Print Friendly, PDF & Email

H.W. Valerian (1951 - 2022)
Statt eines Nachrufs

Letzte Woche erreichte uns die Nachricht, dass H.W. Valerian, dessen bürgerlicher Name Heinrich Payr ist, unter dem er auch mehrere Bücher veröffentlicht hat, seiner Krankheit erlegen ist. Er hat sie nunmehr seit vielen Monaten mit der Gelassenheit eines englischen Sirs ertragen. Berichte über seinen Leidensweg veröffentlichte er nicht nur im vorliegenden schoepfblog, sondern auch im von ihm besonders geschätzten Online-Magazin Alpenfeuilleton.

Die Gründe, weshalb er für sein Schaffen ein Pseudonym wählte, was es naturgemäß erschwerte, einen größeren Bekanntheitsgrad zu erreichen, ergaben sich aus seiner Entscheidung, sein Leben als Intellektueller einerseits und als Lehrer für Deutsch und Englisch an der HTL Fulpmes und als Privatmensch andererseits strikt zu trennen.

Diesem seinem Willen wollen wir auch nach seinem Tode folgen, indem wir lediglich und mit Betroffenheit feststellen, dass wir einen sehr belesenen, freundlichen, klug argumentierenden und exzellent schreibenden Kollegen verloren haben.

Im Übrigen möchten wir mit Beistand unseres Chef-Rezensenten Helmuth Schönauer auf die letzten von H.W. Valerian erschienenen Werke hinweisen und sie zur Lektüre empfehlen.

Alois Schöpf, Herausgeber

 

Nicht zu glauben

Im Alltag wird die Fügung „nicht zu glauben“ meist mit Kopfschütteln oder Seufzen unterlegt, eine Geschichte ist meist dann so richtig gut, wenn sie fast nicht zu glauben ist. Die unglaublichste Geschichte überhaupt ist freilich die Geschichte rund ums Glauben selber, sie ist tatsächlich kaum zu „derpacken“, wie man so im Volksmund sagt.

H.W. Valerian hat nichts anderes im Sinn, als mit den Mitteln der katholischen Glaubenslehre diese zu hinterfragen und ins Leere laufen zu lassen. Ein wunderbares, intellektuell anregendes und sagenhaft spannendes Unterfangen!

In einem Land, wo letztlich alles derstunken und derlogen ist, darf auch der Autor nicht unter seinem echten Namen auftauchen, schließlich gibt es immer noch den subtilen Terrorismus in der Provinz, wo jeder Un- oder Andersgläubige sofort vernichtet wird. Valerian ist also ein Künstlername, wobei zu genießen ist, dass der römische Kaiser dieses Namens vor seiner Regentschaft von 253 – 260 n. Z. in den Provinzen Noricum und Raetien das Handwerk des Provinzmanagements von der Pike auf gelernt hat.

Unter dem Deckmantel des Pseudonyms heraus bombardiert der Autor in der Folge den Leser mit zwölf Giga-Briefen und einem Abspann.

Die weit ausholende Form der Reflexion ist gewöhnungsbedürftig, aber der süffisante Stil, mit dem die katholischen Pseudothemen eingekreist und schließlich ausgehebelt werden, ist bemerkenswert.

Freilich gilt auch für Valerian, was für alle Glaubensritter gilt. Wer schon was glaubt, wird bestärkt, wer nichts glaubt, glaubt weiterhin nichts, weil die Sache mit der Glauberei eben nicht logisch oder intellektuell vermittelt werden kann. So bleibt für den intellektuell aufgeschlossenen Leser ein Riesengenuss, sich das katholische Abendland einmal vorführen zu lassen und sein Versinken in den eigenen Argumenten zu beobachten.

