Andreas Niedermann
Das Mördertier im Menschen
Notizen

Einmal lud mich eine Kollegin, eine Drehbuchautorin, zu sich nach Hause ein. Vorher hatte sie offen darüber geredet, dass ihr Haushalt äußerst chaotisch und unordentlich sei, und ich bitte, bitte, entschuldigen müsse.

Als ich dann in ihrer Wohnung stand und mich ein wenig umsah, konnte ich erkennen, dass das Gegenteil wahr war, blitzeblank alles, aufgeräumt; die Fenster, durch die die Abendsonne schien, waren geputzt und schlierenfrei, und sie hätte das Chili, das sie servierte, ohne weiteres einfach auf den Küchenboden kippen können, ich hätt’s ohne zu zögern von den Fliesen gelöffelt.

Was war da los?

Sie stecke in einer kleinen Schreibkrise, sagte sie, sie komme nicht weiter mit ihrem Drehbuch, sie hänge irgendwie durch; und das Schlimmste sei, dass sie sich vor der Arbeit drücke, und um dieses Herumdrücken erträglicher zu machen, fange sie an zu putzen.

Dem Zustand ihrer Wohnung zufolge, steckte sie in einer ernsteren Schreibkrise.

Meine eigene Art, mich vor der Arbeit zu drücken, war, früher einmal, mich herumzustreiten. Ich trieb mich zum Beispiel auf Foren von Tageszeitungen herum. Ich versuchte Leute in Diskussionen zu verwickeln, dabei Schwachstellen rauszufinden, Deckungen zu durchbrechen, Lücken zu suchen, durch die ein guter verbaler Punch zu landen war.

Der Übergang vom Argumentieren in einer Sache zum Ausleben der Streitlust ist fließend. Denn es ist durchaus lustvoll, zu versuchen, jemanden kleinzukriegen. Aber das funktioniert nicht immer. Manchmal wird man selber fertig gemacht. Weil man zu sorglos eingestiegen ist und gleich zu Beginn, aus Schlampigkeit und Unterschätzung des Gegners, Fehler macht; in der Sache zu wenig versiert ist oder sich aufs Eis ziehen lässt, in Hinterhalte gelockt wird, sich hoffnungslos in Halbwahrheiten verheddert, und Karten ausspielt, die kalt abgestochen werden.

Kurz, es ist eine Art Kampf. Die alten Griechen nannten es Disput. Sie schulten sich darin. Eine Variante des Unterrichts war, nicht den eigenen Standpunkt zu vertreten, sondern den Gegenteiligen. Man kann es ein geistiges Sparring nennen. Man trainiert etwas ganz bestimmtes. Wie man sich beim Boxsparring auf die Eigenheiten, das Können und die physischen Gegebenheiten eines tatsächlichen Gegners, vorbereitet.

Was hat das alles für einen Zweck? Es ist eine zivile Art – sowohl das Boxen als auch der Disput – das Mördertier im Menschen zu zähmen.

Und als ich heute morgen darüber nachdachte, schweifte mein Blick über das Bücherregal und er blieb schließlich an Benjamin Korn / Kunst, Macht und Moral hängen. Ein schmaler Band mit Essays des Theatermannes und Schriftstellers. Ich las Die manichäische Falle.

Der Essay beginnt mit den Worten:

Wie kommt es, dass jeder von uns glaubt, jederzeit Recht zu haben, und zwar mit solcher Leidenschaft, dass er bereit ist, seinen Tischnachbarn niederzuschreien, ihm ein Glas Schnaps in den Kragen zu schütten, ihn windelweich zu prügeln?

Es ist ein formidabler Text, gerade wenn man darauf wartet, dass sich die kleine Tochter erhebt, damit man ihr ein Frühstück machen kann. Es ist ein harter Text. Vor allem auch, weil der Autor Benjamin Korn sich ebenfalls zur Disposition stellt. Ist es ein deprimierender Text?

Steht da weiter vorne nicht:

Kurz, unsere mörderischsten Aggressionen suchen sich in unsern Köpfen eine edle Moral, und wenn sie keine edle finden, eine heroische Feindschaft, einen Religionskrieg, eine Strafexpedition, dann prügeln sich halt zwei Bauern um einen Quadratmeter Erde, und die Kinder setzen die daraus entstehende Todfeindschaft fort. Die Gründe? Haben wir vergessen.

