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Alois Schöpf
Verfehlte Selbsteinschätzung
Wenn Amateure, die meinen, sie seien Profis,
sich die Kunst selbst machen.
Über die CD des Tiroler Blasmusikverbandes
mit neuen Werken von Tiroler Komponisten
Essay

Blas- und Bläsermusik war ursprünglich Freiluftmusik. Ganz pragmatisch bestand ihre Funktion von der Trompete bis zum Alphorn darin, über große Distanzen oftmals sogar strategische Informationen weiterzugeben, aber auch darin, Soldaten im Gleichschritt in den durch Dur-Klänge beförderten fröhlichen Heldentod zu schicken.

Zudem war und ist Blasmusik bis heute die Begleitmusik für feierliche Aufzüge etwa bei und nach einer ländlichen Prozession zum Schützenaufmarsch vor dem Gasthaus. Oder, früher, zur Umrahmung des Auftritts von Feudalherren, später zur Eröffnung bürgerlicher Selbstfeiern, in Bayreuth etwa bei der Ankunft des Führers zur Festspieleröffnung, und inzwischen, demokratisch und politisch geläutert, zur Amtseinführung frisch gewählter Bundespräsidenten, Minister und Dorfbürgermeister.

Und sie war immer auch Unterhaltungsmusik für laue Sommerabende, an denen achtköpfige Harmonie-Ensembles in kleinen Pavillons die beliebtesten Arien der neuesten Opernwerke präsentierten und die Komponisten, fasziniert vom Atmenden der Bläserei, eigene Serenaden, Partiten und Divertimentos beisteuerten, allen voran Wolfgang Amadeus Mozart mit seiner für 13 Musiker gesetzten ca. 50-minütigen Gran Partita.

Neben Soldateska, Kirchen- und Staatstrara wurde die Tradition, das Publikum bei Freiluftkonzerten zu unterhalten, besonders in der Donaumonarchie mit ihren 11 staatlich anerkannten Sprachen und vielen verschiedenen Völkern zum emotionalen Bindeglied einer stets gefährdeten Identität, die 1918 zerbrach. Bis dahin jedoch herrschte von der Wiener Klassik an eine Epoche großer Musik, die sich stets dadurch auszeichnet, dass zwischen Kunstmusik und Popularmusik, zwischen professionellen Musikern und Amateuren die Übergänge fließend blieben: So schrieb etwa Schubert viele seiner Werke für exzellent spielende sogenannte Dilettanten, Johannes Brahms bewunderte Johann Strauß aufgrund seiner melodischen Phantasie, an der sich auch ein Richard Strauss für die Kennmelodie seines „Rosenkavalier“ bediente. Der Groß-Entertainer Jacques Offenbach in Paris wiederum schuf am Ende seines Lebens mit „Les Contes d’Hoffmann“ eines der bedeutendsten Opernwerke der abendländischen Musikliteratur.

Ab 1900 jedoch zerbricht zusehends diese ganz Europa kennzeichnende Einheit der Musik, in deren Schatten Hunderte Kapellmeister von Militär- und Dorfkapellen – orientiert an den strengen harmonischen und formalen Regeln der gerade aktuellen Kunstmusik – Märsche, Ouvertüren, Walzer und Polkas komponierten.

Wohl ein letzter Versuch Paul Hindemiths in Donaueschingen, von 1924 bis 1926 noch einmal für Blasmusikkapellen die Grenzen zwischen zeitgenössischem Musikschaffen und Amateuren durch eigens für sie geschaffene hochwertige Konzertmusik zu überwinden, endete in der Katastrophe des Dritten Reichs, wobei nach 1945 niemand bereit war, Hindemiths vor allem von jüdischen Komponisten wie Hans Gal oder Ernst Toch verwirklichte Idee aufzugreifen und die Werke dieser Komponisten, aber auch anderer, die Hindemiths Anliegen unterstützt hatten, wiederaufzuführen. Vielmehr kamen auch im Blasmusikland Tirol erneut jene zu Ehren, die es sich schon im Dritten Reich gut eingerichtet hatten, was einen ehemaligen Südtiroler Landeskapellmeister bei einem Vortrag vor Kapellmeistern in Innsbruck zur Unsäglichkeit veranlasste: „Was den Österreichern ein Mozart, Haydn und Beethoven, das ist den Tirolern Sepp Tanzer, Sepp Thaler und Joseph Eduard Ploner.“ Alle drei hießen Sepp und alle drei waren Nazis!

