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Elias Schneitter
Schilaufen
Eine Erinnerung

Wenn jemand gefragt wird, woher er kommt, und der Befragte mit „Ich komme aus Tirol“ antwortet, wird er in acht von zehn Fällen als nächstes zu hören bekommen: „Dann fährst du gewiss von Kindesbeinen an Schi?“ Und in den allermeisten Fällen wird diese Frage auch bejaht werden.

Wenn es also, wie man es so oft hört, ein Merkmal des Tirolers ist, dass er ein hervorragender Schifahrer ist, dann gehöre ich nicht zu den Tirolern, obwohl ich hier geboren wurde und immer hier gelebt habe. Was den Schilauf betrifft, bin ich eine Ausnahme. Genauer gesagt: Ich habe meine Plastiklatten ein für allemal in die Ecke gestellt und ich kann jedem versichern, dass ich für den Rest meines Daseins meine Füße nie wieder in diese schraubstockartigen Plastikungeheuer stecken werde.

Warum das so ist? Dafür gibt es Gründe.

Obwohl ich also in Tirol geboren wurde, war mein Interesse für das Schifahren schon als Kind nicht besonders ausgeprägt. Zudem gab es dort, wo ich aufgewachsen bin, keine gute Gelegenheit den Sport auszuüben. Auch hatten wir damals kaum den Zugang zu richtigen Schigebieten.

Dazu kam, dass ich mir bei einem Schülerschirennen als Zwölfjähriger einen komplizierten Unterschenkeldrehbuch zuzog, sodass ich vorerst meine Schikarriere beenden musste. Ich lag nicht weniger als vier Wochen mit einem Liegegips zuhause im Bett, was alles andere als erbaulich war. Darum beschloss ich damals schon, auf das zweifelhafte Vergnügen des Schilaufes zu verzichten. Vorderhand.

Mit dreißig lernte ich meine spätere Ehefrau kennen und, was den Schilauf betraf, ist sie eine echte Tirolerin. Sie schien wirklich auch mit den Bretteln zur Welt gekommen zu sein. Als Jugendliche bestritt sie zahlreiche Schirennen, bei denen sie meist auf dem Siegerpodest landete, sodass sie sogar eine Zeitlang in einem der glorreichen Tiroler Rennkader aufgenommen wurde und als Nachwuchshoffnung galt.

Die ersten beiden Jahre unseres Zusammenseins gelang es mir noch, allen ihren Überredungskünsten zu widerstehen. „Nein, ein Paar Schi schnalle ich mir nicht mehr an“, beharrte ich. Ich brachte meinen komplizierten Knochenbruch aufs Tapet. Einen weiteren wollte ich mir ersparen.

Der Damm all meiner Einwendungen hielt genau zwei Jahre, dann brach er in sich zusammen. Es kam zu einem erzwungenen Versuch. Alle ihre Geschwister waren ebenfalls richtige Tiroler, sprich wahre Schikanonen, ebenso ihre Eltern, Verwandten, die gesamte Familie, drei Generationen zurück. Ich wäre die einzige Ausnahme gewesen, sofern ich den Schritt in diese familiäre Umgebung wagen würde. Dass jemand in Tirol nicht Schifahren kann, war allen so fremd und so unverständlich wie die Entstehung des Universums.

Zuerst wollte mir meine künftige Frau eine Schiausrüstung schenken, doch mit größten Anstrengungen gelang es mir, dies zu verhindern. Aber sie ließ nicht locker. „Wie stellst du dir das vor, wenn wir einmal Kinder haben? Da muss man als Vater Schi fahren können. Das geht gar nicht anders. Was wäre das für ein Tiroler, der seinen Kindern nicht das Schifahren beibringen kann?“

Meine Zukünftige zog wahrlich alle Register, um mir ein schlechtes Gewissen einzureden. Schließlich willigte ich zu einer Testfahrt ein. Von einem ihrer Brüder hatte sie Schischuhe ausgeborgt und einen Anorak und die Schihose, Handschuhe, die Schibrille, eben alles, was man so benötigt.

