Gesamttext
Norbert Hölzl
Das Heilige Land Tirol war einst das unheiligste der Christenheit.
Meinhard II., den Gründer Tirols, nannten die Historiker gerne den „Schmied des Landes.“ Das ist nicht falsch, aber als Titel für einen grandiosen Politiker ist es ähnlich abwertend wie „Schwarze Mander“ für das größte Kunstwerk des Landes.
Meinhard ist Jahrgang 1237. Mit 22 Jahren heiratet er die Witwe des letzten Stauferkönigs Konrad IV. Die hochgestellte Dame ist zehn Jahre älter als er, schenkt ihm aber trotzdem fünf Kinder. Eines dieser Kinder, Elisabeth, heiratet im Jahre 1266 Albrecht, den sechsjährigen Sohn von Meinhards Freund König Rudolf. Man nennt diese Frau auch die Stammmutter der Habsburger. Halten wir also fest: Meinhard ist der einzige Fürst des Reichs, der durch Heirat mit beiden großen Kaisergeschlechtern der Epoche verwandt ist: mit den alten Hohenstaufer-Kaisern und mit den neuen Habsburgern.
Er steigt zum Reichshauptmann auf. Und zu erklären, wie es dazu kam, muss zurück geblendet werden, auch zu weniger schönen Ereignissen in der Biografie unseres Meinhard, der dem Gebiet vom Gardasee bis zum Achensee seinen Familien- bzw. Burgnamen gegeben hat und ein Land schuf, das in dieser Form bis 1918 bestand: ein Land mit drei Landessprachen: Deutsch, Italienisch und Ladinisch.
Seine politische Karriere begann der Meinhard als Gefangener. Vater Meinhard I. War bei Schlachtereien mit dem Fürstbischof von Salzburg unterlegen. Seine beiden Söhne nahm der Salzburger, um Ruhe zu garantieren, in Geiselhaft. Meinhard verbrachte sechs Jahre seines Lebens als Geisel in Gefangenschaft. Seinem Bruder Albert wurden weitere vier Jahre aufgebrummt.
An dieser Stelle gilt es nachzudenken. Stellen wir uns einen dynamischen Machtpolitiker vor, sagen wir, einen jungen Luis Durnwalder der damaligen Zeit. Und wir stellen uns vor, dass es einem brutalen und cleveren Bankdirektor gelingt, diesen Durnwalder sechs Jahre lang unschuldig einzusperren und aus dem Verkehr zu ziehen. Was würde wohl passieren, wenn der betreffende mit seiner sechsjährigen Wut im Bauch plötzlich wieder in Freiheit wäre? Es wäre nur eine Frage der Zeit, bis der korrupte Bankdirektor Bank und Posten verloren hätte. Genauso kam es mit Meinhard: Der erste Fürstbischof, damals unumschränkter Landes- und Kirchenfürst zugleich, der ihm in die Quere kamt, war sein Fürstentum auch schon los.
Das Land mit dem vagen Namen „im Gebirge“ bestand vor Meinhard aus den beiden geistlichen Fürstentümern Trient und Brixen. Wäre die Entwicklung weiterhin für die Fürstbischöfe siegreich verlaufen wie im benachbarten Salzburg bis 1803 – es gäbe den Namen Tirol nicht. Die Tiroler müssten Brixner und Trienter heißen, je nach ihren geistlichen Landesfürsten, so wie die Salzburger bis heute Salzburger heißen. Meinhard war ja nur ein Lehensmann der Bischöfe, bestenfalls die Nummer zwei in einem Land, das noch nicht Tirol hieß. Doch es soll anders kommen. Da rückt ein Eroberer aus der Lombardei gegen Trient vor. Der Fürstbischof flieht und wer steht tapfer da? Graf Meinhard mit seiner gefürchteten Panzerwaffe – aber für immer, er geht nicht wieder.
Wer jedoch wird so naiv sein und glauben, die Kirche ließe sich den neuen Oberbefehlshaber gefallen? Der Papst bringt seine Wunderwaffe in Stellung. Da Kanonen noch nicht erfunden waren, schleudert er dem Tiroler den Kirchenbann entgegen. Im Klartext: „Gib mir auf Erden mein Fürstentum zurück oder ich schicke dich bei Ableben ohne Zwischenstopp im Fegefeuer direkt in die Hölle!“ Natürlich wollte Meinhard beides nicht – weder in der Hölle braten, noch etwas zurückgeben. Also ersann er einen juristischen Trick. Er verkündete: „Ich bin der Reichshauptmann und damit die Nummer zwei hinter dem Kaiser. Ich kann nicht Diener zweier Herren sein. Also sind die Herren Fürstbischöfe, so betrachtet, bestenfalls die Nummer drei in Tirol.“ Auf diese Art erzwang Meinhard II. mehr als ein halbes Jahrtausend vor der Auflösung der geistlichen Fürstentümer 1802/1803 eine erste Trennung von Kirche und Staat.