Warum ist die Kirche gegen die Abtreibung, aber für die Todesstrafe? Warum haben die Menschen ähnliche Bilder vom Jenseits und besetzen diese manchmal religiös? Warum entwickelt sich die Welt doch irgendwie passabel, obwohl ständig Menschen der Religion den Rücken kehren? Warum sind Menschen in einem religiös durchtränkten Land um nichts besser als gottlose Menschen in einem aufgeklärten Gemeinwesen?

Valerian schält ununterbrochen pfiffige Fragen aus dem Lullebrei der Religion. Dabei zitiert er frisch und unverfroren aus den Bestsellern der Geistesgeschichte und diskutiert dialektisch einwandfrei und mitreißend. Die notwendigen Anspielungen und Seitenhiebe sind ironisch fein verfasst, etwa wenn sich herausstellt, dass der ehemalige Betreiber des Kirchenvolksbegehrens deshalb Landesschulinspektor geworden ist, weil beten eben doch was hilft.

Neben den Auffrischungen des eigenen Gemüts lernt man als Leser wieder jene Tugenden aus vergangenen Zeiten, die das Leben aufregend machen: Diskutieren, Dranbleiben, Dampfablassen.

H. W. Valerian: Nicht zu glauben. Briefe an einen katholischen Freund
Innsbruck: Limbus 2006. 376 Seiten. EUR 15,30. ISBN 3-902534-01-X

 

Im Kennedyhaus

Warum erzählt man sich jenseits der Sechzig das eigene Leben in fragmentarischen Geschichten? Vielleicht, um ein wenig den Hauch von Hemingway aus der Jugend herüberzuretten.

H. W. Valerian lässt in drei seltsam verdichteten Lichteinstellungen Sequenzen aus der Jugend vor seinem Erinnerungsauge abrollen. Er hält sich nah ans Autobiographische, dennoch ist sein erinnerndes Ich über lange Strecken ein Instrument der Fiktion. Dazu dienen immer wieder Hinweise auf den Nebel, aus dem bizarr verkürzt manche Ereignisse auftauchen und aus dem oft nicht mehr heraus zu destillieren ist. „Und es ist natürlich subjektiv, denn jeder hat seine eigenen Erinnerungen.“

In der Geschichte vom Kennedyhaus muss der Erzähler nach Tradition der Stadt Innsbruck als Gymnasiast in die Marianische Kongregation MK eintreten. Dort wird er ungewöhnlich gemobbt, weil er ein Faible für das Bundesheer hat, bei dem der Vater ein hohes Tier ist.

In der Jugendarbeit tut sich der berühmte Pater Kripp hervor, bei dem nicht klar ist, schwimmt er auf einer neuen pädagogischen Welle oder löst er sie gar aus. Der Erzähler startet eine kleine Karriere als DJ und beäugt die Szenerie argwöhnisch, irgendwie hat er den Eindruck, dass er jesuitisch hineingelegt wird.

Als sich der Held schon längst vom sogenannten Kennedyhaus entfernt hat, kommt es noch zu einer öffentlichen Hinrichtung des Pater Kripp. Die etablierten Kreise der Provinzstadt sprechen Kripp das Misstrauen aus und bereiten dem freizügigen Spuk der Jugendarbeit ein Ende.

Sommergeschichten beginnen damals damit, dass man nicht weiß, was tun. Nach einer sogenannten Waffenübung beim Bundesheer bleibt dem Erzähler eine helle Sommerreise nach Griechenland mit viel Licht, Zukunft, Liebe und heiterer Umarmung. Im Hintergrund sind freilich die Machenschaften der Obristen zu spüren, die ständig putschbereit durch die Gegend ziehen. Militärisch hellwach blickt der Erzähler mit einem Auge auf die Obristen, während er mit dem anderen die Wonnen der Erotik genießt.

Im sogenannten Chandos-Fall kommt während der Germanistik-Vorlesung der berühmte Chandos-Brief zum Vortrag. Dabei löst sich die Sprache im Mund als Moder auf und die Kommunikation geht den Bach hinunter. Der Erzähler ist freilich irritiert, weil er mit Chandos eine gute Bar in London in Erinnerung hat, jenseits aller Kommunikationsstörungen.

