Bettina Maria König
Kaffee mit Cary Grant
Short Story
Ich zerknüllte Julians Brief und schleuderte ihn in den Papierkorb. Drängen? Ich ihn drängen? Wie bitte? Wer war denn vor meiner Tür gestanden? Ich war außer mir. Der Voodoo-Puppe brachte das noch ein Dutzend mehr Stiche ein, vorwiegend in der unteren Leistengegend. Es dauerte lange, bis ich mich wieder beruhigt hatte. Dann holte ich den Brief aus dem Papierkorb, strich ihn sorgsam glatt und legte ihn in mein heiliges Julian-Memorial-Buch, in dem ich die wenigen Gegenstände aufbewahrte, die ich bislang von ihm ergattert hatte: ein paar getrocknete Blumen aus seinem Blumenstrauß, ein Lesezeichen, ein Zettel, auf dem er den Namen eines Buches notiert hatte, das ich unbedingt lesen sollte. Dann verstaute ich das Buch wieder in seinem Geheimversteck, nicht ohne ihm vorher einen Kuss auf den Umschlag gedrückt zu haben. „Er kommt wieder zurück“, ermunterte ich mich und glaubte es in diesem Moment auch, „er braucht nur ein bisschen Zeit. Schließlich liebt er mich ja! Ja, er liebt mich…“. Bea sagte ich von meinen Überlegungen natürlich nichts. Ich denke, sie hätte mir ohne viel Federlesens den Kopf abgerissen.
In den kommenden Tagen grub ich mich zuhause ein. Ich durfte Julians Rückkehr ja nicht verpassen. Bei jedem Anruf, bei jedem Klingeln an der Tür sprang ich auf, denn ich war sicher: Das ist er. Er kam aber nicht, und er rief auch nicht an. Die Wochen zogen ins Land, aber mein Geliebter blieb spurlos verschwunden. Ich harrte dennoch tapfer aus. Im Nachhinein würde ich mir wünschen, dass ich in anderen Momenten meines Lebens die gleiche Hartnäckigkeit an den Tag gelegt hätte, wo sie nicht so fehl am Platz war. Aber nachher weiß man es ja immer besser. Bea tat ihr Bestes, um mich wieder ins Leben zurück zu holen, aber alle ihre Versuche schlugen fehl. Ich wagte es dieses eine Mal, mich ihr zu widersetzen, und da sie zum Glück einsah, dass sie nichts ausrichten konnte, ließ sie mich schließlich in Ruhe – eine für sie durch und durch liebevolle Geste. Aber ehrlich gesagt war sie auch zu sehr damit beschäftigt, sich ihrem neuen Lieblingsprojekt zu widmen: ihrer Hochzeit.
Und damit ließ sie mich nun ganz sicher nicht in Ruhe. Denn wenn Bea etwas plant, dann tut sie das gründlich und unerbittlich. Bis ins letzte Detail, das so sein muss, wie sie sich das vorstellt. Und unter Einbeziehung aller zur Verfügung stehenden Ressourcen, zu denen selbstverständlich auch ich gehörte. Paul allerdings nicht, denn er hatte sich gleich bei ihrer ersten Andeutung von einer Hochzeit in Weiß in der Kirche, mit 200 Gästen, Hochzeitsmusik und anschließender Fete im eigens errichteten Festzelt mit den Worten verabschiedet: „Also wir können ja gerne heiraten, aber am liebsten mit Jeans und T-Shirt im Standesamt. Wenn du mehr willst, ist das dein Bier. Dann organisier‘ das bitte alleine“. So viel Mut hatte ich Paul gar nicht zugetraut. Überraschenderweise ließ es Bea dabei bewenden – vielleicht wusste sie manchmal doch, wo ihre Grenzen waren. Sie spannte dafür mich ein, und ich konnte mich nicht entziehen. Als BFF. Paul war erleichtert – auch darüber, dass es nicht zum befürchteten Eklat gekommen war. Er ließ Bea werken und ging mit seiner Clique zum Brückenspringen. Und dieses Brückenspringen war es leider auch, das mir mein nächstes Verhängnis bescherte.