Leider hat sich an dieser qualitativen Totalverdunkelung der heimischen Bläserszene bis heute nicht viel geändert. Ein Beweis dafür ist die soeben erschienene CD des Tiroler Blasmusikverbandes, auf der neue Werke für Blasmusik von Tiroler Komponisten vorgestellt werden. Ziel dabei sei es, wie es im Booklet heißt, die Konzertprogramme der heimischen Musikkapellen, die zunehmend internationalen, dem kommerziellen Mainstream verpflichteten Verlagen ausgeliefert seien, mit Kompositionen zu bereichern, die, ganz im Sinne der oben beschriebenen österreichischen Musiktradition, eine Brücke zur Kunstmusik hin, also zu anspruchsvoller Musik für Blasorchester bauen.

[Neue Blasmusik aus Tirol

Dass dieses Ansinnen mit zwei Ausnahmen daneben geht, ergibt sich zuerst einmal aus dem Umstand, dass die an der Produktion der CD Beteiligten offenbar nicht wissen, worin die heutige Kunstmusik zwischen Avantgardegeklingel und popmusikalischem Kampf um das niedrigst mögliche Niveau zu verorten ist.

Selbstverliebt wird auch weiterhin der Unterschied zwischen professionellen Komponisten bzw. professionellen Orchestern im Gegensatz zu mehr oder weniger autodidaktischen Tonsetzern und Amateurorchestern negiert und als Preis für so viel Verliebtheit in die eigene Inkompetenz ein Sammelsurium an kompositorischer Einfallslosigkeit eingefahren. Mit Ausnahme, wie schon gesagt, eines Werks, der „Fantasie für Blasorchester und Tuba“ von Gabriel Bramböck und einer weiteren kurzen Passage, „Idylle“, aus der Suite „Durch die Zeit“ von Florian Pranger, ein einfaches Volkslied, das, weil es nicht mehr will, als es ist, nach der Erkenntnis „Schuster bleib bei deinen Leisten“ zu überzeugen vermag.

Ansonsten jedoch stammen die neuen Werke meist aus der Feder von Komponisten, Instrumentalisten und Kapellmeistern, die sich für Profis halten, weil sie von Lehrern ausgebildet wurden, die sich ebenso dafür halten, obgleich sich bei genauerer Betrachtung ihres beruflichen Werdegangs herausstellt, dass sie das Paralleluniversum des Amateurblasmusikalischen nie verlassen und selbst in diesem engen Rahmen zwischen den Bergen die internationale Entwicklung nicht mitbekommen haben.

So basiert die gesamte Instrumentation weiterhin auf einer viel zu sehr von Blechinstrumenten dominierten Orchesterbesetzung, mit einzelnen Instrumentengruppen wie dem Oboen-Register oder dem Saxophonregister wird zwecks Erzeugung eigenständiger Klangfarben kaum gearbeitet, Flügelhörner und Tenöre produzieren in ihrer Dominanz den typischen intransparenten Klangbrei einer Szene, die sich für den Nabel der Welt hält. In Sachen Harmonik überschreiten die Werke, abgesehen von einigen billigen Glocken- und Gamelan-Effekthaschereien kaum die Grenzen biederer Spätromantik und bleiben somit den Urvätern der Tiroler Blasmusik, den bereits erwähnten Ton-Grobianen Tanzer, Thaler und Ploner verpflichtet. Denn ein paar zusammengesetzte Taktarten signalisieren noch lange nicht den Anbruch der Moderne.

Der narzisstische Größenwahn des Projekts ergibt sich auch daraus, dass es selbst am Höhepunkt der Wiener Klassik, also zur Zeit der bereits erwähnten tatsächlichen Größen Mozart, Haydn und Beethoven, nicht möglich gewesen wäre, zwölf verschiedene Komponisten von Rang auf einem Tonträger zu vereinigen. Man wäre auch damals nicht umhin gekommen, sich bei den sogenannten böhmischen Kleinmeistern, dem langweiligen Dittersdorf oder Antonio Salieri zu bedienen, womit nicht behauptet werden soll, dass diese Komponisten, die immerhin ihr Handwerk verstanden, mit den Dilettanten aus Tirols Hain und Flur qualitativ zu vergleichen wären: Sie stehen haushoch über ihnen.

Damit soll aufgezeigt werden, dass das Bemühen um gute Konzertliteratur für ehrgeizige Amateurblasorchester nicht darin bestehen kann, dass die Funktionärsriege eines Dachverbands meint, sich durch eine möglichst breit gestreute Auftragsvergabe in der Blase der eigenen Szene beliebt machen zu müssen und dabei zugleich auf Kunst zu stoßen.

