Christoph Themessl
Der verlassene Kuhstall
Über den modernen Sklaven
Essay
Die westlichen und nördlichen Länder werden den elementaren Genuss von kühlem Weißwein, Fisch und Zitrone nie verstehen, solange sie ihren Darwinismus und ihre Gewinn-Maximierungs-Logik nicht aus dem Kopf bekommen. Wird das noch einmal geschehen?
Leider haben wir es inzwischen so weit gebracht, dass alle von Natur aus reichen Länder bei den relativ unfruchtbaren Staaten der Kalt- und Kühlklimazonen Schulden haben und denselben ihre Oliven, Mandeln, Feigen, Bananen, Zitrusfrüchte und den Wein nahezu schenken oder im Tausch Kriegsausstattung dafür erhalten.
Länder, reich an fruchtbaren Böden und Ressourcen, mit melodischer Sprache und natürlicher Freundlichkeit beschenkt, drohen sich heute selbst zu verlieren wie ein Künstler unter den Machenschaften des Kunstbetriebes nur, um zu gefallen und zu verdienen, sein Talent ruiniert. Der Traum der Armen ist es jetzt überall, so zu leben, wie man im Westen lebt, Fabrikware zu essen, mit einem Laptop zu spielen und am besten mutterseelenallein in einer Großstadtwohnung zu sitzen – in der der vorangegangene Mieter eben Selbstmord beging.
Leute vom Fach mögen einem Philosophen Folgendes nachsehen. Ich habe das Wesen der Armut auf einem alten Stein vor der Ruine eines längst aufgelassenen Bauernhofes eines kroatischen Freundes studiert – nicht bei Malthus und seinen Überschlagsrechnungen zu Erntegewinnen und proportionalem Bevölkerungswachstum oder bei David Ricardo und seinem vielzitierten Geiz der Natur, der den Dingen nur aufgrund ihres knappen Vorkommens einen Markt- oder Warenwert verleiht.
Salzige Meeresluft zog mit einer Brise über die mit Olivenhainen bewachsene Bucht herauf zu dem Stein, und ich dachte, dass ausgerechnet die Luft zum Atmen nach Ricardos Theorie die aller wertloseste sein müsste, da sie ja unbegrenzt vorhanden ist und daher zum Geschäftemachen weitestgehend untauglich.
Es charakterisiert die Ökonomie seit dem 19. Jahrhundert, die Warenwerte von den natürlichen, essentiellen Werten wie Ernährung und Behausung abgesondert und auf diese Weise einen regelrechten Artikel-Fetischismus der wertlosesten und bisweilen schädlichsten Dinge entwickelt zu haben. Auf diesen Dingen gründet bis heute der nie dagewesene Wohlstand für Massen.
Aber es bleibt die Frage offen: Wie kann eine Ökonomie, die primär mit essentiell wertlosem Zeug (bloßen Gegenständen wie Handys, Autos, Sportschuhen, Energie-Drinks u.v.m.), also im weitesten Sinne mit Luxusartikeln handelt, wie konnte eine solche Spielzeug-Industrie je über essentielle Werte siegen?
Anders gefragt: Wieso konnten die Kuh, die Milch und Käse lieferte, der Ochse, der den Karren zog, die Kartoffeln, das Gemüse und das Obst, welche auf den Markt gebracht wurden, der Wein und das Öl, die auf dem Hof verkauft wurden, die Bauernfamilie nicht mehr ernähren? Wieso sind von einer Geschichte, die nicht einmal lange zurückliegt, nur die Ruine hinter meinem Rücken und der Stein unter meinem Hintern übriggeblieben?
Hier baute inzwischen ein Beamter aus der Stadt, dort ein Anwalt, dort ein Bankangestellter. Hier kaufte ein Architekt, dort ein regionaler Politiker, dort ein Computer-Ingenieur. Ein gutes Stück der Bucht liegt heute noch frei – es ist wohl einer Hotelanlage vorbehalten, deren Bau die Urenkel des Vaters meines Freundes, der noch Bauer war, beizeiten mit der Gemeinde ausverhandeln werden.
Sie alle sind Sieger der Spielzeugfabrikation überflüssiger Waren, und die allereinfachste Ordnung der essentiellen Dinge ist so binnen einiger Jahrzehnte einer Ökonomie der Entwurzelung gewichen.
Es ist, als hätte man das Land zerstückelt so wie die Funktionen der Bürger in der Volkswirtschaft. Dieses Phänomen ist durch Überbevölkerung (Malthus´ Lieblingsthema) oder Kapitalakkumulation der Bourgeoisie (das Steckenpferd des Karl Marx) alleine nicht erklärbar. Auch der intensiv betriebene Außenhandel der Staaten im Sinne Ricardos oder ökonomisch-technologische Rationalität, die eines kleinen Bauern und seines Kuhstalles nicht mehr bedürfe, weil die Rinder gleich zu tausenden direkt vor der Schlachtfabrik gezüchtet werden, können die Frage nicht beantworten: Wieso sollte die Evolution einen Weg einschlagen, der gegen (ihre) Natur ist, der den Menschen in ihr nicht nur zum Fremdkörper, sondern zu einem auf Dauer untragbaren Schädling macht?