Zu diesen drei Erzählungen, die einschneidende Ereignisse bei der Umformung eines Jugendlichen zu einem fitten Erwachsenen beleuchten, muss man noch die Patina der Erinnerung über die letzten vierzig Jahre hinzuzählen. Letztlich bleibt vom abgehangenen Leben nur der Nebel, durch den ein paar Erinnerungsstreifen zurückführen in die hellen Sechziger, unvorstellbar optimistisch. Eine aufrechte Form, sich mit dem Nebel der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen.

H. W. Valerian: Im Kennedyhaus. Erzählungen
Berlin: edition inkpen 2015. 123 Seiten. EUR 9,50. ISBN 978-3-7375-3442-0

 

Affidavit | Crossings

Für die Beschreibung der Zeitgeschichte suchen wir uns oft Helden aus, die mit Karacho etwas hinstellen und dann verschwinden. In der Literatur der 1960er und 1970er Jahre ist das vielleicht ein Rolf Dieter Brinkmann oder Norbert C. Kaser.

H. W. Valerian hingegen beschreibt diese Zeit als ein Stück unauffälliges Leben in der Provinz, das erst hintennach so etwas wie Ordnung und Logik ausstrahlt. Aber gerade diese ruhigen Erkenntnislinien, die sich über das zuckende Erlebnis-Gelände legen lassen, ergeben letztlich eine einmalige und dennoch typische Biographie über jemanden, der die sogenannten 68er vielleicht im Unterbewusstsein mitgeschleift hat, nicht aber als politisch-gesellschaftliche Aktion.

Der Ich-Erzähler siedelt seine Erinnerungen an dieser privat-öffentlichen Grenze an, wo für alles entsprechende Verwandte als Beweis vorhanden sind.

So ist das Wort Affidavit, das den Heranwachsenden fasziniert, ein höchst politischer Begriff, wenn jemand in den USA einen Affidavit ausstellt, damit jemand aus Naziland einreisen darf und vielleicht Asyl bekommt.

Im privaten Gebrauch hat der Ausdruck einfach einen schönen Klang und wird der Verwandtschaft zugeordnet, die dieses Wort wohl einmal selbst verwendet hat. Von hinten her besehen besteht die Verwandtschaft aus Nazis, Juden, Verfolgten und Mitläufern, aber in den 1960er Jahren wird darüber nicht viel geredet. Bei den Zeitgeistern freilich, die unbedingt eine jüdische Herkunft herleiten wollen, weil es zu gewissen Zeiten schick ist, dreht es dem Erzähler den Magen um.

Warum sind die Menschen einer Epoche politisch in eine gewisse Richtung zu liegen gekommen und andere nicht? Diese Frage beantwortet der Autor für sich mit seiner Anglophilie. Vielleicht angeregt durch Bob Dylan und Leonard Cohen, von denen der eine gerade verstorben ist und der andere den Nobelpreis gekriegt hat, ergibt sich plötzlich eine Affinität für die englische Sprache.

Im Kino-Bild sind die Spitfires den Messerschmitts tatsächlich überlegen, die Art, öffentlich eine Queue zu bilden, um auf den Bus zu warten, ist eine geradlinige Antwort auf das hippyhafte Herumliegen im Rasen.

Als dann noch diese wundersamen Penguin-Books den Autor erreichen, ist es um ihn geschehen, er liest alles, was englisch ist und studiert dieses Fach, um es dann in einer Technik-Schule in der Provinz mit Begeisterung dem ganzen Talkessel „einizupredigen“.

