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Corona und die Blasmusik

Die Betrachtung einiger Hotspots, von denen der Covid-19-Virus seinen Ausgang nahm, erklärt schon einiges. So besuchte ein Chor aus dem oberösterreichischen Bezirk Perg ein Chorwochenende in der Gemeinde Losenstein im Ennstal. Von den ca. 40 Mitgliedern des Vereins infizierten sich mehr als die Hälfte und trugen somit dazu bei, dass Oberösterreich über Monate im Hinblick auf die Zahl der Infizierten an der Spitze in Österreich lag.

Weitab von den idyllischen Orten dieses Geschehens beteten, fasteten und umarmten sich vom 17. bis zum 24. Februar zweitausend Gläubige einer evangelikalen Sekte in Mulhouse im französischen Elsass. Danach verbreitete sich das Coronavirus wie ein Lauffeuer, wobei aufgrund der großen Anzahl die aus Frankreich, Deutschland und der Schweiz stammenden Teilnehmer nicht mehr kontaktiert werden konnten und die Krankheit sich somit unkontrolliert weiter verbreitete.

Nicht zu vergessen ist in diesem Zusammenhang auch der inzwischen zu trauriger Berühmtheit gelangte Wintersportort Ischgl im Tiroler Paznauntal, dessen orgiastische Aprés-Skipartys sich auch aufgrund einer kapitalen epidemiologischen Fehleinschätzung der zuständigen Behörden als Brutstätten für Hunderte aus ganz Europa angereiste Wintersportgäste erwiesen.

Alle drei Ereignisse sind durch das Zusammenkommen und den engen Kontakt von Menschen gekennzeichnet, die durch Singen und lautes Reden hochinfektiöse Partikel ausstießen, die, wie Untersuchungen inzwischen ergeben haben, in einem Abstand von etwa einem Meter zu Boden sinken oder als Aerosole lange in den Räumen schweben. Nicht zuletzt diese Beobachtungen führten denn auch weltweit zu der Aufforderung an die Bürgerinnen und Bürger der verschiedenen Länder, Abstand zu halten und einen Mund-Nasenschutz zu benützen.

Ein kleiner Trost kann es in diesem Zusammenhang wohl sein, dass eine von den Wiener Philharmonikern in Auftrag gegebene Untersuchung ergab, dass der Ausstoß von infektiöser Atemluft insbesondere beim Musizieren mit Blasinstrumenten in keiner Weise so dramatisch ausfällt, wie es auf einen ersten Anschein hin befürchtet wurde. Nur Querflötenspieler, die den Ton ihres Instruments lediglich durch einen Teil des ausgestoßenen Luftstroms erzeugen, verteilen das gefährliche Nass bis zu 80 cm im Raum. Alle anderen Blasinstrumente liegen darunter. Dem muss jedoch hinzugefügt werden, dass die Infektiosität der auch in diesem Fall lange Zeit freischwebenden Aerosole noch nicht geklärt wurde und somit ein Risiko darstellen könnte.

Die Regierungen mit ihren wissenschaftlichen Beraterstäben gehen also wohl nicht fehl in der Annahme, wenn sie das gemeinsame Musizieren in einem geschlossenen Raum selbst nach Öffnung der Grenzen, Geschäfte und Restaurants noch immer als ein fragwürdiges Unternehmen einstufen. Mit allen dramatischen Folgen für Musikerinnen und Musiker und die mit ihnen verbundene, bis ins Mark getroffene Kulturwirtschaft sind daher Opern- und Konzertaufführungen bzw. Orchesterproben bei einem behördlich verordneten Mindestabstand von 1 Meter zwischen den Musikern, aber auch zwischen den Damen und Herren des Publikums künstlerisch utopisch und ökonomisch desaströs. Und nur Träumer gehen davon aus, dass diese Situation, sofern nicht eine Impfung oder wirksame Medikamente bis dahin zur Verfügung stehen, sich in absehbarer Zeit ändern wird.

Für die Blas- und Bläsermusik und das vielfältige und wunderbare Vereinsleben von Hunderttausenden Musikbegeisterten ist ein solcher Befund dramatisch und niederschmetternd. Besagt er doch, dass die übliche Probenarbeit, Orchesterkonzerte, aber auch Aufmärsche noch lange nicht erlaubt sein werden und auch dann, wenn sie auf Druck der Öffentlichkeit hin endlich gestattet sein sollten, in einer Atmosphäre der gesundheitlichen Bedrohung vor allem im Hinblick auf ältere Musikerinnen und Musiker stattfinden würden. Als aktives Mitglied eines Musikvereins in meinem Heimatland Tirol würde ich es jedenfalls, obgleich ich mich in Sachen Covid-19 nicht unbedingt als Hysteriker bezeichnen möchte, durchaus ablehnen, an einer Tutti-Probe teilzunehmen. Und ich würde auch keinem Vereinsobmann oder Kapellmeister die Verantwortung zumuten, eine solche Probe einzuberufen.

