Elias Schneitter
Ein gutes Pferd zieht noch einmal.
Fortsetzungsroman
Folge 21
Die Reise nach Frankreich

Zwei Menschen auf der Suche nach etwas Glück. Eine Geschichte, getragen von Elias Schneitters – bei aller kritischen Distanz – warmherziger Empathie für die sogenannten einfachen Leute, denen auch noch unter den schwierigsten Umständen die Möglichkeit eines zuletzt guten Lebens erhalten bleibt.

Hintergrund der Erzählung ist die Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs nach dem Krieg. Die Ehe der beiden Hauptpersonen steht unter keinem guten Stern. Trotzdem stellen sie sich den Fährnissen des Schicksals, getrieben von der Sehnsucht nach einem halbwegs menschenwürdigen Dasein, nach etwas Wohlstand, vor allem aber nach ein wenig Freundschaft und Liebe.


21. Kapitel

Nach dem Krieg wurde mein Heimatdorf zuerst von amerikanischen und in der Folge bis zum Staatsvertrag von französischen Soldaten besetzt. 

Auch bei uns gab es eine Kommandantur mit dem entsprechenden Personal. Unser Dorf zählte damals etwas mehr als dreitausend Einwohner. Im Krieg wurden 123 Menschen getötet, und in der Zeit nach dem Zusammenbruch kamen erst langsam einheimische Soldaten zurück, viele befanden sich in Gefangenschaft. 

In dieser Zeit soll es auch passiert sein, dass es zwischen einigen einheimischen Frauen und den Besatzungssoldaten zu näheren Kontakten kam. Das wiederum war einigen ein großer Dorn im Auge und führte zu einer seltsamen Aktion, bei der Flugzettel in Umlauf kamen, in denen die Geschichten – sogar mit Namen – veröffentlicht wurden. Das sorgte in der Dorfgemeinschaft und natürlich auch bei der Besatzung wiederum für helle Aufregung. 

Akribisch wurde nach den Urhebern der vermeintlichen Ungeheuerlichkeit geforscht. Sogar die Schreibmaschine, die sich im Besitz meines Großvaters befand, wurde beschlagnahmt, aber sehr bald wieder zurückgebracht. Es wurde der Schriftzug überprüft und mit dem Schriftzug auf dem Flugblatt verglichen. Auf der Schreibmaschine meines Großvaters wurde der Text nicht geschrieben. 

Viele Einheimische wurden zu Verhören geladen und da soll es nicht gerade zimperlich zugegangen sein. Gebrochene Rippen, geplatzte Lippen und blaue Augen waren einige jener Folgen, die Verdächtige aus dem Dorf zu tragen hatten. Auch mein Vater wurde einvernommen und stundenlang verhört, ohne dass sich aber irgendein Hinweis oder ein Verdacht auf eine Mittäterschaft herauskristallisiert hätte. 

Im Jahr 1955 verließen die französischen Soldaten dann unser Land. Viele Jahre später, Mitte der Sechzigerjahre, besuchte der ehemalige französische Kommandant während eines Urlaubsaufenthaltes seine alte Wirkungsstätte, also unser Heimatdorf. Zusammen mit anderen Bekannten aus Frankreich waren sie in einem Zirler Gasthof, wo früher die Kommandantur eingerichtet war, abgestiegen und an einem Sonntagnachmittag trafen sie dort zufällig auf meine Eltern und Freunde, die hier nach einer Bergtour eingekehrt waren. 

Sehr bald kam man ins Gespräch. Die Franzosen stammten aus Lothringen, ganz nahe an der Grenze zu Deutschland, zum Saarland. Bei der französischen Gruppe war auch ein junges Ehepaar dabei, das sich auf seiner Hochzeitsreise befand. Mit ihnen freundeten sich meine Eltern an und es entwickelte sich ein enger freundschaftlicher Kontakt. 

Henry und Ginette kamen in den folgenden Jahren zuerst mit ihrem ältesten Sohn und später auch mit ihrem Zweitgeborenen jedes Jahr im Sommer zu uns. Sie wohnten bei uns im Haus am Weingarten. Henry liebte die Berge, die Wälder, ganz Tirol. Frankreich stand er eher kritisch gegenüber, weil die französische Mentalität, wie er dachte, alles verfallen und verludern lasse. 