Manchmal genügen Wortketten wie ÖH, ÖKISTA und Interrail, um ein ganzes Jahrzehnt noch einmal aus der Erinnerung abzurufen. Die Crossings nach England werden häufiger und zu einem fixen Lebensziel, statt mit abgegammelten Expresszügen Marke Arlberg reist man jetzt mit dem Flieger, die Geschichte der Englandreisen wird auch zur Geschichte der Weltoffenheit Tirols, mit jedem Jahr gibt es bessere Flugzeuge und eine längere Piste in Kranebitten. Und hinter allem liegt dann Amerika, das der Autor schließlich so heftig entdeckt, als wäre er ausgewandert.

H. W. Valerian liefert eine bemerkenswerte und genaue Auseinandersetzung mit dem eigenen Erinnerungssinn, manchmal fährt er sich selbst ins Wort, um etwas zu korrigieren, was der Leser ohnehin nicht als Abweichung bemerkt hätte. Aber es ist gut, wenn man auch für die Erinnerung eine Queue macht.

H. W. Valerian: Affidavit. Bekenntnisse eines österreichischen Anglophilen. Band 1
Berlin: edition inkpen 2016. 243 Seiten. EUR 14,45. ISBN 978-3-7418-5025-7
H. W. Valerian: Crossings. Bekenntnisse eines österreichischen Anglophilen. Band 2
Berlin: edition inkpen 2016. 324 Seiten. EUR 17,45. ISBN 978-3-7418-5026-4

 

Das Album

Manche Geschichtsbücher tarnen sich als Kultgegenstände einer gewissen Epoche. Das Album etwa, ein multimediales Kunstwerk vor allem der 1960er und 1970er Jahre, verbindet Text, Musik, Graphik und Plastizität zu einem Sound, den die einen haptisch, die anderen eingeraucht, die dritten mit der Nadel am Plattenteller abrufen.

H. W. Valerian porträtiert diese Kulturtechnik für die Provinz, indem er den Weltsound der Bands und Liedermacher als Poet des Alltags neben Hausaufgaben und Music-Box zu skizzieren versucht. Das Album ist ein aus der Zeit gefallenes wundersames Stück Poesie, sauber aufgeteilt in A-Seite, B-Seite und Cover.

Der Autor hat damals als Fan der englischen Kultur und Lebensweise versucht, die Stimmung der edlen Songs ins Deutsche zu transponieren in der Hoffnung, mit dem Klang der englischen Städte auch etwas poetischen Raum in den alpinen Siedlungen aufzuweiten.

Im Cover beschreibt er diesen Vorgang, bei dem er sich mit den Hebstecken von Beatles, Dylan und Leonard Cohen in die deutsche Sprache geschwungen hat, ohne zu überlegen, ob man das später einmal singen soll oder nicht. So sind die Texte auch bis auf eine verschollene Ausnahme alle „ungesungen“ und kompositorisch ungeküsst ins Album gekommen.

Die fünfzehn Liedtexte wollen keine Lyrik sein, sondern im besten Sinne lyrics. Sie wirken ungewöhnlich, weil es für diese Textgattung aus den 1970er Jahren im Deutschen kaum Belege gibt. Dabei hat vermutlich jeder Zweite englische Liedtexte in seine persönliche Bilderwelt transkribiert. Ein guter Trick, diesen Texten einen poetischen Overdrive zu verpassen, besteht darin, dass man sich einfach einen englischen Text hinzudenkt.

In der auf Deutsch komponierten Bilderwelt gibt es Schritte am Gang, das Lied der Apfelblüten, den Freund vom vorigen Jahr oder einen Song über den nackten Burschen am Fernsehschirm. Es geht um Sehnsucht, Schlaflosigkeit, Freiheit, Träume.

Manche Fügungen wirken schriftlich vielleicht kantig und schroff, weil wir im Deutschen die Verse immer leicht zugespitzt verfassen, man müsste sich aber eine geschmeidige Stimme vorstellen oder gar eine Melodie, dann klingt es durchaus beeindruckend.

„In der Stille, die sich selbst schuf, / klafft ein fingerbreiter Spalt / und der Vogel, der nach Dir ruft, / fliegt nach Süden. / Es wird kalt.“ (37)

Das Album hat an diesen Stellen keine Mühe, die Formulierungen scharf und aktuell zu halten, ohne aus der Zeit zu fallen. Im Album sind heroische Gefühle wie Tagesnachrichten angerichtet.

