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H.W. Valerian
Schweinchen am Trog?
Essay

Über die Politiker schimpfen, das ist nicht nur Volkssport, es ist auch Zeitvertreib. Oder Füllmaterial für schleppende Konversationen. Und wie sind wir uns doch alle einig: Politiker sind unfähig, korrupt, haben nur ihren eigenen Vorteil im Sinn.

„Schweinchen am Trog“, pflegt die Begleiterin und Behüterin meines Lebens zu sagen. Was könnte man dagegen einwenden? Gerade in den letzten paar Jahren schienen es besagte Politiker und -innen darauf angelegt zu haben, negative Vorurteile zu bestätigen.

Trotzdem soll hier – na ja, nicht gerade eine Lanze gebrochen werden für unsere Politiker, aber es sollen doch ein paar abweichende Überlegungen angestellt werden, wenn’s erlaubt ist. Zunächst sollte uns klar sein, dass derart pauschale Urteile an sich schon nicht stimmen können. Alle Politiker – Landtags- oder Parlamentsabgeordnete bis herunter zu Abgeordneten in Gemeinderäten – raffgierig und korrupt? So was kann’s doch eigentlich gar nicht geben, oder?

Wenn schon kein anderes Argument akzeptiert wird, so müsste doch dieses einleuchten: Wenn „die Politiker“ allesamt eine derart elende Bande wären, wie wäre es dann möglich, dass Österreich heute so gut dasteht?

Nicht nur in Bezug auf Wohlstand, sondern ebenso in Bezug auf Rechtssprechung, Polizei, Gesundheitswesen, Schulen – was auch immer. In Staaten mit einem korrupten System schaut das alles anders aus! So sehr wir uns über Fälle von Korruption empören, so sind es bisher doch Fälle geblieben.

Natürlich plagt uns der Verdacht, es könne sich um Systeme handeln, zumindest in bestimmten Bereichen – in der Bauwirtschaft zum Beispiel. Aber das ist eben bloß ein Verdacht. Nach wie vor erwarten wir, dass Korruptionsskandale ab und zu auffliegen, dass sie dann in den Medien an den Pranger gestellt und schließlich von den Gerichten abgehandelt werden. In einem korrupten System wäre das schwerlich der Fall; beziehungsweise wären die Gerichtsverhandlungen nur von nebensächlichem Interesse.

Wie so ein System im Alltag ausschauen kann, das haben wir in der Dominikanischen Republik mit eigenen Augen gesehen. Wenn man dort ein Auto mietet, dann wird einem von Anfang an geraten, stets ein paar Geldscheine parat zu halten für den Polizisten an der Kreuzung. Wenn der ein Auto aufhält, dann folgt keineswegs eine umständliche Verkehrskontrolle. Man fährt an den Mann heran, drückt ihm die Geldscheine in die Hand und fährt weiter. Ist so was wirklich möglich?

Wir begaben uns auf Beobachtungsposten und schauten zu. Und siehe da: Ja, es funktionierte tatsächlich so! Später erfuhren wir, dass die Kreuzungen verpachtet werden. Die Polizisten verdienten nämlich so wenig, dass sie das zusätzliche Einkommen bitter nötig hatten.

Solche Zuständ’ können wir uns hier, bei uns, nicht einmal vorstellen. Später hab’ ich einmal den Bericht einer jungen somalischen Frau gelesen, der die Flucht nach Deutschland gelungen war. Für sie war es nach wie vor ein Wunder, wie pünktlich und verlässlich die Busse hier verkehrten. Wenn auf dem Fahrplan stand 10:15, dann kam der Bus um Viertel nach zehn. Und der nächste um Dreiviertel. Darauf konnte man bauen.

Kein korrupter Staat demnach, keine korrupte Gesellschaft. Und deshalb können „die Politiker“ auch nicht so korrupt sein, wie wir das gerne konstatieren.

Es mag schon sein, dass ab einer gewissen Höhe der Position nicht bloß die Versuchung zunimmt, sondern ebenso die Bereitschaft, ihr nachzugeben. Dass dort oben die Korruption tatsächlich fast schon zum System gehört. Man denkt an Parteispenden, an großzügige Werbeeinschaltungen oder was dergleichen mehr sein mag.