Deutschland und die Deutschen verachtete er geradezu, was sicher mit den Erfahrungen, die sein Vater und er mit den deutschen Kartoffelfressern gemacht hatten, in Zusammenhang stand. Ginette arbeitete als Sekretärin in einer Citroën-Werkstätte und darum hatten sie auch immer die neuesten Modelle dieser Marke, eine Zeitlang auch den wunderbaren DS 19. 

Kamen sie zu uns, blieben sie immer drei Wochen und verbrachten herrliche, genussreiche Zeiten. Sie hatten alle möglichen Delikatessen bei sich, französischen Käse, Würste und vor allem hervorragende Weine. Waren Ginette und Henry bei uns, dann war unser Haus eine kulinarische Stätte, wo sich ob der vielen Köstlichkeiten die Tische bogen, und wenn die Freunde aus Frankreich wieder zurückfuhren, dann hatten wir alle gewichtsmäßig zugelegt, denn was das Niveau von Essen und Trinken anlangte, konnten wir natürlich mit den Freunden aus Frankreich nicht mithalten. 

Henry und Ginette und später auch die beiden Söhne Robert und Raphael unternahmen täglich Wanderungen in die Berge und sehr bald kannten sie sich in der Tiroler Gebirgswelt besser aus als wir. Henry war ein großer Romantiker und er schwärmte von den Bergen und den Wäldern gerade so, als ob sie in Tirol im Paradies lebten. 

Das hing sicher auch damit zusammen, dass Henry als Elektriker in einer Kohlengrube in Forbach arbeitete. Die Arbeit, tief in der Erde, war für ihn unerträglich. Eigentlich hatte er als junger Mensch den Wunsch gehabt, Förster zu werden, aber das war nicht möglich gewesen. 

So lernte er den Beruf des Elektrikers und landete in der Grube, weil es in diesem Landstrich keine andere Möglichkeit gab. Nach seiner Lehre wurde er zum Militärdienst eingezogen, kämpfte zwei Jahre lang im Algerienkrieg in Afrika, und als er nach dieser Zeit in sein kleines Heimatdorf Guenviller zurückkam, war er wegen seines inzwischen dunkelhäutigen Aussehens eine markante Erscheinung, in die sich das junge Mädchen Ginette auf der Stelle verliebte.

Wenn die beiden und vor allem Henry in Tirol waren, dann war er glücklich, und wenn der Urlaub zu Ende war und sie wieder zurück in die Heimat, in die Grube, mussten, dann verfiel Henry in eine finstere Stimmung und Ginette erzählte, dass Henry die ganze Fahrt zurück und auch die ersten Tage daheim kaum ein Wort rede, so sehr belaste ihn die tägliche Arbeit in dem tiefen, finsteren Loch unter Tag.

Mit den Jahren entwickelte sich zwischen unserer Heimatgemeinde und jener im lothringischen Guenviller ein richtiger Tourismusaustausch. Durch Henrys romantische Erzählungen von der Schönheit Tirols – der einzige kleine negative Punkt waren die neunmalklugen Kartoffelfresser aus dem Norden – kam es, dass jedes Jahr immer mehr Verwandte und Bekannte von Henry und Ginette in Tirol Urlaub machten. Hinzu kam, dass Henry und Ginette uns jedes Jahr zu sich nach Hause einluden. 

Ich war einige Male dort und kehrte immer mit einigen Kilos mehr auf der Waage zurück. Mein Vater hegte kein großes Interesse am Reisen und das Wort Urlaub verband er eher mit untätiger Langeweile. So versuchte er sich vor der riesigen Gastfreundschaft unserer französischen Freunde immer zu drücken. Meistens musste der Hüttenbau auf Thomasegg als Ausrede herhalten. Er nutzte seinen Urlaub für Arbeit. 