„Die Heldinnen sterben stets am Theater. / Und du hast zumindest ein Grab.“ (15)

Diese jugendliche Kaltschnäuzigkeit lässt einen heute zwar nicht schaudern, aber immerhin grinsen. Für die im aktuellen Jahrhundert Geborenen sind die Texte wahrscheinlich fern wie Zeilen aus der Romantik, für die Zeitgenossen freilich sind die Gedichte ganz nah, große Gefühle sind heute noch so, wie sie H. W. Valerian damals aufgeschrieben hat.

H. W. Valerian: Das Album. Liedtexte
Berlin: edition inkpen 2018. 52 Seiten. EUR 6,99. ISBN 978-3-7450-7834-3

 

Mourir pour Dantzig

Soll ich heute überhaupt was erleben? – Diese Frage der Spätromantik gilt heute als schwer überholt, besteht der Sinn des Lebens doch darin, möglichst viel zu erleben. Im Alter freilich kommt immer öfter die Frage auf, was tue ich mit dem Erlebten?

Für H. W. Valerian stellt eine Busreise durch das gegenwärtige Polen so ein Erlebnis dar, das irgendwie unbeabsichtigt aufgetaucht ist wie so viele Aktivitäten, die jemand im Ruhestand vollbringt.

Nun ist diese Polenreise also einmal geschehen und für den belesenen und historisch interessierten Autor geht es darum, damit etwas anzufangen. In erster Linie heißt das für seine Generation: Aufschreiben. „Denn was nicht niedergeschrieben wurde, ist nicht geschehen.“ (7)

Eine Busreise ist vielleicht die Urform der Erzählung, egal ob man von der Planungs-, Absolvierungs- oder Reflexionsphase spricht. Auf einer Busreise werden mehrere Menschen gebündelt und einem kollektiven Erlebnisstrom ausgesetzt, anschließend werden die Individuen wieder in ihre Privatsphären entlassen, worin jeder seine persönliche Geschichte zu erzählen hat.

„Mourir pour Dantzig“ ist ein Kernzitat, das den jeweiligen Zustand Europas zeigt. Die Beschwörungsformel entstand anlässlich des Überfalls Hitlerdeutschlands auf Polen, und nicht wenige Europäer wehrten sich gegen bewaffnete Solidarität, denn wieso soll man beispielsweise als Franzose für Danzig sterben?
Eine ähnliche Situation könnte sich heutzutage auftun, wenn plötzlich die baltischen Staaten überfallen würden. Lohnte es sich, für Narwa oder Tallinn zu sterben? (13)

In dieser Gedankenlage erreicht die Gruppe Danzig, und der Autor schreibt den zweideutigen Satz „Dabei interessierte mich die Stadt brennend“. (9) An dieser kleinen Fügung lässt sich aufzeigen, was die Erzählung meint und wozu sie geschrieben ist.

In einer historischen Analyse müsste so eine flotte Fügung getilgt werden. Wörtlich genommen spielt sie darauf an, dass wir aus den Wochenschauen Danzig nur brennend kennen. Und gerade diese Ungenauigkeit darf in der Erzählung Platz greifen, denn es soll ja erzählt werden, wie sich ein Siebzigjähriger das Wissen erworben hat, was in seinem Unterbewusstsein kocht und wie er ab und zu den Deckel seines Gehirns lüften muss, um etwas Zusammengedachtes herauszulassen.

So sind über die Reiseroute Danzig, Solidarnosc-Werft, Mehlsack oder Warschau persönliche Leseerlebnisse, Zitate des Vaters oder Prospekte der Reiseindustrie gelegt. In der Gegend von Mehlsack (34) ist der Vater des Erzählers verwundet worden und übrig bleibt das pure Überleben, worin politische Überlegungen keinen Platz haben.

