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Alois Schöpf
Zur Revitalisierung von Stehkonzerten
Plötzlich lautet die Frage:
Was können wir, was die anderen nicht können?

Seit Jahrzehnten bemüht sich die Blasmusikbewegung, Anschluss an die distinktionsgeladenen Konzertveranstaltungen der Hochkultur zu finden. Was die Medien betrifft, mit äußerst mäßigem Erfolg! Künstlerisch sollte dabei das Blasorchester als eine gleichsam dem Symphonieorchester gegenüber emanzipierte Klangvariante ins Bewusstsein des Publikums gerückt werden. Dass vor diesem Hintergrund großartige Leistungen nicht nur von Militärorchestern und den wenigen zivilen professionellen Blasorchestern erbracht wurden, steht außer Zweifel. Es sei nur an die Konzerte der Belgischen Gidsen, der Sächsischen Bläserphilharmonie oder der Bläserphilharmonie Mozarteum Salzburg im Festspielhaus samt Liveübertragung im ORF erinnert. Aber auch Amateurorchester der höchsten Leistungsstufe haben Beeindruckendes zu bieten. Zu nennen wären in diesem Zusammenhang etwa das Landesblasorchester Baden-Württemberg oder das italienische Orchester aus der Provinz Bergamo „Filarmonica Mousiké“ und viele andere, deren großartige Aufführungen bei den Innsbrucker Promenadenkonzerten des letzten Jahres zu bewundern waren.

Mit einem nun haben all diese Formationen und ihre weniger prominenten Nachahmer auf dem langen Weg in die heiligen Sphären der Hochkultur nicht gerechnet. Dass die Covid19-Pandemie sie in gleicher Weise, ja noch mehr treffen würde als ihre Kolleginnen und Kollegen aus den klassischen Symphonieorchestern und den Opernhäusern. Denn so groß ist das Ansehen der Bläsermusik noch lange nicht, dass ihr gedeihlicher Fortbestand und ihre Konzertmöglichkeiten, wie es etwa bei den Salzburger Festspielen geschah und derzeit bei der Wiener Staatsoper geschieht, zur Staatsräson eines ganzen Landes erhoben worden wären.

Im Gegenteil: Die Unmöglichkeit zu proben und in der Folge abgesagte Frühjahrs-, Sommer- und nun auch noch Herbstkonzerte haben plötzlich ein Vakuum und die dringende Frage entstehen lassen: Was ist in dieser Situation zu tun? Könnte sie zum Anlass genommen werden, um neue Auftrittsmöglichkeiten zu entwickeln bzw. vergessene und bewährte Formen der Selbstpräsentation wieder zu revitalisieren?

Einige Orchester haben sich, auch beflügelt durch entsprechende Wettbewerbe, immer schon der sogenannten „Musik in Bewegung“ verschrieben. Dass sie im vorliegenden Zusammenhang nicht weiter Gegenstand der Betrachtung ist, hat zwei Gründe. Zum einen, weil es, wie schon gesagt, zahlreiche Musikvereine gibt, die sich mit dieser Art des vom Repertoire her künstlerisch zweifelsfrei beschränkten Auftritts sehr erfolgreich beschäftigen und daher jederzeit als Vorbild dienen können. Zum anderen, weil für viele Musikerinnen und Musiker speziell im Bereich der sehr fragilen Holzregister das Musizieren im Marschieren schlicht keine Perspektive darstellt, die einen weiteren Verbleib in einem Verein attraktiv erscheinen ließe. Selbst in meinem Heimatland Tirol, das mit seinen in farbenprächtige Trachten gekleideten Musikkapellen in der Lage ist, einen durchaus befriedigenden Showeffekt zu erzielen, ist das Marschieren für sehr viele, wenn nicht für die meisten, eine äußerst ungeliebte und mit ihren musikalischen Vorstellungen kaum vereinbare Plage.