Meinhard war, so wie alle seine Nachfolger, Tiroler Landesfürst, wobei bis 1918 diese Titel nie offiziell geführt wurde. Denn, streng protokollarisch, waren Tirols Fürsten bis ins 20. Jahrhundert lediglich Kirchenmänner von Brixen und Trient. Noch Kaiser Franz Joseph und Karl, der Letzte und Selige, durften sich nur Graf nennen, nicht Fürst von Tirol. Und dann kam noch ein juristischer Trick. Nach der siegreichen Schlacht gegen König Ottokar klopfte König Rudolf seinem Tiroler General Meinhard auf die Schulter und sagte etwa Folgendes. Ganz wörtlich kann ich es leider nicht wiedergeben, denn Rudolf beherrschte im Gegensatz zu späteren Kaisern noch nicht das wienerische Idiom. Inhaltlich muss es allerdings ungefähr so geklungen haben: „Hearst, mein Tiroler Freind, jetzt sitzt in der Patschen. Wegen dieser blöden weltlichen Entmachtung der beiden geistlichen Fürsten bist im Kirchenbann. Und einen Kirchengebannten darf ich nicht mit dem Herzogtum Kärnten belehnen. Helfen kann ich dir im Augenblick auch nicht, denn mein Draht zum obersten Signore in Rom ist ziemlich schlecht. Du weißt, ich war 1273 bei der Wahl zum deutschen König nicht der Kandidat des Papstes. Das Aufsetzen der Kaiserkrone verweigert mir seine Heiligkeit in Rom ebenso hartnäckig, wie er sie meinem Nachkommen Maximilian verweigern wird, obwohl wir beide fürchterlich gern auch ganz offiziell gesalbte Kaiser des Heiligen Römischen Reiches wären. Trotzdem: Den Kerl in Rom tricksen wir schon aus, ohne gegen alte Gesetze zu verstoßen. Zum Schein belehne ich mit Kärnten meine Söhne. Damit haben wir nichts vertan. Irgendwann braucht der Papst da unten auch etwas von mir, und wenn dann der Bann aufgehoben ist, wirst du feierlich belehnt.“ Und genau so ist es dann gekommen: streng nach Gesetz und dennoch trickreich im Sinne von Gauner zu Gaunerwurde Meinhard II. plötzlich auch Pfalzgraf von Kärnten.
Nun zur schon erwähnten Angst des Papstes vor der gepanzerten Truppe aus Tirol. In dem Meinhard die Kaiserwitwe heiratete, war er der Stiefvater des letzten Staufererben. Klein-Konrad – Corradino nannten ihn die Italiener – zog als 15-Jähriger 1267 nach Italien, um dort sein süditalienisches Erbe anzutreten. Konradin zählte auf die Gepanzerten aus Tirol, geübt durch die Auseinandersetzungen mit den Fürstbischöfen von Trient. Die Stadtmauern von Bozen zum Beispiel hatten sie für immer zertrümmert. Kaum hörte der Papst, in welch entsetzlicher Begleitung Klein-Konrad in Rom und Süditalien aufzutauchen gedachte, brachte er wie gewohnt sein schwerstes Geschütz in Stellung und richtete Meinhard aus: „Sobald du das Gebirge bei der Berner Klause“, das ist Verona, „verlässt und italischen Boden betrittst, bist du wieder im Kirchenbann.“ Die Aussicht, womöglich in einer Schlacht zu fallen und schnurstracks in der Hölle zu landen, ließ die Tiroler Gepanzerten daher umkehren. Der Papst und sein von ihm nach Italien beorderter französischer Verbündeter durften sich im Jahre 1268 daher riesig freuen über ein herrliches Spektakel in Neapel, bei dem sie den letzten Hohenstaufer, einen jungen Knaben noch, köpften.
Damals wurde auch Dante Alighieri geboren. Den kaisertreuen Dante wieder die brutale Hinrichtung so an, dass er Papst Clemens IV. in seine literarische Hölle verbannte. Und was kommt im Inferno Dantes noch als Unglaubliches vor? Der Name Tirol zum Beispiel – zum ersten Mal in einem Werk der Weltliteratur. Im 20. Gesang, Vers 61 und 62 schreibt der Dichter vom dem Land „Tiralli“, gleich oberhalb des Sees von Benaco, der alte Name für den Gardasee ganz im Süden des Reiches. Das beweist, wie rasch sich der damals neue Name Tirol in Europa verbreitet hat.
Nur den Bischöfen hat die Sache mit dem Land Tirol und die Trennung von weltlicher und kirchlicher Gewalt noch jahrhundertelang nicht geschmeckt. Als der gemütliche Landesfürst Ferdinand II., der Gemahl der Philippine Welser, den beiden Bischöfen sagte, jetzt ziemlich genau 300 Jahre nach der Gründung Tirols sei es wohl an der Zeit, von einem Land zu sprechen, zierten sich die beiden fürstlichen Kirchenmänner und hielten dagegen: „Wir sind eben konföderiert, aber den Fürstentitel behalten wir weiter, auch wenn du der Landesfürst bist.“
Jahrhundertelang hatte somit das Fürstentum Tirol drei Fürsten: Den weltlichen, den wirklichen Landesfürsten, zuerst in Meran und dann in Innsbruck, und dann, dem Rechtstitel nach, die wirklichen Fürsten, die Fürstbischöfe von Brixen und Trient, wobei der Trienter den Fürstentitel erst in einer eigenen, weinerlichen Zeremonie in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts ablegte. Aber er durfte sich trösten: Zur Zeit des Mussolini-Faschismus war aus dem schlichten Fürstbischof der Fürsterzbischof von Trient geworden. Tausend Jahre lang waren die Bischöfe von Trient und Brixen gleichberechtigt. Erst seit 1929 ist Trient das übergeordnete Erzbistum. Der italienische Nationalist Dr. Celestino Endrici musste belohnt werden. Er war ja zweimal so freundlich gewesen, das Siegesdenkmal mit der römischen Göttin in Bozen einzuweihen – zuerst 1926 und dann noch einmal 1928.
