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Elias Schneitter
Ein gutes Pferd zieht noch einmal.
Fortsetzungsroman
Folge 13
Glücklich bei der Großmutter

Zwei Menschen auf der Suche nach etwas Glück. Eine Geschichte, getragen von Elias Schneitters – bei aller kritischen Distanz – warmherziger Empathie für die sogenannten einfachen Leute, denen auch noch unter den schwierigsten Umständen die Möglichkeit eines zuletzt guten Lebens erhalten bleibt.

Hintergrund der Erzählung ist die Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs nach dem Krieg. Die Ehe der beiden Hauptpersonen steht unter keinem guten Stern. Trotzdem stellen sie sich den Fährnissen des Schicksals, getrieben von der Sehnsucht nach einem halbwegs menschenwürdigen Dasein, nach etwas Wohlstand, vor allem aber nach ein wenig Freundschaft und Liebe.


13. Kapitel

Bei meiner Großmutter hatte ich eine glückliche und in gewisser Hinsicht auch behütete Kindheit. Ich kam ja, bald nachdem wir unser Haus verlassen mussten, zu ihr und verbrachte den Großteil meiner Kindheit dort. Bei meiner Schwester lief es etwas anders. Untertags stand sie unter der Obhut der anderen Großmutter und nachts schlief sie in der Regel bei den Eltern. 

Was unsere Großmütter anlangte, hätten zwei Menschen nicht unterschiedlicher sein können. Während ich meine Tage, abgesehen von der Schule, gestalten konnte, wie ich wollte, stand meine Schwester streng unter Aufsicht. Diese Großmutter hatte ja zwölf Kinder großgezogen und bei ihr herrschten Ordnung und strengste Arbeitsdisziplin. Jemand, der nicht arbeitet, kommt nur auf dumme Gedanken, lautete ein unerschütterlicher Grundsatz. Bei dieser Großmutter kam man nie auf dumme Gedanken. Dafür sorgte sie schon. 

Einige Male war ich notgedrungen für kurze Zeit auch bei ihr, aber da versuchte ich stets so rasch wie möglich ihrer Obsorge zu entkommen. Kaum wurde sie meiner ansichtig, hatte sie schon eine Aufgabe für mich parat: im Obstgarten, bei der Kartoffelernte, bei der Heuarbeit, im Stall! Alles Dinge, die mir zutiefst widerstrebten und die mich nur an eines denken ließen: an Flucht. 

Nicht umsonst verpassten ihr ihre erwachsenen Söhne den Spitznamen Feldwebel und ihr Befehlston wurde auch oft mit jenem des Dritten Reiches verglichen: Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt, hieß es, wenn von ihren Instruktionen  gesprochen wurde. Darum tat ich stets alles, um ihr aus dem Weg zu gehen. Das gelang mir auch meistens.

Bei meiner Großmutter, bei der ich in Obhut war, lief das Leben völlig anders ab. Hier hatte ich meine große Freiheit. Die einzigen Aufgaben, die ich zu erfüllen hatte, waren der Einkauf von Lebensmitteln und manchmal musste ich abends zum Friedhof laufen, um am Grab meines Großvaters eine Kerze anzuzünden. Ansonsten hatte ich freie Hand.

Bei ihr zu Hause wohnten noch ihre Söhne Albert und Stefan, die in ihren Zwanzigern waren und ihr Leben dementsprechend gestalteten. Sie waren für mich mehr wie zwei große Brüder und weniger wie zwei Onkel oder gar Erziehungsberechtigte. Höchstens, dass sie mir regelmäßig auftrugen, ihnen in der Trafik oder nächtens, wenn der Laden geschlossen war, im Gasthaus Schwarzer Adler Zigaretten zu holen. 

Auch verstanden sie es ausgezeichnet, mich dafür entsprechend zu motivieren. Sie gaben vor, mich mit ihren Armbanduhren zu stoppen, wie lange ich für den Einkauf brauchte, und jedes Mal, wenn ich außer Atem mit der Packung Dreier einlief, blickten sie auf das Zifferblatt und attestierten mir eine neuerliche Bestzeit.