Dass es zwischen dem klassischen Konzert in perfektem akustischen Umfeld und solch mäßig geschätzten Marschier-Auftritten bei religiösen und karnevalesken Anlässen auch noch ein Mittelding gibt, ist leider allzu sehr in Vergessenheit geraten. Zum großen Schaden nicht nur für die derzeit eher beschäftigungslosen Vereine selbst, sondern auch zum großen Schaden für das Ansehen der Blas-und Bläsermusik überhaupt. Wenn ich aus persönlicher Erfahrung darüber nachdenke, was eigentlich die beeindruckendsten Auftritte der K.u.K. Postmusik Tirol waren, bei denen ich in den letzten Jahren mitwirken durfte, so fallen mir, ohne lange überlegen zu müssen, fünf sogenannte Stehkonzerte ein. Ein Konzert vor dem Schloss Belvedere, ein Konzert vor der Karlskirche, ein Konzert vor dem Schloss Schönbrunn, alle in Wien, ein weiteres Konzert im Mirabell-Garten in Salzburg und zuletzt ein Konzert im wunderbaren Ambiente des Kurortes Bad Gleichenberg in der Steiermark.

Selbstkritisch ist dabei anzumerken, dass auch „mein“ Orchester, wie übrigens die meisten anderen auch, auf all diese Auftritte nur mäßig gut vorbereitet war, und, wie hierzulande fast überall üblich, die verschiedenen Märsche aus dem Marschbuch ungeprobt herunter gespielt hat. Welch verpasste Chance schon damals! Und welche verpasste Chance heute, wenn man an all die gesetzlichen Regelungen denkt, die möglicherweise noch länger große Abstände zwischen den Musikern vorschreiben und Veranstaltungen in Innenräumen unmöglich oder zu einer quälenden Notlösung machen.

Bei einem Stehkonzert, bei dem sich die Musiker in klassischer Auftrittsweise, wie es lange Zeit in den Garnisonsstädten der Habsburgermonarchie üblich war, in einem Kreis um den in der Mitte stehenden Kapellmeister gruppieren, würden nicht nur sämtliche Sicherheitsvorschriften in Sachen Abstand und Durchlüftung eingehalten. Auch der Showeffekt durch einen Einmarsch und den geordneten Übergang in die kreisförmige Anordnung des Orchesters wäre beeindruckend, vor allem dann, wenn endlich vom üblichen öden Marschrepertoire Abstand genommen würde. Zusätzlich ist davon auszugehen, dass durch die klare Trennung der Register, wie sie bei der derzeit üblichen Konzertaufstellung im Stehen selten gegeben ist, die Musikerinnen und Musiker auf ein Zentrum hin und im gegenseitigen Blickkontakt musizieren würden, wodurch eine sehr einheitliche starke Klangfülle entstehen könnte.

All dies hat allerdings nur dann Sinn, wenn Stehkonzerte, wie der Name es andeutet, sich auch konsequent einer Konzertdramaturgie befleißigen würden, deren wesentliches Element in einem raschen Wechsel der Genres besteht. Diese Genres wiederum sollten sich aufgrund der traditionellen Auftrittsweise in Tracht oder Uniform historisch korrekt auf Werke vor allem des 19. Jahrhunderts beschränken und Ausflüge ins 20. Jahrhundert unter besonders strenge stilistische Beobachtung stellen.

Hier soll keineswegs eine Debatte darüber losgetreten werden, inwieweit eine an die Zeit des Barock oder an die Zeit der bürgerlichen Revolution erinnernde Gewandung der Musikerinnen und Musiker die Orchester zum Verzicht auf sogenannte „moderne“ Literatur verpflichtet. So sehr sich dafür zahlreiche Argumente anführen ließen, so sollte im Hinblick auf ein Stehkonzert vor allem anerkannt werden, dass das Publikum, das in einer Fußgängerzone oder vor einem historischen Gebäude flaniert, ein klassisches Repertoire erwartet, das, horribile dictu, mit dem Klischee von Blasmusik übereinzustimmen hat.