In gleicher Weise jedoch, in der die zweimonatige Quarantäne, die uns in Österreich und Deutschland verordnet wurde, nicht nur mir persönlich, sondern vielen Freundinnen und Freunden, die ich befragte, neue Ausblicke und Chancen eröffnete oder uns alle zumindest dazu nötigte, über die bisherige hysterische Hektik unserer Zivilisation nachzudenken, könnte durchaus die Zwangspause der Musikvereine kreativ genützt werden. Und zwar, um zumindest drei, fast bei jedem Verein über die Jahre hinweg mitgeschleppte Missstände zu verbessern, wenn nicht zu beseitigen.

Die Hektik des jährlichen Musikbetriebes macht es schier unmöglich, in Sachen Intonation und Technik die Musiker zu animieren, durch bestimmte Übungseinheiten – als Holzbläser möchte ich hier nur an die Etüden von Fritz Kröpsch erinnern – die Technik auf neuesten Stand zu bringen bzw. zu verbessern. Und es fehlt auch normalerweise die Zeit, sowohl durch die Analyse der Hardware, etwa des Instruments oder des Mundstücks, als auch durch die Analyse der Intonationstechnik jenen Klang herbeizuführen, der von den Musikern selbst bzw. vom Dirigenten gewünscht wird. Kurz und gut: Die Zwangspause könnte dazu genützt werden, durch Einzelunterricht den Status eines jeden Musikers zu analysieren, seine Motivationsbereitschaft zu diagnostizieren und die Qualität seines Spiels zu verbessern.

Unterrichtsmaterial bei dieser kollektiv verpflichtenden Fortbildung sollte dabei auch jenes Repertoire sein, das vom sogenannten Marschbuch bis zum sogenannten Sakralbuch, vom sogenannten Standkonzert bis hin zum Standard-Unterhaltungsprogramm über Jahre die Literatur der Musikvereine bestimmt, jedoch fast nie im Detail geprobt und interpretiert wird. Der Tradition als „allgemeiner Schlamperei“, wie es der Dirigent Nikolaus Harnoncourt einmal süffisant definierte, könnte damit zugunsten professioneller Repertoirepflege endlich ein Ende bereitet werden.

Als Höhepunkt und künstlerische Belohnung für all diese Bemühungen sollte zuletzt eine viel intensivere Zuwendung zur Bläserkammermusik erfolgen, die, wohl auch begünstigt durch den Wahn der meisten Dirigenten, ein großes Orchester zu regieren, gerade in Anbetracht ihrer oft herausragenden kompositorischen Qualität viel zu sehr vernachlässigt wird. So sei nur an die technisch durchaus auch für Amateure beherrschbaren Divertimenti von Wolfgang Amadeus Mozart für drei Bassetthörner (in der Ausgabe für 2 Klarinetten und Fagott) erinnert. Aber natürlich auch an das unendlich große sonstige Repertoire für Harmoniemusik, für Blechbläserensembles sowohl in ihrer weit mensurierten (2 Flügelhörner, 2 Tenorhörner, 1 Tuba), als auch eng mesurierten Variante (2 Trompeten, 2 Posaunen, 1 Bass-Posaune). Aber auch an das Repertoire etwa für Flügelhornweisen oder für Jagdhornensembles. Dieses sogenannte „Spiel in kleinen Gruppen“ wurde leider, fast schon mit abwertender Konnotation, in den letzten Jahren allzu sehr in den Bereich der Jugendausbildung abgedrängt. Vollkommen zu Unrecht! Denn Kammermusik ist, was das Vergnügen und die Erfüllung für die Musiker selbst betrifft, aber auch im Hinblick auf die technische und intonationsmäßige Motivation dem Spiel im großen Orchester aus meiner Sicht weit überlegen.

Klassischer Musikunterricht, allein oder in kleinen Gruppen, gründliches Studium des Repertoires, allein oder in kleinen Gruppen, und zuletzt künstlerisch hochwertige Kammermusik, die auch für Auftritte in der Öffentlichkeit selbst in Zeiten der Coronakrise erlaubt und ohne Risiko vonstattengehen kann! Alle drei Bereiche sind der musikalischen Qualitätssteigerung nicht nur förderlich, sondern könnten auch dazu beitragen, den durch die Corona-Krise erzwungenen Stillstand des Vereinslebens zumindest teilweise wettzumachen.

Erstveröffentlichung in

„Blasmusik, offizielle Fach-und Verbandszeitschrift des Bundes Deutscher Blasmusikverbände“, 6. Juni 2020

Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor und Journalist, lebt bei Innsbruck. Alois Schöpf schreibt seit 37 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 28 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Limbus: Vom Sinn des Mittelmaßes (2006), Heimatzauber (2007), Die Sennenpuppe (2008), Platzkonzert (2009), Die Hochzeit (2010), Glücklich durch Gehen (2012), Wenn Dichter nehmen (2014), Kultiviert sterben (2015) und Tirol für Fortgeschrittene (2017). Zuletzt erschien in der Edition Raetia Bozen gemeinsam mit dem Fotografen und Regisseur Erich Hörtnagl "Sehnsucht Meer, Vom Glück in Jesolo", die italienische Übersetzung wurde zeitgleich präsentiert. Und es erschien, wieder bei Limbus, "Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen". Schöpf ist auch Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte und leitete das erfolgreiche Bläserfestival fünfundzwanzig Jahre lang bis 2019.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Walter Merkl

    Ja, in diesen Zeilen steckt viel wahres drinnen. Danke für den Beitrag.

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