Große Künstler sind weder in der Literatur, noch in der Malerei und schon gar nicht in der Musik im Paket zu haben oder mit dem Subventions-Rechen einzusammeln. Sie sind in der Regel sehr selten und kommen, sofern sie sich nicht darauf beschränken, wie in früheren Zeiten Märsche, Polkas und Walzer zu schreiben wie es ein Regionalgenie wie Gottlieb Weißbacher getan hat oder auch ein Hansl Klaunzer von der Alt Matreier Tanzmusik heute noch tut, niemals aus der Blasmusikszene selbst, sondern nach ihrer Ausbildung zu professionellen Komponisten an entsprechenden Hochschulen aus dem Bereich der klassischen Musik und einer Hochkultur, wie sie – wie zu früheren Zeiten – noch immer in den zentralen Musentempeln unserer Hauptstädte auf höchstem Niveau gepflegt wird.

Diese Komponisten, von denen es auch in Tirol einige gibt, hätte man, wie  Hindemith es tat, dazu animieren müssen, für Amateurblasorchester, die sich inzwischen gern Bläserphilharmonie nennen, machbare Werke zu schreiben. Weshalb ist man nicht auf die Idee gekommen, mit einem Michael FP Huber, einem Paul Engel oder einem Christof Dienz zu sprechen? Alle drei haben bereits exemplarische Werke für Blasorchester geschrieben. Warum wurden nicht diese aus dem Archiv geholt und neu angeboten? Oder wer hat mit Thomas Larcher gesprochen? Wer mit Kurt Estermann? Mit Giorgio Moroder oder Johannes Maria Staud?

Es gäbe viele auch in unserem Land, von denen man zumindest sagen kann, dass sie wissen, was zeitgenössische Musik ist und wie Gegenwärtiges in Orchestermusik, aber auch in das Instrumentarium eines nach internationalen Maßstäben besetzten Blasorchesters umzusetzen wäre. Warum ist man, statt sie zu fragen, wieder einmal in der eigenen vollkommen uninspirierten und dilettantischen Heimatsuppe sitzen geblieben?

Die Tatsache, dass es sich bei der vorliegenden CD-Aufnahme um eine „Folge 1“ handelt, lässt Schlimmes befürchten, zugleich aber auch hoffen: hoffen, dass die für die Serie Verantwortlichen begreifen, wohin sie gehören, und dass gerade besonders engagierte Amateurblasorchester die Werke von hervorragenden professionellen Komponisten benötigen, um aus der Ecke des Dilettantischen und Lächerlichen herauszukommen und endlich auch von jenen als neue musikalische Ausdrucksform ernst genommen zu werden, welche die Hochkultur als Möglichkeit zum Distinktionsgewinn missbrauchen und daher auf die sogenannte Breitenkultur mit Verachtung herabschauen. 

Man sollte ihnen nicht weiterhin diese Freude gönnen.

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Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor und Journalist, lebt bei Innsbruck. Alois Schöpf schreibt seit 37 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 28 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Limbus: Vom Sinn des Mittelmaßes (2006), Heimatzauber (2007), Die Sennenpuppe (2008), Platzkonzert (2009), Die Hochzeit (2010), Glücklich durch Gehen (2012), Wenn Dichter nehmen (2014), Kultiviert sterben (2015) und Tirol für Fortgeschrittene (2017). Zuletzt erschien in der Edition Raetia Bozen gemeinsam mit dem Fotografen und Regisseur Erich Hörtnagl "Sehnsucht Meer, Vom Glück in Jesolo", die italienische Übersetzung wurde zeitgleich präsentiert. Und es erschien, wieder bei Limbus, "Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen". Schöpf ist auch Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte und leitete das erfolgreiche Bläserfestival fünfundzwanzig Jahre lang bis 2019.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Karlheinz Töchterle

    Lieber Alois!
    Ich finde Deine Kritik bei „unserer“ Gattung Blasmusik wieder einmal zu scharf und zu dezidiert. Dein kompetenter Umblick ist ja wirklich eindrucksvoll, gerade der könnte aber auch zu mehr Gelassenheit und Toleranz führen, zumal Du ja die Mühen der Ebene aus eigener Anschauung in mehreren Perspektiven kennst. Und Deine wiederkehrenden Seitenhiebe auf Tenor- und Flügelhorn treffen mich nicht nur durchaus persönlich. Als Kenner brauche ich Dir ja nicht zu sagen, was diese ‚breiigen‘ Tonerzeuger in unserer Musik auch bringen. Kann für Dich nur noch ein holzlastiges und im Blech scharf- und angloamerikanisch tönendes Klangbild bestehen?
    Ich gestehe, die CD noch nicht gehört zu haben. Vielleicht fällt mein Urteil danach ja auch etwas anders aus.
    Herzliche Grüße

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