So edel das Anliegen sein mag, Blasorchester, wie schon angedeutet, als eigene Orchesterform ins Bewusstsein des Publikums zu hieven, Stehkonzerte sind für einen solchen Bewusstseinswandel nicht geeignet. Sie finden außerhalb des Paralleluniversums der Blasmusikszene statt! Ihre Aufgabe bestünde vielmehr darin, durch perfektes Zusammenspiel und hohe künstlerische Ausstrahlung einem anonymen Publikum die uralte Faszination von Freiluftmusik näher zu bringen. In diesem Sinne haben die Programme, so bitter dies auch manch ehrgeizigem Kapellmeister aufstoßen mag, ein Programm anzubieten, das sich vor allem aus Märschen, Polkas, Walzern, Ouvertüren, Potpourris und Solostücken zusammensetzt. Es ist davon auszugehen, dass ein solches Programm zumindest im süddeutschen Raum und in Österreich von der Zuhörerschaft mit großem Wohlgefallen aufgenommen würde.

Bleiben zuletzt einige aufführungstechnische Fragen: Wird mit Notenständern gespielt oder ohne? Wahrscheinlich ist ihre Verwendung unumgänglich, da ja etwas längere Stücke nicht bis zur Unkenntlichkeit kopiertechnisch verkleinert werden können. Wahrscheinlich wäre es in diesem Zusammenhang auch klug, das Repertoire von vornherein in eine fix vorbereitete, leicht zu handhabende Notenmappe zu geben? Bleibt die Frage: Wie wird das Verteilen der Notenständer und der Notenmappen, wenn das Orchester seine kreisförmige Konzertposition eingenommen hat, ohne sonderliche Peinlichkeiten und Schlampereien dramaturgisch klug in den Ablauf des Auftritts miteinbezogen?

Zum Abschluss und zur Anregung ein Vorschlag für einen etwa einstündigen Konzertauftritt, der ohne große Pausen zwischen den Stücken durchgeführt werden sollte. Ich gehe dabei von einem Orchester der Leistungsstufe C aus, wobei die vorgeschlagenen Stücke technisch eher leicht zu bewältigen sind, eine Tatsache, die gerade dadurch ein besonders perfektes und inspiriertes Zusammenspiel ermöglichen sollte.

Friedrich Smetana
Libussa Fanfare
Michael Haydn
Coburger Marsch
François-Joseph Gossec
Symphonie pour Musique Militaire
Julius Fučík
Triglav Marsch
Jacques Offenbach
Pariser Leben Ouvertüre
František Kmoch
Romanze für Flügelhorn
Emil Štolc
Blumengeflüster Walzer
Joromír Vejvoda
Rosamunde Polka
František Kmoch
Marschfestival
Carl Teike
Alte Kameraden Marsch

Alois Schöpf
Verfasst für: Blasmusik, Offizielle Fach-und Verbandszeitschrift des Bundes Deutscher Blasmusikverbände e.V.

Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor und Journalist, lebt bei Innsbruck. Alois Schöpf schreibt seit 37 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 28 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Limbus: Vom Sinn des Mittelmaßes (2006), Heimatzauber (2007), Die Sennenpuppe (2008), Platzkonzert (2009), Die Hochzeit (2010), Glücklich durch Gehen (2012), Wenn Dichter nehmen (2014), Kultiviert sterben (2015) und Tirol für Fortgeschrittene (2017). Zuletzt erschien in der Edition Raetia Bozen gemeinsam mit dem Fotografen und Regisseur Erich Hörtnagl "Sehnsucht Meer, Vom Glück in Jesolo", die italienische Übersetzung wurde zeitgleich präsentiert. Und es erschien, wieder bei Limbus, "Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen". Schöpf ist auch Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte und leitete das erfolgreiche Bläserfestival fünfundzwanzig Jahre lang bis 2019.

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