Meine Freunde im Äuele – so wird die Gegend bezeichnet – beneideten mich wegen meiner großen Freiheiten. Bei ihnen lief die Erziehung zumeist in anderen Bahnen ab, bei den meisten herrschte Strenge und teilweise auch Zucht. Sie mussten pünktlich zum Essen erscheinen, sie mussten danach ihre Hausaufgaben erledigen, sie mussten vom Sportplatz pünktlich nach Hause kommen, sie erhielten laufend Anweisungen, die zu befolgen waren, weil es sonst etwas setzte. 

Bei Nichtbefolgung setzte es Hausarrest, oder sie wurden zur Strafe über Stunden in den Keller gesperrt, oder sie bezogen überhaupt Prügel. All diese Maßnahmen blieben mir bei Oma erspart und es gab nicht einmal Androhungen in diese Richtungen. So gesehen verlebte ich bei Oma eine wirklich glückliche Zeit, wenn ich die Hauptschule einmal ausblende.

Bei meinen Freunden erlebte ich einige Male brutale Szenen. Einmal spielten wir im Garten eines Freundes und weil wir Durst hatten, eilten wir in die Küche zum Wasserhahn, um zu trinken, und einer von uns beiden vergaß, den Hahn abzudrehen, bevor wir wieder ins Freie stürmten. Das Wasserbecken lief über, weil es zu dieser Zeit noch über keinen Überlauf verfügte. 

Wir spielten unterm Kirschbaum, als der Vater des Freundes nach der Arbeit nach Hause kam und die Küche unter Wasser stand, worauf sein Vater völlig durchdrehte und seinen Sohn mit einem nassen Fetzen windelweich schlug, sodass er vor Angst und Schmerzen aufjaulte wie eine Katze, die man zu Tode prügelt.

Oder mein Freund Franz aus der Nachbarschaft, den seine Mutter (Franz war ein uneheliches Kind) regelmäßig verprügelte, stets in Verbindung mit Flüchen und Verwünschungen und der Drohung, dass sie ihn in ein Heim für Schwererziehbare stecken werde, wenn er nicht pariere. Franz bezog regelmäßig Schläge, weil er Bettnässer war und auch immer wieder die Hose voll hatte, und da konnte es schon passieren, dass seine Mutter so ausrastete, dass sie ihm die Hosen herunterriss und ihn zur Reinigung kopfüber in die Wassertonne steckte. 

Heute ist Franz die meiste Zeit auf der geschlossenen Abteilung der Nervenklinik in Hall, weil er unter heftigen Psychosen leidet. Unlängst habe ich ihn im Narrenturm, wie er seine Unterkunft nannte, besucht, und er zeigte mir einige Gedichte, die er für seine Geliebte, die er dort kennengelernt hatte, verfasst hatte. Er nannte sie mein Glühwürmchen und er las mir auch einige seiner Verse vor, die teilweise sehr berührend waren und teilweise aber auch wirr und unverständlich. 

Besuche mich wieder einmal im Narrenturm, sagte er zum Abschied, und bringe mir einige Packungen Marlboro mit. Jetzt kann ich ihn aber nicht mehr besuchen und ihm auch keine Marlboro mehr bringen, weil er vor wenigen Tagen gestorben ist. Er war einige Tage in Freiheit, stahl ein Auto, fuhr in die Berge, wo er in eine Almhütte einbrach, sie verwüstete, dann von der Polizei festgenommen wurde, um dann in der Psychiatrie zu versterben.

Auch gab es einen hohen Grad an Verwahrlosung, wenn ich an die armen Kinder in einem Nachbarhaus denke. Sie wurden die Engländer-Kinder genannt. Sie lebten zusammengepfercht mit ihren Eltern auf einem Dachboden. Der Vater war ein polnischer Trunkenbold, den die Mutter in England kennengelernt hatte. Bei diesen Kindern hieß es in der Straße, dass sie sich von den Schlägen ernähren könnten, so oft und so häufig waren sie der elterlichen Gewalt ausgesetzt, und andauernd kam jemand von der Jugendwohlfahrt vorbei und immer wieder wurden Kinder vorübergehend in Heimen untergebracht, um bald darauf wieder zu den Eltern zurückzukehren.