„Am Samstag fahren wir auf die Duxer Alm am Gerlospass“, lautete der Befehl. „Du brauchst nur hinter mir her zu fahren, es wird einzigartig werden, zumal das Wetter himmlisch sein wird.“

Bevor wir starteten, gab es für mich eine kleine Hoffnung, dieser unumgänglichen Tortur noch einmal zu entkommen. Die Schischuhe waren nämlich zu klein. Nur mit größter Anstrengung gelang es mir, in die Plastikschraubstöcke hineinzukommen, wobei mir die Füße derart schmerzten, dass ich hätte schreien können. Am Rist, die Ferse, alles schmerzte wie bei einer Entzündung. Aber die Künftige zeigte kein Verständnis.

„Mit etwas gutem Willen passt einem jeder Schuh“, war ihr ultimativer Kommentar.
Gutmütig und blöd wie ich leider seit meiner Geburt bin, stieg ich ins Auto. Als Jugendlicher war ich das letzte Mal auf einem Sessellift gesessen. Das war vor knapp zwanzig Jahren. Im Hinblick auf das Schivergnügen selbst beruhigte ich mich dergestalt, dass ich im äußersten Notfall ja wieder mit dem Lift zurück ins Tal gelangen könnte.

Dieser Gedanke spendete Trost und Hoffnung. Aber schauen wir mal, hätte hier Franz Beckenbauer gesagt. Jedenfalls bestand die Möglichkeit, so war meine Gedankenkette, dass ich in der Schihütte, die gleich hinter der Liftstation lag, einige Gläser Glühwein zu mir nehmen konnte und damit beschwingt und wedelgeil mit dem Lift ins Tal schweben würde. So weit, so gut. SIE müsste meinen guten Willen anerkennen und ICH würde unter die Schifahrer- Amnestie fallen. Dafür hätte sie sicher Verständnis, war ich der Meinung.

Jedenfalls passten die Schischuhe wirklich nicht, aber auch dafür fand ich eine Notlösung. Damit ich mir die Schmerzen fürs erste ersparen konnte, ließ ich die Schnallen offen und drückte meine Fußsohlen auch nicht ganz durch. Ich stand mehr oder weniger auf Zehenspitzen in den Schraubstöcken. Gewiss nicht unbedingt der alltägliche Gebrauch der Marterwerkzeuge aus Plastik. So bestieg ich in den Einzelsessellift, ein altes Modell aus den Sechzigerjahren und ab ging’s hinauf auf die Dux. Bis dorthin würde ich es schon schaffen, war meine Hoffnung.

Dann konnte man immer noch sehen, wie es weitergeht. Als ich mich der Ausstiegsstelle näherte, war mir doch etwas mulmig zumute. Wie komme ich auf Zehenspitzen in den Böcken stehend aus dem Sessel heraus? Ich öffnete nervös den Sicherheitsbügel, rutschte nach vor, versuchte die Schier unter Kontrolle zu bringen, versuchte sie in die Schneerillen zu setzen, verhedderte mich aber mit dem Anorak am Sessel, geriet mit den Schiern aus der Spur, hörte gerade noch meine künftige Frau, „Gib acht“ rufen, als es mich schon aus den Schischuhen hob. „Achtung, Achtung“, rief der Liftwart vor Schreck: „Hasch di verletzt?“

Er glaubte im ersten Moment, dass es sich bei mir um einen Beinamputierten handelte, den es aus seinen Prothesen gerissen hatte. In Panik bediente er den Notschalter und brachte den Lift zum Stehen. Ich stand jedenfalls in meinen Wollsocken im Schnee, neben mir die Schier mit den Schischuhen. Ringsum gab’s erstaunte und verwunderte Blicke, als ich die Schi samt Schuhen schnappte und mich in Strumpfsocken davon machte. Meiner Zukünftigen war die Situation so peinlich, dass sie verschwand. Das war sehr klug von ihr, denn ich war in einem derartigen geistigen Zustand, dass ich ihr am liebsten die Bretter nachgeworfen hätte.