Das ist aber noch nicht der ganze Treppenwitz der Geschichte. Der sollte erst 2011 folgen. Ich sagte schon, alle Landesfürsten von Meinhard II. bis zu Karl dem Allerletzten 1918 waren nicht Fürsten, sondern rechtlich nur Grafen von Tirol. Sogar der König von Spanien hat heute unter seinen zahllosen Titeln auch jenen eines Grafen von Tirol. Durchaus zurecht, denn ob die Bourbonen mehr habsburgisches Blut haben oder die Habsburger mehr bourbonisches, lässt sich beim besten Willen und auch mit neusten Genanalysen nicht feststellen. Und bis heute ist der höchste Orden der österreichischen Monarchie auch der höchste Orden Spaniens – das Goldene Vlies. Es ist ein Erbe Burgunds, das Maximilian I. erheiratet hat. Und da wäre noch etwas zu ergänzen: Dass es eigentlich kein spanisches Hofzeremoniell gibt. Das war viel mehr eine pompöse burgundische Erfindung, übernommen von Spanien und Österreich, als sich die Herrscher immer mehr vom Volk isolierten. Richard Wagner hat das Gottesgnaden-Getue in den Meistersingern von Nürnberg treffend charakterisiert: „Kein Fürst bald mehr sein Volk versteht.“
Und einen letzten deutlichen Hauch von übertriebenem Zeremoniell erlebte Wien am 16. Juli 2011. Otto von Habsburg, er lebte 1912 bis 2011, spendierte die Republik ein Staatsbegräbnis wie zu Kaisers Zeiten. In der sogenannten Klopfzeremonie vor dem Tor der Kapuzinergruft wurden für den Einlass begehrenden Verstorbenen all die stolzen Titel ausgerufen, vom Kaiser und König bis zum Grafen, und am Schluss rief der Volldröhnende 2011 „Fürst von Tirol“. So wurde einzig und allein Otto, der nie regierte, in der langen Habsburger Reihe unserer Landesfürsten irrtümlich vom Grafen zum Fürsten befördert. Das war weiter nicht schlimm, denn in Bozen-Brixen sowie in Trient saßen keine Fürsten mehr, die beleidigt hätten protestieren können.
Der gescheiterte Versuch, zwischen Katholiken und Protestanten Frieden zu schließen.
Ich kenne kein Land in der Welt, das eine so eindrucksvolle Reihe von Herrschern besitzt, die für die Hölle bestimmt waren, wie Tirol. Sollte ich mich irren, lassen ich mich gerne korrigieren. Meinhard II., der erste Tiroler Regent, hatte gewissermaßen ein Abonnement auf den Kirchenbann. Davon blieb nur sein Sohn verschont. Der bedeutungslose Heinrich spielte auf der Zeno-Burg in Meran den König, da er eine Schwester des Böhmen König Wenzel geheiratet hatte. Seiner zwölfjährigen Tochter Margarete, die man später irrtümlich „die Maultasch“ nannte, drehte er den sechsjährigen Sohn des Königs von Böhmen an, damit auch noch etwas Königliches nach Tirol kam. Als sich Margarete mit einem passenden Prinzen aus Bayern verheiratete und Klein-Johann heim nach Prag zu Mama und Papa schickte, übersandte auch ihr der Papst den Kirchenbann und das Interdikt für ganz Tirol.
Unvorstellbare siebzehn Jahre waren in Tirol alle Sakramente und kirchlichen Handlungen verboten. Die Päpste – die damals nicht in Rom, sondern wie Gott in Frankreich in Avignon lebten – und ihre Verbündeten, vor allem der Kaiser, erwarteten eine Rebellion der Tiroler gegen das gebannte Fürstenpaar. Selbiges war aber sehr klug. Es gewann die Treue der Tiroler Landstände mit dem großen Tiroler Freiheitsbrief von 1342. Tirols Sonderweg der Geschichte zeichnet sich hier bereits ab.
Auch der nächste populäre Landesfürst landete wieder im Kirchenbann und in der Reichsacht. Herzog Friedl mit der leeren Tasche hätte jeder gute Christ guten Gewissens erschlagen dürfen, ohne bestraft zu werden. Er hatte beim Konstanzer Konzil auf das falsche Pferd gesetzt – sprich: auf den falschen Papst! Als Flüchtling kehrte er unerkannt nach Tirol zurück und setzte endlich auf das richtige Pferd: nämlich auf seine Bürger und Bauern, auf die Macht der Zukunft und des Geldes. So verwöhnte er seine Untertanen mit weiteren Freiheiten. Dass kostete nicht viel. Man könnte Friedl auch als Ruinenbaumeister titulieren. Er eroberte die Burgen seiner adeligen Gegner. Dem verzweifelten Oswald von Wolkenstein blieb nur das ein grimmiges Kriegslied übrig: „Nu Huss“
Auch Friedls Sohn Siegmund, mit dem wohlklingenden Beinamen „der Münzreiche“, entkam dem Kirchenbann nicht. Er zerkrachte sich mit dem Bischof von Brixen, Kardinal Cusanus: der Kardinal wollte – wie seine Vorgänger vor zweihundert Jahren – wieder auch auf dem weltlichen Thron Platz nehmen und den Landesfürst spielen. Der machtbesessene Kardinal verschanzte sich auf dem 1740 Meter hoch gelegenen Felsennest in Buchenstein. Als es dort zu ungemütlich wurde, floh er zu seinem Freund, Papst Pius II nach Rom, wo er Herzog Siegmund von Tirol ordentlich verpetzte. Zur Strafe folgte, erraten: der Kirchenbann! Als im Jahre 1464 Papst und Kardinal jedoch am 14. und 15. August fast gleichzeitig starben, war auch diese Sache erledigt.
