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H.W. Valerian
Impfung & Grundrechte
Notizen

Im Standard vom 18. September 2021 schreibt Heribert Prantl, ehemaliger Leiter des Meinungs-Ressorts der Süddeutschen Zeitung, über das Impfen, eine allfällige Impfpflicht und über die so genannten Grundrechte. Es gehe nicht an, meint er, dass Mitbürger in ihren Grundrechten eingeschränkt werden, weil sie sich nicht impfen lassen: Denn der Mensch sei von Anfang an „mit Grundrechten geimpft“. Es sei dies ein Schutz, „der da ist und da bleibt, wie immer das Leben eines Menschen verläuft, welches Leben er auch lebt.“

Wirklich? Schützt die Impfung dann auch vor Taliban, Erdogan, Lukaschenko? Hat sie einst vor den Nazis geschützt?

Sicher, man könnte Ähnliches aus der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung herauslesen: „endowed with certain unalienable rights“. Aber selbst damals, in dieser Sternstunde der politischen Aufklärung, galt das keineswegs für alle Menschen. Die Sklaven waren ausgenommen.

Schon damals also wurden die angeblich unveräußerlichen Rechte drastisch beschränkt. Und durch wen? Durch die führenden Köpfe der dreizehn Kolonien selbst, in weiterer Folge durch deren Gesetzgebung, später durch die Verfassung der neu gegründeten Vereinigten Staaten (nicht expressis verbis, aber doch implizit).

Und so ging das weiter, ganz egal wo, ganz egal wann. Rechte wirken nur insofern, als sie gewährleistet werden, geschützt, im Fall des Falles durchgesetzt. Durch wen? Durch Polizei und Gerichte! Und die werden bekanntlich vom Staat betrieben. In einem geordneten Staatswesen ist derlei selbstverständlich.

Es sei daran erinnert, dass die Grundrechte hierzulande seit 1867 in der Verfassung verankert sind. Zugleich weiß jeder und jede, der oder die auch nur über geringste geschichtliche Kenntnisse verrfügt, dass sie über weite Strecken des 20. Jahrhunderts außer Kraft gesetzt waren.

Dies bedeutet: Grundrechte müssen – nein, nicht sie müssen verteidigt oder womöglich gar gewonnen werden. Worauf es ankommt, das ist der Staat! Der demokratische Rechtsstaat. Seine Verfassung. Seine Organe. Sie müssen permanent verteidigt werden, und wenn’s schlecht läuft, sogar von neuem erkämpft.

Womit wir zum Impfen kommen: Stures, unbelehrbares Beharren auf den Grundrechten eines Individuums wird nämlich diesen Staat nicht stärken, nicht schützen, eher im Gegenteil. Das erleben wir gerade jetzt: Da wird der Staat rasch zum Feindbild, zum Gottseibeiuns. Womit sich die feurigen Beharrer auf ihren Grundrechten selbst den Ast absägen, auf dem sie sitzen.

Es ist keine angenehme Einsicht, aber wir sollten sie doch beherzigen: Um Grundrechte genießen zu können, brauchen wir einen Staat. Wir müssen diesem Staat dienen, seine Anordnungen befolgen, selbst wenn’s uns gerade nicht passt.

Wir müssen also einen kleinen Teil unserer individuellen Grundrechte abgeben.
Nur so ist gewährleistet, dass wir in den Genuss eben dieser Grundrechte kommen. Wenn wir den Staat schwächen, gar in seinen Funktionen beeinträchtigen, dann wird’s bald vorbei sein mit den angeblich unveräußerlichen Rechten.

Ein Paradox, gewiss. Auf jeden Fall sollten wir jedoch festhalten: Von einem „Impfschutz“ durch Grundrechte kann keine Rede sein. Das ist ein schiefes Bild – gelinde gesagt.

Heribert Prantl, „Mit Grundrechten geimpft: Zeit, in der Corona-Debatte abzurüsten“, Der Standard (18. September 2021)

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H.W. Valerian

H.W. Valerian (Pseudonym), geboren um 1950, lebt und arbeitet in und um Innsbruck. Studium der Anglistik/Amerikanistik und Germanistik. 35 Jahre Einsatz an der Kreidefront. Freischaffender Schriftsteller und Journalist, unter anderem für "Die Gegenwart". Mehrere Bücher. H.W. Valerian ist im August 2022 verstorben.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Franz Mathis

    Mit dem Rechnen ist das so eine Sache. Unsere Medien versorgen uns zwar mit vielen Zahlen, beim Rechnen damit ist allerdings noch etwas Luft nach oben.
    Ein Beispiel aus der aktuellen Debatte: Es ist schon wiederholt darauf hingewiesen worden, dass die Zahl der auf Intensivstationen versorgten Covid-Patienten den täglich neuen Infektionszahlen etwa 2 Wochen hinterherhinken.
    Wenn wir daher derzeit knapp 600 Intensiv-Betten mit Covid-Patienten belegt haben, ist dies die Folge der 4.000 bis 5.000 täglichen Neuinfektionen Ende Oktober. Hochgerechnet auf die aktuell rund 12.000 Neuinfektionen (also knapp dreimal so viel) würde dies bedeuten, dass in weiteren 2 Wochen wohl über 1.500 Covid-Patienten auf den Intensivstationen liegen werden, oder diese statt jetzt zu rund 40 % dann bis zu 100 % mit solchen Patienten belegt sein werden – mit der Folge dass für andere Patienten, die eine Intensivbehandlung benötigen (Infarkte, Operationen, Verkehrsopfer etc.) kein Platz mehr vorhanden wäre.
    Leider habe ich eine solche Rechnung, die die Situation in einer bis dato noch nicht wahrgenommenen Schärfe und Dramatik darstellen und nach sofortigen und härteren Gegenmaßnahmen geradezu „schreien“ würde, bislang noch nirgends gelesen oder gehört.
    Bleibt nur zu hoffen, dass es nicht ganz so schlimm kommt!

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