Es war an einem lauen Freitagabend im Frühling, und wir hatten gerade sämtliche Brautläden der Stadt durchkämmt, um das ultimative, ultramegahyperdrüber Brautkleid zu finden – was uns dank Beas exklusivem und wählerischem Geschmack nicht gelungen war. Was ich verstehe – man heiratet ja nur einmal, so hatte ich es zumindest zuhause gelernt. Aus dem letzten Geschäft hatten sie uns eine halbe Stunde nach Ladenschluss rausgeworfen, weil die Verkäuferin verstanden hatte, dass Bea zu unschlüssig war, um sich an diesem Tag noch für eines der 50 anprobierten Modelle zu entscheiden. Nun saßen wir beim Aperitif in der Innenstadt – vor allem deshalb, weil wir zu erschöpft waren, um gleich heimzugehen, und auch, weil sich auf meiner rechten kleinen Zehe eine schlimme Blase entwickelt hatte. Bea nippte an ihrem Schlumberger und sagte so nebenher: „Ok. Also dann müssen wir morgen nach Bozen. Da gibt es einen ganz tollen Brautladen, habe ich gehört“. Ich hob in Anbetracht des Zustandes meiner Zehe alarmiert den Kopf, aber Bea fuhr unbeeindruckt fort: „Und wo wir schon mal am Weg sind – Paul und seine Kumpels fahren morgen zum Brückenspringen an die Autobahnausfahrt ins Pustertal. Die Brücke dort ist anscheinend ideal, und wir sollen Fotos schießen.“
Vielleicht sei an dieser Stelle meinen jüngeren Leser*innen erklärt, dass es das Bungee Jumping damals noch nicht gab, und deshalb musste, wer auf der Suche nach Nervenkitzel war, selbst kreativ werden. Paul & Co. waren dabei neben waghalsiger und exzessiver Kletterei auch auf das Brückenspringen gestoßen. Selbstverständlich war das illegal. Aber genau deshalb war es umso spannender, weil dieser Umstand zusätzlich dazu beitrug, die Nerven zu beleben. Dem Brautladen in Bozen konnte ich nichts abgewinnen, aber beim Brückenspringen zuzusehen reizte mich – das war fast noch spannender als Motorradfahren ohne Helm. Und so sagte ich zu. Mein Glaube an Julians Rückkehr war inzwischen doch ein wenig gebröckelt, wenn ich ihn auch noch längst nicht aufgegeben hatte. Und meine Nase war soweit auch wiederhergestellt. Es war an der Zeit, wieder ein bisschen zu leben. Julian würde mich sicher finden, sobald er so weit war, er wusste ja, wo ich wohnte. Und überhaupt sagte mir mein schlaues Buch zur Eroberung des Traumprinzen, das ich immer noch ab und zu heimlich spätnachts konsultierte, dass man umso attraktiver wirkt, je aktiver und unternehmungslustiger man ist. Und für Julian attraktiv sein – ja, das wollte ich immer noch!
Bea und ich rasten ausnahmsweise mit ihrem kleinen roten Flitzer Richtung Süden und fanden uns beim ausgemachten Treffpunkt ein. Es war ein Parkplatz ganz in der Nähe der Brücke. Pauls khakifarbener Jeep mit dem coolen Stoffdach stand schon dort, als wir eintrafen. Wir hielten, die Autotüren öffneten sich, und neben Paul schälten sich lässig drei Typen aus dem Auto. Ich kannte nur einen von ihnen, Martin, einen blonden und Spargel-Tarzan-artigen Sprössling aus einer Bistrot-Dynastie, den ich wegen seiner übergroßen Klappe nicht so schätzte (Bea hingegen umso mehr – vorwiegend wegen der Bistrot-Dynastie). Der zweite war ein kleiner, etwas untersetzter Typ mit schwarzen Strubbelhaaren, der mir als Jakob vorgestellt wurde. Und der Dritte im Bunde war wohl schon ein bisschen älter als ich, ein großer, objektiv fescher und sehr sportlicher Typ mit kurzen, dunkelblonden Haaren, dessen Ähnlichkeit mit Cary Grant mir sofort ins Auge stach; allerdings nur mir, wie ein späterer Check mit Bea ergab. „Alma, das ist Ben“, stellte Paul vor, und der solcherart Präsentierte gab mir zur Begrüßung einen keineswegs nur angedeuteten Handkuss, schaute mir tief in die Augen und warf mir ein „Hallo Schönheit!“ hin. Ich schlug irritiert die Augen nieder. Wow! Soviel direkten Flirtangriff hatte ich nicht mal in Italien erlebt! Instinktiv zog ich meine Hand zurück und trat einen Schritt zurück, denn ich hatte erschrocken festgestellt, dass die Berührung von Bens Lippen eine winzige Bewegung an einer Stelle in meinem Magen ausgelöst hatte, die eigentlich für Julian reserviert war.