So sind auch die Ortsnamen oft in der deutschen Verwendung verortet wie bei einem germanisierten Navi. Diese Unkorrektheit ist aber erlaubt, weil die Erinnerungen mit den deutschen Namen spielen und die polnische Realität kaum etwas mit diesen evozierten Storys zu tun hat.

Letztlich sind es immer ein paar Bücher, die uns eine Meinung über ein Land bilden lassen. Die Generation des Autors ist jedenfalls stark geprägt von Gräfin Dönhoff, die in ihren masurischen Reminiszenzen sehr wohl die Entwicklung der deutsch-polnischen Geschichte im Auge hat.

Und überhaupt stellt sich bei der Begutachtung eines Landes die Frage, welchen offiziös gelenkten Standpunkt man einnimmt. Für Polen gibt es aktuell eine völlig andere Wahrnehmung in Brüssel oder Waschau als an der masurischen Seenplatte. An den Seen sind kaum Menschen, halb Polen ist ohne Tourismus, das Land ist halb so dicht besiedelt wie Deutschland. Das alles sieht man, wenn man aus dem Bus schaut.

Die Fakten und die richtige Aussprache der Ortsnamen lassen sich profund in Wikipedia nachschlagen, das Thema dieser Erzählung ist, welche Gedanken einem kommen, wenn man durch das gegoogelte Land fährt.

So macht dem Erzähler immer noch Kopfzerbrechen, dass er anlässlich des Auschwitz-Besuches zuerst an einen riesigen Wallfahrtsort erinnert wird, ehe er sich zu tiefgreifenden Gedanken zwingt. Und kaum der Gedenkhaltung entkommen fällt dem Helden schon wieder ein, dass er die jüdische Kultur über den jüdischen Witz kennengelernt hat. Die Tante Jolesch hat lebenslange Spuren gelegt, egal, ob man als Deutscher über den jüdischen Witz hat lachen dürfen oder nicht.

Je mehr man durch die Fläche eines Landes meditiert, umso ausgefranstere Gedanken kommen einem. Vielleicht ist Polen heute deshalb so leer, weil die echten Polen alle in England sitzen und das Land zu Hause einer ziemlich radikalen Partei mit dem lustigen Namen PIS überlassen haben.

H. W. Valerians Erzählung ist eine aufwühlende Geschichtsstunde, in der erzählt wird, was man sich alles durch lebenslanges Lesen über ein Land aneignen kann. Das Erzählen selbst wird schließlich zum Thema und bestätigt hintennach die These, wonach man es aufschreiben muss, wenn etwas geschehen soll. Der Autor wendet sich eindringlich an die Hinfälligkeit, die uns im Alter befällt, auch im Denken.

Deshalb ist in dieser Erzählung nichts zu einer Lehrmeinung ausgeformt, sondern die Gedanken bleiben im Metermaß des menschlichen Erlebens. So könnte alles gewesen sein, wenn ich mich heute erinnere! Morgen kann es vielleicht anders sein, wenn ich inzwischen etwas darüber gelesen habe. Eine sehr feine Diskussionsform in den harten Zeiten des Blogs!

H. W. Valerian: Mourir pour Dantzig. Erzählung
Berlin: edition inkpen 2019. 139 Seiten. EUR 10,99. ISBN 978-3-750244-43-6

 

Good To Be Back

In der Literatur feiern wir manchmal so etwas wie Sonnenschein ohne Sonne, dabei setzt sich jemand eine Sonnenbrille auf und sieht die Welt für einen Abschnitt lang einfach schön.

H.W. Valerians Sonnenbrille heißt England, er setzt sie schon ein Leben lang während der Sommerferien auf und fährt dorthin.

