnig ist ein versöhnender Dichter, der die oft seltsam schrägen Ansprüche der Germanisten mit den geraden Bedürfnissen der Leserschaft zusammenbringt. Seine solitären Bücher zeigen, dass sich ausgehungerte Lesende zum Buch meist noch etwas hinzu wünschen, ehe sie mit der Lektüre beginnen.

a) Ein idealer Dichter sollte sich vorerst rar machen, aber dennoch in Reichweite der Wahrnehmung sein. Über Alois Hotschnig gilt das Diktum, dass er die Stadt bereichert durch seine bloße Anwesenheit. Viele sind dankbar, dass er in Innsbruck wohnt, einer Stadt, die seine edle Schreibseele gar nicht verdient hat.

b) Gleichzeitig soll der ideale Dichter viele Preise haben und somit in der Premium-Liga mit den üblichen zwanzig Großpreisträgern Tag und Nacht um Preise spielen, die es vielleicht noch gar nicht gibt.

c) Und drittens sollte er von einem Schicksal erzählen, das wir alle im Unterbewusstsein herumtragen, und das jetzt durch „seine“ Schreibkraft an die Öffentlichkeit gelangt. So können wir für Augenblicke über längst verloren geglaubte Sachen aus der Kindheit reden, ehe wir wieder still werden und unsere Lebensläufe zu Ende bringen.

Nach zwölf Jahren gibt es also wieder ein Buch von Alois Hotschnig, und tagelang wird in diesem September für die „Hotschnig-Woche“ alles aufgeboten, was lesen oder ein Buch halten kann. Es ist ein Aufmarsch durch alle literarischen Institutionen, die das Buch bevorworten, moderieren, mit Senf versehen und letztlich dem Publikum sagen: So soll es sein!

In dieser Euphorie tut man sich beim Lesen eine zeitlang schwer, den Weihrauch wieder aus der Nase zu kriegen und den „Silberpelz meiner Mutter“ ähnlich kaltschnäuzig zu lesen wie früher einmal „Zobeljäger und Kosak“.

Zum Downcoolen verhilft auch gleich der erste Druckfehler, den man auf Seite zehn findet, man freut sich darüber, dass trotz angeblicher Schreibsorgfalt auch den germanistischen Stars irdische Fehler passieren, die unsereins Seite für Seite hinlegt.

Solcherart trivialisiert und zum Lesen ermutigt stößt man bald auf das Geheimnis dieses Romans: Es besteht aus den Schlüsselwörtern, die mehrdeutig sind. Diese „Reizwörter“ sind kursiv gesetzt, etwa drei bis fünf pro Absatz, und sie erleichtern das Lesen ungemein.

Für den ersten Durchlauf genügt es, diese Kursiv-Wörter der Reihe nach zu lesen, um in Grundzügen so etwas wie Handlung, Plot oder Lebenslauf des Helden herauszudestillieren. Im zweiten Durchlauf, der in „Echtzeit“ abgewickelt wird, geht es darum, das Mehrdeutige auf sich wirken zu lassen. Harmlose Begriffe wie Russen, Epilepsie, ich weiß nicht, herausholen oder Unkeuschheit erhalten eine eigene Dynamik, da sie scheinbar einst wörtlich so gesagt worden sind, aber durch den Verlauf der Zeit eine andere Bedeutung angenommen haben.

Daraus ergibt sich das wahre Thema dieses Romans. Ein Ich-Erzähler kommt über Umwege der Erinnerung, Befragung und verlorengeglaubter Briefe zu einer Lebensgeschichte, die er zwar für die seine hält, die aber mit den Wörtern der anderen zusammengeleimt ist.

Der Held und Ich-Erzähler ist ein Kind, das 1943 aus dem Naziprojekt Lebensborn hervorgegangen ist. Nachdem die Mutter in Norwegen von einem deutschen Soldaten schwanger geworden ist, muss sie flüchten, weil sie als Kollaborateurin gilt. Die Aktion Lebensborn stellt ihr ein Ticket aus und legt eine Reiseroute von Norwegen nach Hohenems fest. Dort kommt es zu einer neuen Identität durch einen Stiefvater, später gibt es für das staatenlose Kind sogar die Staatsbürgerschaft durch Adoption.

Die Mutter wird allmählich wahnsinnig, das Kind arbeitet sich durch diverse Nachkriegsberufe, bis es eine Schauspielschule besucht und Darsteller quer durch Europa wird. Jetzt im Ruhestand hat es sich ergeben, dass ihm Freunde die scheinbar wahre Geschichte aufgeblendet haben. Aber für den Helden bleibt es bei einer doppelten Identität, es ergeht ihm wie der norwegischen Nationalfigur Peer Gynt, ein Teil verlauft ungeschützt durch die Seele, der andere Teil ist Spiel.

Die hohe Glaubwürdigkeit der Geschichte entsteht im Vergleich mit den Biographien der Lesenden. Was immer der Held erzählt, er erzählt ein Stück zeitversetzte Geschichte. Für die einen wird der Fokus somit auf dem jüdischen Leben in Hohenems liegen, das ausgerottet und verschütt gegangen ist, für andere im Slang der Norwegen-Kämpfer, die in kursiver Schrift von ihrem Unglück im Norden erzählen. Ein dritter Strang führt durch die Psychiatrie der Fünfziger und Sechziger Jahre, ein vierter kümmert sich um die diversen Rollen, die es am Theater jeweils angepasst an die Gegenwart „über die Bühne zu bringen“ gilt.

Am berührendsten freilich ist jene Erzählung, wo das Kind die 1950er Jahre mit sich selbst spielt und inszeniert. Es hat sich zu diesem Zweck aus den Brettern der aus dem Boden schießenden Nachkriegshäuschen eine kleine Bühne gebaut und spielt nach Erzählungen der Mutter „Peer Gynt, Diabetes und Wahnsinn“. Diese Wörter sind nämlich gerade im Umlauf. Am liebsten spielt es Umfallen und Epilepsie, wie es die Mutter vormacht.

Damals braucht es für solche Selbst-Stücke kein Bühnenbild, denn die Wirklichkeit ist grell genug. Den Leuten fehlt der Reihe nach ein Auge, Bein oder ein Arm, wer alles dran hat, muss in die Psychiatrie, weil es ihn „innen“ erwischt hat. Der Stiefvater ist immer am Schlachten, seine kopflosen Hühner verfolgen den Erzähler ein Leben lang. „Die Leute haben ihre Häuser hingestellt und sind gestorben.“

Alois Hotschnig liefert mit seinem Roman eine Schöpfkelle mit, mit der sich ein halbes Jahrhundert ausheben lässt. Die Kinder aus der Aktion Lebensborn sind jetzt am Aussterben, die Kids aus den 1950er Jahren kämpfen mit den Erinnerungen, die täglich verlöschen. Aber die im Buch gezeigte Methode des „kursiven Erinnerns“ macht sie alle unsterblich.

Und ab und zu wird die melancholische Grübel-Arbeit mit einem großen Bild abgeschlossen. Die Mutter hat auf dieser Welt neben etwas Krimskrams einen Silberfuchs hinterlassen, ihr Sohn wickelt ihn um ihr Grabkreuz, damit sie es endlich einmal warm hat.

Alois Hotschnig: Der Silberfuchs meiner Mutter. Roman.
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2021. 219 Seiten. EUR 20,60. ISBN 978-3-462-00213-3.
Alois Hotschnig, geb. 1959, lebt in Innsbruck.

Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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