Die Jungs begannen mit den Vorbereitungsarbeiten, überprüften Knoten und montierten die Gurte an ihre elastischen Seile. Als schließlich alles zu ihrer Zufriedenheit erledigt war, legte sich Paul sorgfältig alle Gurte an und kletterte auf das Brückengeländer. Er wartete, bis ein Auto vorbeikam, um den schockierten Insassen kurz zuzuwinken und sich dann nach unten zu verabschieden. Das Auto kam schleudernd zum Stillstand, der Fahrer sprang zum Brückengeländer und kehrte dann schimpfend und fluchend wieder zu seinem Wagen zurück. Bea hatte indes den historischen Moment per Foto festgehalten. Der nächste war Ben. Er sah wirklich beeindruckend aus, wie er da so am Geländer stand, während Jakob seine Gurte kontrollierte. Er überragte ihn und Paul um einiges. Auch Ben wartete auf vorbeifahrendes Publikum und sprang dann mit großer Eleganz in die Tiefe. Dachte ich unwillkürlich. Sein letzter Blick galt mir, er schenkte mir ein kurzes Winken und ein kaum wahrnehmbares Augenzwinkern. Wie ich überhaupt bald das Gefühl hatte, dass er nicht nur diesen einen Blick, sondern gleich ein ganzes Auge auf mich geworfen hatte. Denn als er von den Kameraden wieder in die Höhe gezogen worden war, spazierte er lässig in meine Richtung und fragte: „Cool, gell – macht dein Freund auch Brückenspringen?“. „Nein, nein – ich… habe keinen Freund…“, beeilte mich schnell zu beteuern, und ärgerte mich sofort darüber. Was ging ihn das denn an, ob ich einen Freund hatte? Und war Julian denn nicht irgendwie doch mein Freund? Aber ich wusste selbst, dass ich diese Frage nur verneinen konnte.
Ein zufriedenes Lächeln umspielte Bens Lippen, und es blitzte in seinen Augen. „Na, dann kannst du mir ja sicher deine Telefonnummer geben? Ich finde, wir sollten die Woche mal auf einen Kaffee gehen. Wir müssen doch feiern, dass wir uns kennengelernt haben!“, meinte er. Mein Herzschlag beschleunigte sich kaum merklich, und für einen Moment verschwamm das Bild von Julian, das ich seit Wochen in Permanentprojektion vor meinem geistigen Auge sah, ein ganz klein wenig. Bevor ich mich’s versah, hatte ich auch schon meine Nummer auf einen Zettel gekritzelt, den ich aus meiner Handtasche gefischt hatte. Ich reichte ihm das Stück Papier, und unsere Finger berührten sich kaum merklich. Wieder bewegte sich ganz sachte etwas in meinem Bauch. Was war das denn nur? Und wieso hatte ich ihm sofort meine Telefonnummer gegeben? Es gab für mich doch nur Julian! Der nur noch ein bisschen Zeit brauchte, um sich für immer zu mir zu bekennen! „Danke, Schönheit!“, säuselte Ben, und fixierte mich dabei amüsiert aus seinen blauen Augen. Ich wusste nicht warum, aber meine Laune hob sich augenblicklich, und selbst die Aussicht auf stundenlanges Brautkleiderbesichtigen im Nachgang erschien mir plötzlich nicht mehr so schlimm wie noch am selben Morgen.