Warum, so mag man sich fragen, fallen Spitzenpolitiker immer wieder darauf rein? Hätten sie nicht so schon genug: Geld, Macht?

Die Antwort, so glaube ich, liegt in der Persönlichkeit solcher Leute. Sie sind einfach machtbewusst, risikobereit, ehrgeizig, wohl auch skrupellos bis zu einem gewissen Maße – sie müssen es sein, sonst wären sie nicht das, was sie nun eben sind. Das ist ein Zusammenhang, den wir allzu gerne vergessen.

Wir erwarten strahlende Polit-Helden, aber die Kehrseite, die darf’s nicht geben. Nicht sehr logisch, wie man einsehen wird, man könnte durchaus auch sagen: verlogen.

Dasselbe gilt übrigens für die Affären unserer Herren Politiker, ein ständig wiederkehrender Stein des Anstoßes, an dem sich Medien und Öffentlichkeit ihre Empörung abarbeiten können. Aber was erwarten wir uns? Den Machtmenschen, den energischen Macher, adrenalin- und testosteron-getränkt, der das alles am Abend auf Kommando abdrehen kann und nur noch den kleinbürgerlichen Ehemann und Familienvater gibt?

Wir sehen: Selbst unsere Politiker müssen Spannungen aushalten, widersprüchliche Erwartungen, unerfüllbare Anforderungen. Man kann natürlich immer sagen: Sie müssen’s ja nicht tun! Niemand hat sie’s geheißen, niemand hat sie gezwungen. Mag sein. Was täten wir aber, wenn wir diese Typen nicht hätten?

Man stellt sich das so idyllisch vor: lauter Menschen wie du und ich, ohne besonderen Ehrgeiz, ohne Machtstreben. Ach, wie schön! Aber leider, und wie so oft: So funktioniert das nicht – nicht in der Realität.

Selbst Grüne und Alternative müssen lernen, mit Macht umzugehen, sofern sie was bewirken wollen. Wenn sie im Parlament mitgestalten wollen, wenn sie – horribile dictu – womöglich gar mitregieren wollen. Wie viele Kompromisse kann man da eingehen? Wie weit darf man gehen, muss man gehen? Um solche Fragen in der Praxis zu beantworten, brauchen wir Menschen, die mit Macht umgehen können und wollen. Ernüchternd, aber so ist’s halt.

Noch etwas kommt dazu, in unseren Tagen. Über Jahrzehnte hinweg handelte es sich bei der Politikerschelte um ein harmloses Volksvergnügen, um einen Zeitvertreib. Wir machten alle mit, ohne drüber nachzudenken. Konsequenzen ergaben sich ohnehin keine, die waren von uns auch gar nicht beabsichtigt.

Diese Harmlosigkeit war umso leichter möglich, als sich das Ganze auf einer festen Bühne abspielte: nämlich unserer Zweiten Republik samt ihrer demokratischen Institutionen. Weder standen die in Frage, noch wäre der Durchschnittsösterreicher auf die Idee gekommen, sie in Frage zu stellen. Auf dieser sicheren Basis konnte herrlich angenehm gespöttelt und gewitzelt werden.

Nur leider – inzwischen, so scheint es, hat diese unerschütterliche Basis doch Risse und Sprünge bekommen. Begonnen hat das vermutlich mit dem unseligen Wirken von Jörg Haider. Auch wenn er’s vielleicht nicht offen sagte, stellte er doch unser demokratisches System in Frage, unter anderem, indem er alle anderen Parteien verteufelte.

Nach seinem Tode führten das Strache, Hofer, Gudenus und Kickl weiter. Inzwischen sind wir bereits bei den erregten Parolen der Impfverweigerer und sonstiger Querdenker angekommen. Denen geht’s tatsächlich um einen „Systemwechsel“, wie man so sagt. Sie meinen die andauernde Politikerschelte genau so, wie sie’s sagen, also wörtlich, nicht mehr mit jenem Schuss Ironie, der bisher dieser Schelte unter anderem auch innewohnte.