Jedenfalls blieb ich von jeglichen unliebsamen Erziehungsmethoden verschont, nie war ich körperlicher Gewalt ausgesetzt oder wurde mir diese angedroht, das gab es bei Großmutter nicht und bei meinen Eltern auch nicht. 

Während meiner Schulzeit gehörte ich zu den Kleinsten. In den Turnstunden mussten wir immer der Größe nach Aufstellung nehmen und nur der Neurauter Johann und der Wild Hansjörg waren kleiner als ich. Vor kurzem ist mir zufällig ein altes Klassenfoto aus der zweiten Volksschulklasse in die Hände gefallen. Ich knie in der ersten Reihe vorne und schaue direkt in die Kamera. Und als ich dieses Bild sah, zuckte ich im ersten Moment richtig zusammen. Ich hatte meine Brille abgenommen, die vor mir am Boden lag, und erschrak heftig wegen meiner schielenden Augen und eines Gesichtsausdrucks, der an ein mongoloides Kind erinnerte.

Im Äuele hatte ich meine Freunde und vor allem war dort der Fußballplatz. Das Haus am Weingarten befindet sich am anderen Ende des Dorfes. Das war für mich ein guter Sicherheitsabstand, denn manchmal wollte mein Vater, dass ich nach Hause käme, weil er mich als Handlanger bei seiner Arbeit wünschte. Diese Aussichten waren für mich nicht besonders verlockend, mit meinem Vater den Nachmittag auf irgendeiner Baustelle oder in der Werkstatt im Keller zu verbringen, sodass ich es vorzog, nach Möglichkeit bei meiner Oma zu bleiben. 

Sie kümmerte sich wenig darum, wo und mit wem ich meine Nachmittage verbrachte, ich musste nur, wenn die Nacht hereinbrach, nach Hause kommen. Die erste Zeit bei Oma schlief ich noch in ihrem Zimmer im Doppelbett, erst später wechselte ich in die Stube mit dem gemauerten Bauernofen. Der Raum war nicht besonders groß, aber abends spielte es sich hier häufig ab.

Meine beiden Onkel hatten im ersten Stock ihre Zimmer, aber die Stube war der Treffpunkt, wo sich häufig auch die Freunde der beiden trafen. Meist zogen meine Onkel abends los ins Kino oder in die Gaststätten des Dorfes, sofern sie Geld hatten und wieder einmal einen Schuss, also eine Vorauszahlung von den jeweiligen Chefs erhalten hatten. Hatten sie keines, dann verbrachten sie die Abende rauchend und mit dem Lesen von Jerry-Cotton-Krimis oder Western-Romanen, die stapelweise auf dem Ofen lagen, zu Hause in der Stube. 

Sie waren richtige Nachtmenschen, sodass sie am nächsten Morgen kaum aus ihren Betten zu bringen waren. Großmutter versuchte die beiden zu wecken und da ihr der Weg in den ersten Stock zu beschwerlich war, nahm sie den Küchenbesen und klopfte an die Decke der Stube und der Küche, damit die beiden endlich den Tag in Angriff nahmen. An der Decke waren deswegen schon richtige Dellen, wo der Verputz fehlte, was die zumeist erfolglosen Versuche von Großmutters Weckdienst sehr gut dokumentierte.

Obwohl in Omas Haushalt alles andere als Wohlstand herrschte, gehörten wir zu den Ersten in der Straße, wo das Fernsehen Einzug hielt. Das brachte auch ein neues Lebensgefühl in unsere Stube. Die Abende verbrachten meine Großmutter und ich immer vor der Flimmerkiste (damals gab es ja nur sehr eingeschränkt Programm). 