Es ist, wie mir auf dem alten Stein schien, nicht die Technologie selbst, jedoch eine technologisch produzierte Überbevölkerung, die bei der Entwurzelung der Menschen am Werk ist. Damit ist nicht ein Auswuchs künstlicher Befruchtung gemeint, sondern eine Überkapazität an Arbeitskräften, an Produktions-Sklaven, die sich einer nie da gewesenen Teilung von Arbeitsprozessen und Funktionen verdankt.
Die Bevölkerung wächst nicht einfach so mathematisch proportional, wie sich Malthus das dachte, sondern die auf technologischem Weg entstehenden offenen Funktionen sorgen – vergleichbar etwa ökologischen Nischen, die bewohnbar sind – für steigende Population. Nicht das Bevölkerungswachstum erzwingt technologische Innovationen, die den Kuhstall ineffizient und obsolet erscheinen lassen, sondern die hundertfachen neuen Funktionen technologischer Herkunft – die meist ohne Sinn und Zweck oder nicht zweckmäßiger als Produkte der Rüstungsindustrie sind – ermöglichen das Wachstum und sehen in dem alten Kuhstall bestenfalls noch eine Orchidee, die zwar zu nichts Nutze ist, aber immerhin, für Nostalgiker und Romantiker hübsch anzuschauen.
Nehmen wir das beliebte Studienobjekt Afrika: Einst nomadische Viehhirten, Jäger und Sammler geraten unter negative Einflüsse wie islamische und europäische Sklavenhändler, werden vertrieben wie im Falle Kongo durch belgische Kolonialisierung, die brutale Ausbeutung bedeutete. Wirtschaftliche Gewinne – etwa durch Kohleförderung – gehen vor allem an die (belgische) Siedler-Elite. Nach der Unabhängigkeit (Entkolonialisierung der Länder) setzen sich wirtschaftliche Einflussnahmen und Ausbeutung dank Korruption nahezu unverändert fort. Jeder weiß, wo der einstige Privatstaat (Kongo) von König Leopold II. heute steht: dort, wo fast alle afrikanischen Länder sich befinden…
Im historischen Rückblick bildeten sich in den hauptsächlich betroffenen Regionen Afrikas immer wieder scheinbar multifunktionale Wirtschaftssysteme mit vorübergehendem Aufschwung, Verbesserung der sozialen und medizinischen Situation, wodurch – womöglich durch unbewusste Erwartungshaltung – das Bevölkerungswachstum steigt, ohne verbesserte Verhältnisse real und dauerhaft hervorzubringen. Man tappt gewissermaßen in eine Zivilisationsfalle. In der ursprünglichen Lebensweise könnte das wohl kaum passieren, auch wären keine externen Hilfen, ausländische Sozialprojekte zur Wiedergutmachung vorhanden, die medizinisch in das Missverhältnis einer relativen Überbevölkerung eingriffen.
Relativ, denn Afrika ist heute der am dünnsten besiedelte aller Kontinente. Hätten die Menschen die Möglichkeit gehabt, bei ihrer Lebensweise zu bleiben, wäre es vielleicht reich an Menschen und üppigen Gutshöfen. So bleibt für die meisten Menschen selbst ein kleiner, armseliger Stall mit zwei Rindern ein unerreichbarer Traum.
Dasselbe Schicksal wie so viele der einstigen Kolonien könnte uns morgen auch im Westen ereilen, nämlich dann, wenn wir in weiterer Erwartung des Aufstiegs, gewissermaßen im Höhenrausch des Spielzeug-Konsums, den Abstieg übersehen.
Die Evolution ist gegen ihre Geschöpfe blind und gleichgültig wie die Schicksalsgöttinnen selbst, und wir Menschen hatten Glück, dass sie uns solange in die Karten spielte. Aber man muss kein großer Dramatiker sein, um mit Sartre zu sagen, dass das Spiel schon bald aus sein könnte.
Der Mensch war ein erfolgreiches Tier, bis ihm die Zivilisation passierte, so der Philosoph Karl Popper. Wann begann die Zivilisation? Mit Sesshaftwerdung und dem dazugehörigen Besitzdenken, könnte man mit einem anderen Klassiker der Biologie und Erkenntnistheorie, Konrad Lorenz, antworten.
Es ist eigentlich keine Frage: Wir sind in den Besitz von einigen Karten gelangt, die das Blatt verdammt gut haben ausschauen lassen. Die Moiren haben sie uns zugesteckt. Doch die kleinen Trümpfe zu früh verspielt – wissen wir nun nicht, wie wir die bunten, hübschen Asse gewinnbringend loswerden könnten. Wir sollten sie den Göttern und Göttinnen zum Geschenk machen. Denn zurückgeben müssen wir sie auf jeden Fall.
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