Siegmunds Nachfolger in Tirol, der spätere Kaiser Maximilian I., hatte rasch wieder Ärger mit dem Papst, wünscht er sich doch eine schöne Kaiserkrönung in Rom. Der kriegerische Julius II. jedoch wünschte einen Maximilian nicht in Rom zu empfangen. Da dies auch die Mächtigen in Florenz und Venedig nicht wollten, kam Maximilian nur bis Trient und inszenierte dort 1508 die einzige Kaiserkrönung in der Geschichte Tirols. Gekrönt hat ihn übrigens sein Bischof Matthäus Lang. Kardinal war leider keiner verfügbar, denn das ganze große Heilige Römische Reich Deutscher Nation besaß damals noch keinen. Die Kardinalshüte und die damit verbundenen Einnahmen wurden an die teilweise noch nicht einmal volljährigen Neffen der Päpste verteilt, an Italiener und Spanier. Erst nach hartnäckigem Betteln und Bitten gab der Papst seinen Segen zu Krönung und Titel. Maximilian schuf bekanntlich für seine Nachkommen ein Weltreich.Und sein Nachfolger, Karl V., eine Weltmacht.
Maximilian musste sich übrigens im Jahre 1515 vom Mediceer-Papst Leo X. noch fürchterlich ärgern lassen. In seinen Privatgemächern, den Stanzen des Raffael, ließ der Papst nämlich fast lebensgroß die Kaiserkrönung von Maximilians Todfeind in einem großen Gemälde verewigen: von Franz I. von Frankreich. Doch Karl V., der Weltreichskaiser, leistete für diese Beleidigung eindrücklich Revanche. Er schlug dem nächsten frankreichfreundlichen Mediceer-Papst, Clemens VIII., in Rom neun Monate lang alles zusammen, bis das Zentrum der Christenheit ähnlich aussah wie Berlin 1945. Man nannte es „Sacco di Roma“ und sprach vom „teutonischen Furor“, obwohl die meisten der Landsknechte Italiener und Spanier waren. Natürlich waren aber auch ein paar Deutsche beim Zerstören und Plündern eifrig dabei.
Trotz solcher Unfreundlichkeiten wollte auch König Karl zum Kaiser gekrönt werden. Seine römischen Verwüstungen wollte Karl allerdings nicht besichtigen. Daher bestellte er am 24. Februar 1530 den Papst nebst Salböl zur Kaiserkrönung ins unversehrte Bologna. Dies war die letzte Kaiserkrönung durch einen Papst. Als nach der Abdankung Karls V. im Jahre 1556 dessen Bruder, König Ferdinand I., Ebenso Kaiser werden wollte, verweigerte ihm Paul IV. die Krönung mit der Begründung, Ferdinand sei auch mit den Stimmen der drei protestantischen Kurfürsten zum deutschen König gewählt worden. Der etwas realitätsfremde Papst hatte noch gar nicht realisiert, dass seine Mitwirkung ohnehin unerwünscht war. Eine Krönung in Rom hätte nur Ärger mit den protestantischen Fürsten eingebracht. Die protestantischen Stimmen waren für den Kaiser wesentlich wichtiger als eine hübsche Zeremonie in Rom. Seit damals wurde nach seiner Wahl zum Herrscher über das Heilige Römische Reich dem deutschen König jedenfalls gleich die Kaiserkrone ohne den vorher üblichen Ausflug nach Rom aufgesetzt. Der nächste Mediceer-Papst beeilte sich übrigens, den energischen Ferdinand als Kaiser anzuerkennen. Das war, sagen wir, ein Freundschaftsdienst, politisch mittlerweile völlig überflüssig
Unglaubliche 18 Jahre lang dauerte dann das Konzil von Trient: von 1545 bis 1563. „Da sieht man, wie sehr sich die Kirche um ihre Erneuerung bemühte“, erklärte uns der Religionslehrer im Gymnasium. Kein Wort davon ist wahr. Zwei Päpste waren überhaupt gegen das Konzil eingestellt. Und alle Päpste waren gegen Trient. Denn Trient lag ja in Tirol und damit im Deutschen Reich und nicht im Kirchenstaat. Erzwungen wurden das Konzil und der Tagungsort Trient von den Kaisern Karl V. und Ferdinand I. Im Jahre 1547 verlegte Papst Paul III. das Konzil ins päpstliche Bologna. Der Papstsohn Pier Luigi, eine gewalttätiger Typ vom Schlag eines Cesare Borgia, wurde sodann mit dem Einverständnis des Kaisers ermordet und eine Weiterführung in Trient erzwungen. Wirklich interessiert an dem Reformkonzil und am Tagungsort Trient war eigentlich nur der Kaiser.
Er hatte nämlich mit den allzu selbstständigen deutschen Fürsten schon genug Scherereien, da benötigte er nicht auch noch eine Teilung des Reiches in zwei verfeindete Religionen. Der Kaiser hoffte auf eine Versöhnung mit den Protestanten. Nach Trient, also auf deutschen Boden, würden die Protestanten vielleicht angereist kommen, niemals jedoch nach Bologna. Ja, Protestanten kamen sogar. Doch die Begegnung war ebenso kurz wie unversöhnlich. Die dogmatischen Sturschädel aus Rom waren wütend über die Ketzer und den riesigen Machtverlust im Norden Europas. Die protestantischen Fürsten wiederum, die sich am katholischen Klosterbesitz herrlich bereichert hatten, verspürten nicht die geringste Lust, ihre Beute zurückzugeben. Auch bei der Frage des Zölibats waren die Gegensätze unüberwindlich. Der Kaiser und die Mehrheit der Konzilsteilnehmer waren für die Abschaffung der Ehelosigkeit der katholischen Priester. Aber ausgerechnet der Urenkel des Macht- und Frauenliebhabers Alexander VI., des Borgia-Papstes, erwies sich als der fanatische Eiferer gegen die Priesterehe. Und er setzte sich durch. Dieser Borgia namens „Francisco“ wurde sogar heiliggesprochen, was seinem päpstlichen Urgroßvater garantiert nicht passieren konnte. Auf Kirchenfassaden in Spanien und Südamerika ist dieser gar seltsame Heilige noch immer zu sehen.