Als erstes verdrückte ich mich einmal hinter das Lifthaus, wo ich unbeobachtet war und überlegte, wie es mit mir und meinen Schiern weitergehen sollte. Mit dem Lift konnte ich nach dieser Einlage nicht ins Tal zurück. Den armen Liftwart wollte ich nicht noch einmal aus der Fassung bringen. In die benachbarte Schihütte wollte ich auch nicht, denn dort war mein Desaster sicher schon Gesprächsthema, wie ich annahm. So blieb mir nichts anderes übrig als die Abfahrt in Angriff zu nehmen. Ich tat dies – und ich schwöre dies vor allen Heiligen und Märtyrern der katholischen Kirche – mit offenen Schischuhschnallen.

Die Schischuhe waren schlicht drei Nummern zu klein! In diesem Zustand und mit dieser Ausrüstung als Schifahrunkundiger ging´s also los. Ich stürzte mich im wahrsten Sinne des Wortes ins Tal. Ich vollbrachte wahrhaft eine schneetechnische Schifahrhöchstleistung, die nur jemand nachvollziehen kann, der die Kitzbühler Streif als Rennfahrer bewältigt hat. Meine künftige Frau blieb weiterhin verschollen. Am Ende meiner Kräfte kam ich in der Talstation an. Dort war auch ein kleines Gasthaus. Nach gut einer Stunde waren meine Knie dann nicht mehr zittrig. Nach einer weiteren gesellte sich meine Zukünftige schweigend, aber doch schmunzelnd an meinen Tisch. Wir redeten eine Zeitlang nichts. Überhaupt redeten wir den ganzen restlichen Tag nichts. Zumindest war ein für allemal klar, dass meine Schikarriere hiermit endgültig beendet war.

Wenige Wochen später – ich hatte mein Schierlebnis so weit verdrängt, dass ich nur noch selten an die hochpeinliche Situation zurückdachte – stand ich am Bahnhof in Rattenberg. Es war nach Dienstschluss und ich war auf dem Weg nach Hause. Ich wartete mit einigen anderen auf die Einfahrt des Zuges. Neben mir unterhielten sich zwei Männer, die ich persönlich nicht kannte, gerade über einen seltsamen Schiunfall.

Einer erzählte dem anderen, dass es vor kurzem auf der Dux einen Schifahrer aus den Schischuhen gerissen hätte, als er vom Sessellift aussteigen wollte. Es handelte sich anscheinend um einen Beinamputierten. Beide amüsierten sich köstlich über den Vorfall. Näheres konnte er darüber nicht berichten, weil er es auch nur erzählt bekommen habe.

Jedenfalls muss es sich da wohl um so einen Flachland-Teutonen gehandelt haben, ansonsten wäre so etwas nicht möglich. Ich meinerseits zog es vor, mich woanders hin zu stellen und auf den Zug zu warten.

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Elias Schneitter

Elias Schneitter, geb. 1953, lebt in Wien und Tirol. Zahlreiche Publikationen. Zuletzt der Erzählband „Fußball ist auch bei Regen schön“ (Edition BAES), der Roman „Ein gutes Pferd zieht noch einmal“ (Kyrene Verlag) und der Gedichtband „Wie geht’s“ in der Stadtlichter Presse, Hamburg. Daneben Tätigkeit als Kleinverleger der edition baes (www.edition-baes.com), wo ein Schwerpunkt auf die Veröffentlichung von Literatur aus der US-amerikanischen Subkultur gelegt wird. Schneitter ist Mitbegründer und Kurator beim internationalen Tiroler Literaturfestival „sprachsalz“ (www.sprachsalz.com) in Hall.

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Günther Aigner

    Ha ha! Was für eine köstliche Geschichte. Ski heil! 😀

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