Entstanden ist dabei ein Lebensgefühl, das sich sogar erzählen und nachprüfen lässt. In seinen Bekenntnissen eines Anglophilen geht es um diesen aufregenden Erzählstandpunkt, mit dem man verlässlich glücklich werden kann, ohne deshalb gleich Drogen nehmen zu müssen. Good To Be Back ist eine Begrüßungsformel für einen Einheimischen in England, der zufällig das Jahr über in der Nähe von Innsbruck lebt.

An der Oberfläche gelesen besteht der dritte Band der Bekenntnisse aus drei biographischen Erzählungen, die jene Epoche des Autors beleuchten, die allgemein als the long middle passage bezeichnet wird.

Diese Zeit erscheint, wenn man sie durchlebt hat, kurz und lang zugleich, kurz, weil man immer busy gewesen ist, lang, weil man sich vielleicht auf einem falschen Pfad bewegt hat. Der Autor gibt nämlich unumwunden zu, dass er das Glück des Lebens nicht durch Unterrichten gefunden hat. Er hat seinen Lehrerjob irgendwie ordentlich gemacht, ist aber dabei zu keinem Heißläufer an schulischer Begeisterung geworden.

Ein weiterer biographischer Zug führt verlässlich während der Sommermonate nach England, wo er bei Verwandten im Dorf Inkpen lebt und Einheimischer auf Zeit wird. Diese exklusive Disposition führt zu den Vorzügen der Bekenntnisse, die schöne Eigentümlichkeiten aufweisen, wie sie in der Literatur sehr selten vorkommen.

Das Dorf Inkpen wird nicht touristisch vorgestellt, wie das in der österreichischen Gegenwartsliteratur bis hin zum Landkrimi leider immer häufiger vorkommt. Inkpen bleibt ein Rätsel, das aber allmählich entblättert wird, sodass der Leser ein verschwiegener Eingeweihter werden kann.

Aus alten Chroniken aus der Zeit vom Domesday Book geht hervor, dass es sich dabei um eine befestigte Ansiedlung handelt, die in eine Seelenlandschaft eingestreut ist. Das Dorf wird quasi quer durch die Jahrhunderte als etwas Beruhigendes beschrieben, eingegrenzt von Hügelketten und Vegetation, die in einem ikonographisch verwurzelten englischen Rasen münden.

Während dieser Schilderung, in der es um tiefenpsychologische Glückszonen geht, taucht die konkrete Gegenwart auf. Das Dorf ist deshalb idyllisch und unversehrt geblieben, weil es mittlerweile von reichen und erfolgreichen Zuzüglern aus London besiedelt wird. Und diese neuen Bewohner haben nichts anderes im Sinn, als ihre Erwartung von Glück zu pflegen. Die ursprünglichen Bewohner verdingen sich dabei als Handwerker und Zuträger, aber alle verkehren in einem wertschätzenden Ton, sodass sich jene Umgangsformen entwickeln können, die man in literarischen Vorlagen nur in Südengland spielen lassen kann.

Neben dieser Schilderung um einen anglophilen Standpunkt herum ist vor allem die Verquickung des Englischen mit dem Deutschen eine solitäre Eigenheit. Der Autor erzählt, dass er erst dann Frieden in seinem Kopf findet, wenn er ein aufgegriffenes Wort in beiden Sprachen unterbringt. An diesem Suchen nach den richtigen Fügungen soll auch der Leser teilnehmen, der dadurch automatisch Insiderwissen gewinnt.

Vor allem bei der Deutung der jüngeren Zeitgeschichte ist dieser Zugang zum offiziellen Narrativ bedeutsam. Selten einmal ist der Thatcherismus so klar von innen her beschrieben worden wie in der Erzählung Inkpen.

Eine unsterblich gültige Erzählung braucht auch ein fixes Ende, damit die erklärten Zeitabschnitte auf der historischen Skala eingetragen werden können. Inkpen geht in ein Fade-Out über, als die Verwandten sterben oder es aus Altersgründen aufgeben, wobei sie die Erinnerung als schönes Stück Harmonie mitnehmen.