Vom Konzil in Trient stammt unser heutiges Glaubensbekenntnis, in das sogar Pontius Pilatus Eingang fand. Nach dem Konzil hieß es auch in Tirol für die katholische Seite die Ärmel hochzukrempeln und alle wieder katholisch zu machen. Die neuen Ideen Luthers hatten sich rasch im Transit- und Bergwerksland Tirol verbreitet. Schon seit 1520 zogen sogenannte evangelische Prädikanten durchs Land. Was Mussolini in Südtirol nicht glückte, was Franco in Katalonien nicht glückte, gelang der Kirche im Vinschgau. Die rätoromanische Sprache wurde ausgemerzt. Alle hatten Deutsch zu sprechen, damit sie die reformatorischen Schriften aus der rätoromanischen Schweiz nicht verstanden. Es gab damals sprachlich eine rätoromanische Brücke von der Schweiz über den Vinschgau und die Dolomitenladiner bis hinunter nach Friaul. Die Kirche hatte das perfektere Druckmittel als die Diktatoren im 20. Jahrhundert: Die Beichte! Und damit die Befreiung von den Sünden. Das gab es nur auf Deutsch. Und vor die Wahl gestellt, in der Hölle zu schmoren oder Deutsch zu lernen, erschien den das das Erlernen der deutschen Sprache als das kleinere Übel.
Und noch etwas kam der Kirche in Tirol entgegen. Es war maßlose Freude der gesamten Tiroler Bevölkerung am Theaterspiel. Schon in der Zeit Maximilians leistete sich die reiche Handelsstadt Bozen das größte Schauspiel des deutschen Mittelalters. Die „Tiroler Passion“ in der Stadtpfarrkirche dauerte sieben Tage. Und Tirol war damals hochmodern. Die Frauenrollen spielten Frauen. 100 Jahre später durften in England nur Männer auf die Bühne. Shakespeares Julia oder seine schöne Miranda waren Jünglinge. Hundert Jahre zuvor wurde die Jungfrau Maria in Bozen von einem Mädchen dargestellt und nicht von einem Knaben. Diese Fortschrittlichkeit vor 500 Jahren ist erstaunlich. Zweihundert Jahre lang verbreiteten Jesuiten und Dominikaner ihre Propagandastücke. Und immer wurde das Trennende betont: Christus stand im Zentrum des protestantischen Raums, Maria im Zentrum des katholischen. Gespielt wurde in den Städten ebenso wie in den kleinsten Dörfern.
Die eifrigsten Veranstalter waren dabei die hochlöblichen Erzbruderschaften des heiligen Rosenkranzes. Allein in den Aufzeichnungen der Rosenkranzbruderschaft in Kitzbühel fanden sich über 150 namentlich genannte Christusdarsteller. Da musste ja fast aus jedem zweiten Haus ein Christus gekommen sein. Mehr Christusse jedenfalls als heute Schirennläufer. Nachzulesen ist das in einem Beitrag im Stadtbuch Kitzbühel. Im Jahre gab ich im Verlag Böhlau unter dem Titel Alpenländische Barockdramen Kampf- und Tendenzstücke jener Zeit heraus. In all diesen Stücken rettet die Fürsprache Mariens vor den Höllenqualen, nicht Christus. Da die protestantischen Ketzer Christus in den Mittelpunkt stellten, erhielt in Tirol die Gottesmutter die zentrale Erlöserrolle. Die Titel der Stücke sprechen für sich: Die durch den heiligen Rosenkranz wiederbekehrte Welt oder Durch den heiligen Rosenkranz der Höll‘ entrissene oder Die durch die Crafft des hochheiligen Rosenkranzes untertruckhte Ketzerei und so weiter und so fort – immer alles gegen die Ketzer!
Theater war damals das Massenmedium schlechthin. Und auch das einzige Massenmedium, weshalb sein großer Folge nicht ausblieb. Es gibt keine wirkungsvollere Propaganda als jene, die die gesamte Bevölkerung mit einbezieht. Man probte wochenlang als verschworene Gemeinschaft die Bühnenauftritte und man hörte nicht nur die Texte, sondern lernte sie auswendig. Und was man sich selber ständig vorsprechen und den anderen möglichst überzeugend vortragen musste, an das glaubt man zwangsläufig mit der Zeit selbst, und sei es der übelste Unsinn. Da sich in Tirol nun der Kampf gegen die Ketzerei so hervorragend bewährt hatte, griff man die nächsten Außenseiter an, die so gar nicht in ein heiliges Land zu passen schienen: Die Juden mit ihrem Geld waren dabei das verlockendste Opfer. Denn musste man die Juden nicht noch mehr hassen als die Ketzer? Sie sprachen nicht tirolerisch. Und noch viel schlimmer: Sie schlachteten kleine Christenkinder.