Es ist ein wahrer Text. Das wird umso klarer, je weiter ich lese. Beinahe atemlos. Gierig? Gierig auf was? Auf eine Art Erlösung? Dass es doch nicht ganz so schlimm um uns bestellt sein möge. Kommt aber nicht. Es wird noch schlimmer. Obschon es erst nicht danach aussieht. Korn, der Theatermacher spricht über die Kunst, die Katharsis, das Mitleiden.

Müde in ein Theater gehen und zwei Stunden später wach herauszukommen, freundlich zueinander, entspannt und frei zu sein, großzügiger, „besser“ zu sein als eben noch beim Hineingehen.

Wer kennt es nicht, dieses Gefühl. Nach dem Kino. Nach der Lektüre eines wahren Buchs.

Die Kunst erlaubt es uns, jene Fähigkeit zum Mitleiden auszuleben, die wir in der Wirklichkeit, zugunsten unserer egoistischen und herrschsüchtigen Impulse, zurückstellen und vernachlässigen müssen. Ihre Wirkung ist kurzfristig wie die eines Traums.

Und dann:

Katharsis ist ein vorübergehender Sieg gegen den Hass in uns, der aber aus einer unstillbaren Quelle in uns kommt.

Ist das nun wahr? Es ist. Immer wieder wundere ich mich darüber, warum der Pegel meiner Wut ansteigt auch ohne sichtbare Anlässe. Ich werde mit Zorn gleichsam „aufgeladen“. Wo ist die Stromquelle?

Haben wir’s nun kapiert? Sind wir hoffnungslos verloren im Manichäismus? Noch einmal fordert Korn etwas von uns:

…Die nicht zu unterschätzende Macht der Dummheit besteht darin, dass sie ihre Sätze unendlich oft wiederholt …Die Dummheiten werden seit Jahrhunderten wiederholt, und die abhängigkeitserzeugende Kraft des Gebets liegt in der puren tausendfachen Wiederholung der Litanei. Ebenso müssen wir unentwegt die Wahrheit wiederholen; aber man muss das Gefühl von Peinlichkeit und falscher intellektueller Scham abschütteln; es wäre unverzeihliche Blasiertheit es nicht zu tun! Wir müssen jedes Vorurteil, jede rassistische Äußerung ausreißen wie Unkraut im Denken …Es ist ein Graben- und Abnutzungskrieg, bei dem die Dummheit die besseren Waffen hat …

Das wird von uns gefordert. Nicht mehr, und auch nicht weniger.Korn beschließt seinen Essay, in dem er uns endgültig reinen Wein einschenkt:

Wir sind ewig dazu verflucht, unsere Ideen vom Dasein weder zum Leben erwecken noch aufgeben zu können; und so läuft neben der Erfahrung vom Schlimmen und Bösartigen der Welt immer die Idee des möglich Guten vor uns her, wie die Karotte vor dem Mund des Esels, die ihn laufen macht und die er nie erreicht.

Mir fiel nun dieser altgewordene Veteran aus Sacramento ein, der in Ken Burns Film The War seine erfahrene Hölle in den Ardennen beschrieb: die Qual der Müdigkeit, des Hungers, der Kälte und der niemals schlafenden Todesfurcht; wie er mit dem altersmilden Lächeln des guten Mannes sagte:

Man sagte sich immer: wenn die Kameraden das ertragen können, dann kann ich das auch!

Benjamin Korn: Kunst, Macht und Moral. Essays. Suhrkamp Taschenbuch


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Andreas Niedermann

Andreas Niedermann, 1956 in Basel geboren. Nach einer Laborantenlehre einige Jahre in Europa unterwegs. Informelle Ausbildung zum Schriftsteller in genau 50 ausgeübten Berufen. U.a. als Steinbrecher, Alphirte, Kranführer, Kinobetreiber, Krafttrainer, Koch und Theatertechniker. Seit 1989 mit Familie in Wien lebend. Gründete 2004 den Songdog Verlag. Publizierte einige Romane, Storybände und Novellen. Zuletzt „Blumberg 2 (Die Wachswalze)“ bei Edition BAES.

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