Später im Auto Richtung Bozen sah mich Bea immer wieder prüfend von der Seite an. „Ben ist schon ein cooler Typ, gell?“, sagte sie schließlich mit der ihr eigenen Direktheit, „was habt ihr zwei denn da zu tuscheln gehabt?“. „Ja, er ist irgendwie ganz nett“, sagte ich betont leichthin, „aber wir haben sicher nicht getuschelt.“ „Na klar habt ihr das! Ich hab‘ doch gesehen, wie er dich angeschaut hat! Du gefällst ihm!“, insistierte Bea. Wieder war das merkwürdige Bauchkitzeln da, das mich langsam zu ärgern begann. „So ein Blödsinn, der wollte doch nur Smalltalk machen“, antwortete ich deshalb übertrieben wirsch. „Julian hat da eine ganz andere Klasse!“. „Gott, Alma!“, stöhnte Bea auf, „du wirst doch nicht immer noch diesem Typen nachhängen? Nach allem, was er dir angetan hat?“ „Natürlich nicht“ – meine Antwort kam etwas zu schnell. „Ich meinte ja nur…“
Bevor sie fragen konnte, was ich denn nur meinte, fügte ich rasch hinzu: „Naja, Ben meinte, wir könnten mal was trinken gehen“. „Wusste ich’s doch“, meinte Bea, zufrieden über ihre empathischen Fähigkeiten. Und dann – gönnerhaft: „Tut dir eh gut, ein bisschen unter die Leute zu kommen. Lass dich ruhig mal wieder hofieren. Dann vergisst du diesen Idioten von Julian schneller.“ Dann wurde ihre Stimme auf einmal ernst: „Aber pass ja auf mit dem. In den verliebst du dich lieber nicht, das ist ein alter Charmeur. Und außerdem hat er eine Freundin – und was für eine! Der möchte ich echt nicht in die Quere kommen! Sie ist 15 Jahre älter als er und mit allen Wassern gewaschen. Nicht, dass du vom Regen in die Traufe kommst.“ Meine gute Stimmung kippte augenblicklich, und ich sah auf einmal Berge von Brautkleidern vor meinem geistigen Auge auf mich einprasseln.
Ich schippte mühsam die Kleiderberge auf die Seite und ging kurz in mich. „Alma!“, belehrte ich mich selbst, „was soll das? Ob Ben eine Freundin hat oder nicht, kann dir total egal sein! Der Mann deines Lebens ist und bleibt Julian, und irgendwann wird er zu dir zurückkommen!“ In der Zwischenzeit konnte ich mich aber genauso gut mit einem anderen unterhalten. Auch mit einem charmanten Schwerenöter, wenn ich das wollte. Ich würde ihn schon im Zaum zu halten wissen, darin hatte ich mittlerweile Übung, wie ich nicht ohne eine gewisse Genugtuung in Erinnerung an die letzten Monate konstatierte. „Soll er doch“, antwortete ich also Bea, „Ich will ja nix von ihm. Ich brauche nur ein bisschen Ablenkung.“ Sie nickte anerkennend und quittierte meine Ansage mit einem knappen: „Hast ja doch etwas gelernt von mir“.
Mittlerweile waren wir in Bozen angekommen, und Bea konzentrierte sich ganz darauf, den angepeilten Brautladen zu finden und zu stürmen. Das Thema Ben war somit abgehakt. Hätte es auch für mich sein sollen. Aber während ich Bea in immer wechselnden weißen Outfits aus der Kabine kommen sah und meinen Daumen abwechselnd hob und senkte, schlich sich das Bild eines sportlichen, großen Brückenspringers immer wieder in meine Gedanken.
Als wir am Abend heimkamen, blinkte der Anrufbeantworter bereits hektisch. Ich hörte die Nachrichten ab – sie waren alle von Ben. Er lud mich für den nächsten Abend zum Aperitif ein.