Das schlimmste und verbrecherischste Beispiel war das sogenannte „offentliche Schauspiel, vorgestellet“ von einer ehrsamen Gemeinde in Rinn im Jahre 1766. Da wird der kleine Andreas von Rinn jüdischen Händlern verkauft und von selbigen – den Juden – wegen Christo grausam ermordet. Dazwischen fügte man Szenen mit Herodes ein, der ja laut Bibel gegen unschuldige Kinder gewütet hat. Die Handlung: Die Juden besitzen genügend Geld, um sich ein Christenkind als Opfer zu kaufen. Sie kommen gerade vom Markt der reichen Handelsstadt Bozen. Sie suchen sich einen Marterstein aus und bringen dort unter Zitat „lästerlichen Beschimpfungen den kleinen Knaben um“. Ganz im Stile des Königs Herodes. Und dann hängen sie das tote Kindlein noch in einen Baum. Das alles macht angeblich „die jüdische Synagog‘, um ihren Hass wider Christum in etwas zu erkühlen“. Und das heilige Land baut über dem Marterstein eine Kirche mit riesigen Darstellungen unglaublicher Blutrünstigkeit, in der hehren Absicht, dass, wörtlich, „dieser heilige Blutzeug dem ganzen Vaterland als ein Schutzherr vorgestellet wird“. Das Zitat ist fürchterlich, aber etwas ist noch fürchterlicher: Das Ganze geschieht nur 15 Jahre, bevor Kaiser Joseph II. sein Gesetz über die Toleranz gegenüber anderen Religionen erlässt. Mozart komponiert bereits seine der Aufklärung verpflichteten Opern.
Antisemitismus und religiöse Intoleranz
Als 1985 Bischof Stecher die grässliche Anti-Juden-Propaganda verdecken ließ und den verrückten Anderl- und Anti-Juden-Kult abschaffte, setzte es einen Sturm der Entrüstung vonseiten selbsternannter Vorkämpfer des Heiligen Landes Tirol. Von 1981 bis 1997, in den sechzehn Jahren seiner Zeit als Bischof, weigerte sich Reinhold Stecher, sonst der sprachgewaltige Liebling der Medien, im Radio in einer Live-Sendung aufzutreten. „Wenn ich das mache“, war Stecher überzeugt, „wird es keine Religionssendung, sondern eine abstoßende Diskussion über die verrückte antijüdische Ritualmordlegende.“
Als der weniger sprachgewandte Georg Eder 1989 Erzbischof von Salzburg wurde, konnte ich ihn überreden, sich in einer Live-Sendung den Tirolern vorzustellen, denn ein Teil Nordtirols gehört bekanntlich zur Diozöse Salzburg. Ich versprach ihm, den routiniertesten und beliebtesten Moderator auszusuchen, damit sicher nichts schiefging, denn Eders Ö3-Sendung war zu einem Fiasko geraten.
Gleich mit der ersten Wortmeldung wurde die gesamte Stundensendung im Tirol Journal ebenfalls zu einem Fiasko: „Wir freuen uns so, dass Sie der neue Erzbischof sind.“, begann die erste biedere Anruferin. Eder war entzückt. „Freut mich“, sagte er, „dass Sie das sagen. Freut mich sehr.“ Und die Dame „Sie, Herr Erzbischof, hätten uns das Anderle von Rinn sicher nicht weggenommen.“ „Ja“, sagte der Erzbischof, „da haben Sie ganz Recht. Bei solchen Entscheidungen muss man sehr vorsichtig und sehr sensibel sein.“ In der Folge entstand zwar keine sensible Sendung, vielmehr eine peinlich-schräge. Wochen später besuchte Eder seinen Amtsbruder Stecher und musste sich über die Judenhetze aufklären lassen. Seine Exzellenz soll sehr zerknirscht und durchaus einsichtig gewesen sein. Der Moderator Roland Staudinger verließ damals sichtlich erschöpft das Studio und sagte nur noch „Hier war nichts mehr zu retten.“
Vielleicht lässt sich im Heiligen Land Tirol doch noch etwas retten: In der 1899 eingeweihten Andreas-Hofer-Kapelle in Sankt Leonhard in Passeier eröffnet das Deckengemälde den Blick in den heiligen Himmel Tirols. Da schaut nicht nur die brave, heilige Notburga auf den Betrachter herab, sondern auch zwei nette, kleine, lachende Buben tun es: das Anderle von Rinn und sein Leidensgenosse Simon von Trient, ebenfalls Opfer eines angeblichen jüdischen Ritualmords.
Vielleicht könnte man die beiden Knaben, die nie existiert haben, überpinseln und eine wirkliche Heilige von Format darüber malen: Die Tochter einer Magd, geboren in einem der ärmsten der zweisprachigen Dörfer in Welschtirol, in Vigolo Vattaro. Paula Wisenteiner oder Wisenteiner (spricht EI getrennt aus), sie lebte von 1865 bis 1942, wanderte als Elfjährige 1876 nach Brasilien aus. Und sie bescherte dem größten katholischen Land der Welt, nämlich Brasilien, die erste Heiligsprechung seiner Geschichte im Jahre 2002. Sie hatte sich um kleine Buben und Mädchen gekümmert. Sie gründete 1890 einen Orden, der sich der verwahrlosten Straßenkinder in Brasilien annahm. So nett also die kleinen Buben in der Hofer-Kapelle auch sein mögen, eine wirkliche Heilige würde dem Heiligen Land Tirol mehr zur Ehre gereichen. Sechzig Jahre vor Hermann Gmeiner verwirklichte Wiesenteiner nämlich seine Idee bereits mit ihrer „Kongregation der kleinen Schwestern von der unbefleckten Empfängnis“.