Damit nimmt aber das alte, vertraute Gesellschaftsspiel ganz neue Züge an. Aus dem Spiel wird Ernst. Und welcher Ernst! Wenn „die Politiker“ wirklich alle korrupt und machtgierig wären, dann hieße das doch, dass unsere Demokratie insgesamt faul wäre. Durch und durch und unverbesserlich. Dann bliebe nur die Möglichkeit, eine andere, eine bessere Regierungsform aufzubauen. Und genau in diese Richtung dachten Haider und seine Jünger, ebenso wie seine Nachfolger.

Haider hat unsere Form der Demokratie einmal eine „autoritäre Erziehungsdemokratie“ genannt. Da er überdies pauschal von den Demokratien „des Westens“ sprach, ließ er keinen Zweifel offen, was er meinte: unsere Form der Demokratie. Die passte ihm nicht.

Und da stehen wir heute. Demagogen, die wenn schon nicht offen gegen die Demokratie polemisieren, so doch ständig mit ihren Regeln, ihren Tabus spielen, gibt’s inzwischen genug, international scheinen sie immer mehr zu werden. Über kurz oder lang könnte unsere Demokratie solcherart wirklich in Bedrängnis kommen. Steter Tropfen höhlt den Stein.

Wir sollten uns vielleicht daran erinnern, wie in der Zwischenkriegszeit die Demokratien in Mitteleuropa wegbröckelten, so lange, bis nur noch die Tschechoslowakei übrig blieb. Ganz offensichtlich war da der viel beschworene Zeitgeist am Wirken. Wie schnell kann sich der ändern? Wie nachhaltig?

Wenn man sich das Zeitgeschehen von heute anschaut, wenn man sich anhört, was auf Demonstrationen skandiert wird, dann muss man wohl nachdenklich werden. Denn klein sind diese Demonstrationen gewiss nicht. Fünfstellige Teilnehmerzahlen. Wenn wir die hochrechnen?

Die gesicherte, die gemütliche Basis für unser Gesellschaftsspiel ist also ins Wanken geraten. Ich weiß nicht, wie’s Ihnen geht, aber mir wird da schon ein bisschen unheimlich. Es beschleicht mich – ja, ich geb’s zu –, es beschleicht mich Angst. Und deshalb hör ich’s gar nicht gern, wenn jemand wieder einmal anfängt: „die Politiker…“

Vielleicht ist’s an der Zeit, dass die Menschen – alle Menschen, die unsere Demokratie wollen – dass sich die besinnen und eben dafür einstehen. Dass sich alle Demokraten der Gefahr bewusst werden, dass sie dementsprechend vorsichtiger agieren, vor allem aber: dass sie zusammenhalten.

Und das würde auch erfordern, dass wir mit der dümmlichen Politikerschelte aufhören.

Na ja, höre ich die Einwände, leicht gesagt, aber wenn man sich anschaut, was Kurz, Blümel, Sobotka, was da auf politischem Parkett in den letzten Monaten und Jahren aufgeführt wurde, dann dürfte es wohl schwierig werden, nicht über „die Politiker“ zu schimpfen und zu spotten: difficile est satiram non scribere. Und so ist das in der Tat, leider.

Es muss uns allen, Politikern wie Laien, klar werden, rasch klar werden, welche Verantwortung wir tragen: für die Demokratie, für jenes politische System, wie wir’s seit 1945 gekannt haben – und wie wir es bis heute schätzen. Von dem wir profitiert haben.

Auch deshalb muss meine Aufforderung gelten, ob’s dem oder der einzelnen nun passt oder nicht: Verachtet mir die Politiker nicht!

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H.W. Valerian

H.W. Valerian (Pseudonym), geboren um 1950, lebt und arbeitet in und um Innsbruck. Studium der Anglistik/Amerikanistik und Germanistik. 35 Jahre Einsatz an der Kreidefront. Freischaffender Schriftsteller und Journalist, unter anderem für "Die Gegenwart". Mehrere Bücher. H.W. Valerian ist im August 2022 verstorben.

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