In der zweiten biographischen Erzählung Ways With Words (167) geht es um ein Literaturfestival in Dartington Hall, das der Autor mehrere Jahre hindurch besucht. Auch hier gilt mit der Zeit die schöne Formel: Good To Be Back.

Es entstehen Freundschaften mit literarischen Disputanten, unbekannte Dichter stellen ihre Jahresproduktion vor, die Fiktionen werden mit historischen Vorbildern abgeglichen und anschließend dem steifen Wind der Außenwelt ausgesetzt.

Nicht alles, was im Sommer beim Festival für Aufruhr und Anerkennung sorgt, hat im Winter noch die Kraft, als vergängliche Zeilen in einem Buch zu überleben. Der Autor nimmt vor allem eine Weisheit mit aus diesen Sommern: „Kauf nie ein Buch, das soeben präsentiert wurde.“ (182) Damit reagiert er prophetisch auf den zunehmenden Gap zwischen Literatur und Literaturbetrieb.

Die dritte biographisch-literarische Exkursion By The Old Canal (232) führt entlang des historischen Kanals zwischen Bristol und London durch wellige Landschaft und aufgeschäumte Geschichte.

Esther, die Ursache und tapfere Begleiterin dieser anglophilen Wunderwelt, ist in ein altersgemäßes Quartier gezogen und hat Inkpen zurückgelassen. Auch die Stimmung des Autors ist mit übersiedelt, denn auch in neuer Umgebung ist das kulturelle Umfeld noch unversehrt zugänglich, wie es sich seit Jahrhunderten entwickelt hat.

Die Wanderungen entlang des Kanals lassen ständig die Geschichte der Industrialisierung des Landes aufblitzen. Dabei kommt diese bronzene Stimmung auf, wenn etwas schon verloschen ist, aber noch einen Restglanz abstrahlt wie ein aufgelassener Stern. Der mild gewordene Kapitalismus, wie er in Erzählungen des Realismus herüber gefiltert wird in die Gegenwart, lässt sich als Ur-Fratze hinter all dem Business erahnen, wie es von der Metropole aus bis in die letzte Landritze hinausströmt. Und dann stirbt Esther, und das Buch müsste eigentlich zu Ende sein.

So kann es nicht aufhören, sagt der Autor, und fügt noch ein paar Reiseerlebnisse an, wieder an einem Ort, an dem sich das Anglophile auskosten lässt. Aber die Zeit gibt keine Ruh und bringt alles zu einem Ende, was einst als helle Kindheit begonnen hat. Auch dieses Pärchen, das die letzten Jahre Quartier gegeben hat, geht ins Altersheim und verkauft das Anwesen.

Mit diesem unbarmherzigen Bild geht dieser schöne Echt-Roman zu Ende. Erst wenn alles verkauft ist, darfst du von dieser Welt gehen und sie als Erinnerung mitnehmen!

H. W. Valerian: Good To Be Back. Bekenntnisse eines österreichischen Anglophilen. Band 3. Berlin: edition inkpen 2020. 332 Seiten. EUR 17,45. ISBN 978-3-753104-70-6

Wenn Ihnen schoepfblog gefällt, bitten wir Sie, sich wöchentlich den schoepfblog-newsletter zukommen zu lassen, und Freundinnen und Freunde mit dem Hinweis auf einen Artikel Ihres Interesses zu animieren, es ebenso zu tun.


Weitere Möglichkeiten schoepfblog zu unterstützen finden Sie über diesen Link: schoepfblog unterstützen

H.W. Valerian

H.W. Valerian (Pseudonym), geboren um 1950, lebt und arbeitet in und um Innsbruck. Studium der Anglistik/Amerikanistik und Germanistik. 35 Jahre Einsatz an der Kreidefront. Freischaffender Schriftsteller und Journalist, unter anderem für "Die Gegenwart". Mehrere Bücher. H.W. Valerian ist im August 2022 verstorben.

Schreibe einen Kommentar