Wer trotz der brillanten katholischen Propaganda im 17. und 18. Jahrhundert in Tirol nicht katholisch bleiben oder wieder werden wollte, hatte zu verschwinden. Besonders brutal waren die Vertreibungen aus dem Zillertal und dem Defereggental 1680, 1685, 1732 und zuletzt 1837. Beide Täler gehörten kirchlich zu Salzburg. In diesen scheinbar entlegensten Orten Tirols fanden ketzerische Ideen immer wieder Verbreitung. Schuld waren die Armut und die Wanderhändler. Da das karge Land die Bevölkerung nicht ernähren konnte, zogen viele als Wanderhändler nach Norddeutschland, kamen bis nach Russland und sogar bis nach Nordamerika. Sie kehrten nicht nur mit Geld zurück, sondern auch mit gefährlichem Gedankengut und Luther-Bibeln. Die Vertreibungen im 17. und im 18. Jahrhundert waren an sich legal, sie entsprachen den Reichsgesetzen seit 1555: Alle hatten die Religion des Landesherrn auszuüben. Dass die Kinder der Vertriebenen vielfach zurückbleiben mussten, war zwar sehr grausam, aber gut gemeint. Zumindest sie, Nachfahren der verdammten Ketzer, sollten vor der Hölle bewahrt bleiben.
Die Austreibung der Zillertaler 1837 hingegen, die Matthias Schmid so ergreifend gemalt hat, war nicht nur sitten-, sondern auch rechtswidrig. Denn 1781 hatte, wie bereits erwähnt, Kaiser Joseph II. das Toleranzpatent erlassen, ein Reichsgesetz, das andere Religionen tolerierte und de facto Religionsfreiheit garantierte. Die Vorkämpfer eines heiligen, rein katholischen Landes begingen also einen Rechtsbruch. Die Täter waren insbesondere der eifernde junge Salzburger Erzbischof im unheiligen Bund mit dem Tiroler Landtag. Um die Zillertaler überhaupt vertreiben zu können, mussten Bischof und Landtag sich einer Lüge bedienen: Die Zillertaler seien keine Protestanten, wurde argumentiert, sie seien A-katholische. Sie nannten sie Inklinanten und seien einem Irrglauben verfallen. Deshalb wurden sie vertrieben – 56 Jahre nach der kaiserlich garantierten Religionsfreiheit.
Aufgenommen hat sie das protestantische Schlesien, wo es in Erdmannsdorf die Tiroler Häuser von 1837 immer noch gibt. Heute ist das Land polnisch. Davon sind die Zillertaler kaum betroffen, denn den meisten gefiel es in Schlesien ohne Berge ohnehin nicht, sie übersiedelten daher mit den ersten Deutschen nach Chile. Hundertfünfzig Jahre nach der Ausweisung entschuldigten sich die Bischöfe von Innsbruck und Salzburg, Stecher und Berg, in einem ökumenischen Gottesdienst in Mayrhofen bei den evangelischen Glaubensbrüdern für das einstige Verbrechen. Felix Mitterer schrieb für die Zillertaler dazu ein eindrucksvolles Theaterstück.
Nicht unerwähnt bleiben darf auch die brillanteste Ohrfeige in der Tiroler Geschichte. Ein Gastwirt am Ausgang des Zillertals in Jenbach nannte seinen Gasthof „Zur Toleranz“ – ein noch deutlicherer Hinweis auf das Unrecht wäre nicht möglich gewesen. Das Hotel „Zur Toleranz“ war 30 Jahre geschlossen. Heute ist es wieder tolerant als Flüchtlingsunterkunft. Bei den Feiern 1987, bei denen ich für den ORF eine Fernsehdokumentation produzierte, fielen mir deutschsprachige Besucher aus Südamerika auf, die ich nicht recht einordnen konnte. Zehn Jahre später bereitete ich einen Film über Österreich und Chile vor und besuchte auch die Nachkommen der Zillertaler in Südchile am Llanquihue-See unter dem herrlichen, vergletscherten Vulkan „Osorno“. Dort gibt es im Hochsommer, das heißt im Februar, Mozart-Festspiele nach Salzburger Vorbild, aber auch Hotels mit Namen wie „Salzburg“ oder „Tirolerhäuschen“. Den 100. Jahrestag der illegalen Vertreibung feierte man 1937 nicht traurig, sondern fröhlich als großes Tirolerfest. Viele der Chilenen kennen mittlerweile das Zillertal – vor allem Finkenberg, aus dem die meisten Inklinanten vertrieben wurden. Sie sind glücklich in Chile zu leben. Viele von ihnen sind begüterte Großgrundbesitzer und finden Finkenberg nur steil, steil, steil!
Seinen absoluten Tiefpunkt erreichte der Landtag des Heiligen Landes sodann am 9. März 1876. Im Jahre 1875 hatte die Regierung in Wien die Gründung protestantischer Gemeinden erlaubt. Die Konservativen im Tiroler Landtag bildeten sich ein, die alten Sonderrechte Tirols stünden über den Reichsgesetzen und über der Regierung in Wien. Da hatte man den Adel aus Norddeutschland und den Niederlanden ins milde Klima Merans gelockt. Als dann aber am 28. Januar 1876 in Meran eine protestantische Gemeinde gegründet wurde und kurz darauf auch in Innsbruck, war im Landtag der Teufel los. Ein unbekannter Karikaturist hat den Tumult 1876 gezeichnet. Einer der Bischöfe benutzt seinen Bischofsstab als Waffe. Das passte durchaus zur kuriosen Situation. Da gab es den Landesfürsten – damals war es der Kaiser. Vom Rang her war er aber, wie schon erwähnt, nur Graf von Tirol, nicht der Fürst des Landes. Dafür thronten gleich drei wirkliche Fürsten im Landtag, ohne je gewählt worden zu sein: die Fürstbischöfe von Salzburg, von Brixen und Trient. Eigentlich wären drei Bischofsstäbe als Waffe zur Verfügung gestanden.