Um halb acht war Zeit im Bild mit dem Wetterbericht. Die Nachrichten boten meiner Großmutter die Möglichkeit, ihren Unmut und ihren tiefsitzenden Frust abzulassen. Am meisten verachtete sie Politiker, vor allem jene der schwarzen Reichshälfte, die in der Ersten Republik auf die roten Arbeiter schießen ließen. Politiker waren für sie grundsätzlich Lügner, die es mit den Menschen nur schlecht meinten und nur auf ihren eigenen Sack schauten. Bei den Schwarzen war sie unerbittlich, bei den Roten war ihr Urteil ein wenig milder.

Einmal wurde unser als trinkfest bekannter Tiroler Landeshauptmann bei der Eröffnung eines Gebäudes gezeigt, wie er Bauarbeitern eine Kiste Bier spendierte. Das ließ meine Großmutter völlig die Fassung verlieren. Dieser Trunkenbold, wetterte sie, bringt den Arbeitern auch noch was zum Saufen.

Der Alkohol war für sie ein Teufel, der für viel Unglück in den Familien verantwortlich war. Fast alle Männer in der Straße hatten damit große Probleme. Am oberen Ende unserer Straße, wo der Innweg in die Hauptstraße mündet, ist der Schwarze Adler, damals ein Arbeiterwirtshaus, wo unmäßig gesoffen und viel gestritten wurde und das Hauptthema der Krieg war. 

Die einfachen Männer, die dort verkehrten, waren fast alle im Krieg in Russland, in Norwegen, in Griechenland oder wo auch immer gewesen. Ihrer Jugend beraubt, kamen sie aus dem totalen Wahnsinn zurück und mussten schauen, wie sie sich mit diesen Erfahrungen, mit ihren ramponierten Seelen einigermaßen zurechtfanden, und meist war Alkohol ein vermeintliches Heilmittel. Dass der Alkohol das genaue Gegenteil bewirkte, bekamen häufig die Ehefrauen zu Hause zu spüren.

Auch bei uns spielte der Alkohol eine große Rolle, vor allem bei Onkel Albert. Er war zwar nicht im Krieg gewesen, weil er noch zu jung war, aber er hatte große Alkoholprobleme. Er war ein kluger, begabter Handwerker, ein unruhiger Geist, der ihn in die Gasthäuser zu treiben schien. Nie war er lange bei einer Firma angestellt, weil er es nirgends lange aushielt, und kaum hatte er etwas Geld in der Tasche, dann zog es ihn in die einschlägigen Wirtshäuser. Dort war er gern gesehen, weil er stets für Unterhaltung sorgte, auch wenn er häufig seine Zeche aufschreiben lassen musste, wobei er diese immer beglich, auch wenn es oft einige Zeit in Anspruch nahm. Aber das wurde akzeptiert. 

Einmal habe ich in späteren Jahren selbst miterlebt, wie mein Onkel in seinem Stammgasthaus von der Kellnerin Geld lieh. Sie fragte ihn gar nicht, wie viel er wollte, sondern warf ihm die Geldtasche über den Tisch zu, worauf er sich zweihundert Schilling herausnahm und trocken meinte: Schließlich muss ich auch einmal in ein anderes Wirtshaus gehen. Hier wird es auf die Dauer langweilig.


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Elias Schneitter

Elias Schneitter, geb. 1953, lebt in Wien und Tirol. Zahlreiche Publikationen. Zuletzt der Erzählband „Fußball ist auch bei Regen schön“ (Edition BAES), der Roman „Ein gutes Pferd zieht noch einmal“ (Kyrene Verlag) und der Gedichtband „Wie geht’s“ in der Stadtlichter Presse, Hamburg. Daneben Tätigkeit als Kleinverleger der edition baes (www.edition-baes.com), wo ein Schwerpunkt auf die Veröffentlichung von Literatur aus der US-amerikanischen Subkultur gelegt wird. Schneitter ist Mitbegründer und Kurator beim internationalen Tiroler Literaturfestival „sprachsalz“ (www.sprachsalz.com) in Hall.

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