Aber jedes Jahr rangen Henry und Ginette meinem Vater das Versprechen ab, dass er im kommenden Jahr nach Frankreich kommen werde, und jedes Jahr schwor der Vater, im nächsten Jahr komme er mit und dann leben wir wie Gott in Frankreich

Einige Jahre konnte er so die Reise nach Frankreich abwehren, aber irgendeinmal musste er sich dafür entscheiden. Keine Ausreden wurden mehr akzeptiert. Damit er in Guenviller nicht allein war, durfte ich mitkommen, und wir sollten dort zwei Wochen zubringen. 

Guenviller ist ein ganz kleines Dorf und, wie mein Vater gleich feststellte, es gab dort nicht einmal ein Gasthaus. Nur sonntags nach dem Gottesdienst wurde im Vereinshaus ausgeschenkt. 

Henry und Ginette taten natürlich alles, damit wir es so angenehm wie nur möglich hatten, und sie hatten für die Wochenenden  große Ausflüge am Plan. Während der Woche mussten sie in die Arbeit und so waren wir auf uns gestellt. Am ersten Tag stand mein Vater wie üblich um halb sechs Uhr in der Früh auf und drehte eine Runde um und durch das Dorf. Als er zurückkam und mit mir das vorbereitete Frühstück einnahm, meinte er trocken: Verdammt in alle Ewigkeit …

Nach dem Frühstück drehte er erneut eine Runde, und da machte er eine sehr erfreuliche Entdeckung. Er kam zu einer Baustelle, auf der ein Mann arbeitete, der sich nachher als der Briefträger des Ortes herausstellen sollte. Der Briefträger sprach aber kein Deutsch und so war es für meinen Vater etwas schwierig, mit ihm ins Gespräch zu kommen. 

Aber diese Hürde überbrückte Vater dadurch, dass er bei der Arbeit einfach Hand anlegte. Zufälligerweise war gerade eine Stiege einzuschalen und er war ja daheim weitum der beste Schaler, und darum war er nicht mehr zu halten, auch wenn sich die beiden sprachlich nicht gut verständigen konnten. 

Jedenfalls staunte der Briefträger nicht schlecht und wusste nicht, wie ihm geschah, als mein Vater Hand anlegte. Für ihn war das weiter kein Problem, zudem bot der verdutzte Briefträger ihm etwas zu trinken an, womit alles Wichtige gesagt war.

Ich hatte mich schon gewundert, wo mein Vater blieb, und wir alle staunten nicht schlecht, als am Nachmittag der Briefträger mit ihm zu Henry und Ginette kam und die Sache aufklärte. Vater war richtig erleichtert und eilte auch am nächsten Tag wieder zur Baustelle und rasch sprach sich sein Verhalten in ganz Guenviller herum, und als wir am Sonntag nach der Messe im Vereinshaus einkehrten, stand er im Mittelpunkt des Frühschoppens und wir wurden zu unzähligen Getränken eingeladen.

Der Auftritt meines Vaters sorgte in Guenviller jedenfalls für großes Aufsehen und als Jahre später der Bruder von Henry beim Hausbau war und es große Probleme mit dem Zimmermann, der den Dachstuhl machen sollte, gab, sprangen mein Vater, Willi und Jonny ein, reisten nach Guenviller und errichteten den Dachstuhl. 

Noch heute erinnert ein zwölfteiliges elsässisches Porzellangeschirr bei uns zu Hause an den Dachstuhl in Guenviller.



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Elias Schneitter

Elias Schneitter, geb. 1953, lebt in Wien und Tirol. Zahlreiche Publikationen. Zuletzt der Erzählband „Fußball ist auch bei Regen schön“ (Edition BAES), der Roman „Ein gutes Pferd zieht noch einmal“ (Kyrene Verlag) und der Gedichtband „Wie geht’s“ in der Stadtlichter Presse, Hamburg. Daneben Tätigkeit als Kleinverleger der edition baes (www.edition-baes.com), wo ein Schwerpunkt auf die Veröffentlichung von Literatur aus der US-amerikanischen Subkultur gelegt wird. Schneitter ist Mitbegründer und Kurator beim internationalen Tiroler Literaturfestival „sprachsalz“ (www.sprachsalz.com) in Hall.

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