Nach dem Tumult in Innsbruck wurde sogar der milde Kaiser Franz Joseph fuchsteufelswild. In Tirol ließ er den Landtag wegen ungebührlichen Verhaltens ein Jahr lang sperren. Es gab keine Landtagssitzung mehr. Das zeigt zweierlei: Franz Joseph hatte seit seiner Krönung nicht den geringsten Respekt vor demokratischen Einrichtungen. Ihm lag der Absolutismus im Stil des 18. Jahrhunderts viel näher. Und dann wird immer wieder gesagt: dieser Franz Joseph mit seiner Pünktlichkeit und seiner Fantasielosigkeit hätte einen perfekten Bahnhofsvorstand abgegeben. In Innsbruck zeigte er jedoch: Er hätte auch das Zeug gehabt für einen tüchtigen und strengen Schulinspektor.
Noch einmal machten die Meraner sich wichtig: Der Dom der protestantischen Kirche dürfe keinesfalls höher sein als der Dom der ehrwürdigen katholischen Pfarrkirche. Wenn man sich das Gelände in Meran vergegenwärtigt, wird rasch klar: Es bestand nie die geringste Gefahr, dass der protestantische Turm den katholischen überragen könnte. Das war nun endgültig ein Streit um des Kaisers Bart – und dies alles ein Jahrhundert, nachdem der in Tirol bis in die Gegenwart schlecht beleumundete Joseph II. den Religionen gesetzlich Toleranz zugesichert und mit seiner fortschrittlichen Haltung den österreichischen Ländern die Gräuel der französischen Revolution erspart hatte. Deshalb sagt man ja auch, der französische Adel landete auf den Lanzen der französischen Revolutionäre, der deutsche und der österreichische Adel dagegen nur in den Werken von Goethe, Schiller und Mozart. Bei Mozart etwa ist der Adel immer leicht dümmlich, die Chöre aber singen herrlich von Freiheit und Toleranz.
Und wie stand es nun um die Heiligkeit Tirols im 20. Jahrhundert? Es war im fernen Jahre 1980: In der ersten Klasse der Volksschule in Mutters gab es nur einen einzigen protestantischen Schüler. Er sollte in der Religionsstunde kein Störenfried sein. Er sollte ein bisschen zeichnen und möglichst weghören. Der Pfarrer fragte nach den sechs wichtigsten B, wie Beten, Bereuen, Beichten. Die Schüler schafften die sechs B damals nicht. Da wurde es dem Protestanten, der offensichtlich zu wenig weggehört hatte, zu bunt und er sagte alle sechs B richtig auf. „Schämt euch!“, rief der Pfarrer in die Klasse, „sogar der Ketzer weiß es besser als ihr“.
Daheim beim Mittagessen fragte der Ketzer dann seine Ketzermutter, was ein Ketzer sei. „Ach, das ist nur ein anderes Wort für evangelisch“, sagte die Mutter. Dann kam das Jahr 1995. Der kleine Ketzer war inzwischen groß. Er war Student und vollausgebildeter Skilehrer. Er sollte die Grabrede halten für den verstorbenen Skischulleiter des Dorfes. „Kommt gar nicht in Frage!“, rief der Pfarrer. Es war der gleiche wie 1980, und der wusste alles über die Ketzer. Auf geweihter katholischer Erde kann doch nicht ein Ketzer die Grabrede halten. Und Sargträger wollte er auch noch sein! Niemals. Der Pfarrer vom Nachbardorf Natters versuchte in Mutters zu vermitteln. Als dann die trauernde Skilehrerfamilie drohte, für das Grab den heimatlichen Boden zu verlassen und nach Innsbruck zu ziehen, gab sich der Pfarrer dem Ketzer geschlagen.
Noch heiliger als das Heilige Land Tirol ist nur der Vatikan. Ihm ist es bis heute gelungen, den größten Kirchenmusiker der Christenheit nie erklingen zu lassen. Denn Bach war ja Protestant und damit ein Ketzer. Und womöglich würde sein überschwänglicher Weihnachtsjubel – jauchzet, frohlocket! – mit Pauken und Trompeten den Christbaum am Petersplatz zum Erbeben bringen. Der Christbaum in Rom ist übrigens eine Erfindung der Tirol Werbung. Tirol lieferte den allerersten. Altertümliche Chorknaben sind da sicherlich harmloser als der große Johann Sebastian mit seinen wilden Chören, die alle durcheinander singen. Papst Franziskus hätte gerne einmal Bach im Vatikan gehört, doch der heilige Klüngel drohte sofort – „auf keinen Fall im Rahmen einer heiligen Messe!“.
Vielleicht dient auch hier das Heilige Land dem Vatikan als Vorbild. In der Schuschnigg-Ära wollte der Innsbrucker Komponist und Dirigent Josef Eduard Ploner ein Instrumentalwerk von Bach aufführen. Er hatte zu wenig Holzbläser. Er bat daher die Militärmusikkapelle, ihm doch zwei Musiker zu leihen. Die Musiker hätten gerne mitgeblasen, aber es wurde ihnen verboten, denn Bach war Protestant, also ein Ketzer. (Mehr darüber steht in meinem Buch „1000 Jahre Tirol“ ab Seite 243).
PS: Noch heiliger als Tirol und der Vatikan war übrigens am 8. 12.2020 das „Gebetsfrühstück“ mit Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka im Parlament in Wien. Die vernichtendste Kritik kam dabei vom katholischen ÖVP-Mann und Ex-Flüchtlingskoordinator Christian Konrad: „Pharisäertum, unglaublich“, TT 11.12.2020.