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Alois Schöpf
Jauchzet! Frohlocket! Auf, preiset die Tage (J. S. Bach / Picander, Weihnachtsoratorium)
Österreichs katholisch indoktrinierte Eliten sind schockiert über einen Verfassungsgerichtshof, der sich der Aufklärung und dem Humanismus verpflichtet fühlt.
Essay

Just am 11. Dezember 2020, am internationalen Tag der Menschenrechte, entschied der Verfassungsgerichtshof in Wien, dass das Verbot der Beihilfe zum „Selbstmord“, wie es der §78 des Österreichischen Strafgesetzbuches bisher festlegte, verfassungswidrig sei. Ausgangspunkt der Argumentation der österreichischen Verfassungsrichter ist dabei die Bundesverfassung, wie sie in Folge des Vertrags von Saint-Germain 1920 festgeschrieben wurde. Danach hat der Staat die Pflicht, „allen seinen Einwohnern ohne Unterschiede der Geburt, Staatsangehörigkeit, Sprache, Rasse oder Religion vollen und ganzen Schutz von Leben und Freiheit zu gewähren.“ Aus diesen grundrechtlichen Gewährleistungen folgt nach Ansicht des Richterkollegiums auch das Recht des einzelnen auf freie Selbstbestimmung, sein Leben in Würde nach eigenen Vorstellungen und Überzeugungen zu beenden. Dafür darf in Zukunft auch die Hilfe Dritter in Anspruch genommen werden.

Der Verfassungsgerichtshof geht in seiner Urteilsbegründung ausführlich auf die in der öffentlichen Diskussion häufigsten Einwände gegen eine Liberalisierung der Sterbehilfe ein und betont, dass die Möglichkeit, Art und Weise seines Lebensendes von nun an selbst zu bestimmen, in der Realität dazu führen werde, dass Menschen länger leben und von einem grausamen Akt gegen sich selbst (mit entsprechender Traumatisierung der Hinterbliebenen) Abstand nehmen können, da sie die Entscheidung, sich selbst zu töten, aufgrund des Verbots wie bisher nicht mehr in einem noch vergleichsweise gesunden Zustand verwirklichen müssen, sondern bis zuletzt zuwarten können. Ebenso argumentiert der Verfassungsgerichtshof, dass die Möglichkeit der Patientenverfügung, wie sie im Ärztegesetz festgehalten wird, schon bisher einen Akt der Selbstbestimmung und der damit einhergehenden ärztlichen Mithilfe darstellt, die im Hinblick auf eine Beihilfe zum Suizid nicht zugleich kriminalisiert werden könne. Der flächendeckende Zugang der Bevölkerung zu Palliativmedizin wird zwar eingefordert, zugleich jedoch klargestellt, dass durch die Existenz von Hospizen und Palliativmedizin das Recht auf Selbstbestimmung, diese Angebote auch auszuschlagen, respektiert werden müsse. Zuletzt fordert der Verfassungsgerichtshof den Staat dazu auf, Missbrauch zu verhindern und sicherzustellen, dass nur Personen, die nach reiflicher Überlegung und voll geschäftsfähig zum Entschluss kommen, ihr Leben zu beenden, Beihilfe gewährt werden dürfe. Die immer wieder vorgebrachte Befürchtung von kirchlichen Kreisen, alte und gebrechliche Menschen würden dazu gedrängt, aus dem Leben zu scheiden, obgleich sie dies nicht wollen, ist also eine böswillige Unterstellung, die den alten Menschen ihre Mündigkeit abspricht, der jungen Generation kriminelle Energie und jenen, die in Zukunft bereit sein werden, Beihilfe zum Suizid zu leisten, Mittäterschaft unterstellt. Im Übrigen genügt es festzuhalten, dass der Verfassungsgerichtshof ausdrücklich erkannt hat, dass die Verleitung zum Suizid weiterhin strafbar bleibt.

Die mit Spannung erwartete Entscheidung der Verfassungsrichter löste umgehend eine Schockwelle aus: So faselte selbst der Jesuitenschüler Tarek Leitner, der es ansonsten nicht lassen kann, bei Interviews seine umfassende Bildung zur Schau zu stellen, in den Abendnachrichten des ORF über größte Schwierigkeiten, die nun dem Gesetzgeber bevorstünden, und übergab zwecks Kommentars an seine Kollegin von der Religionsabteilung, die, wie nicht anders zu erwarten, umgehend eine vom Staat nunmehr legitimierte, uralte österreichische Tradition der Ahndelvergiftung beklagte. In dasselbe Nebelhorn, die Alten und Kranken würden nun von den Jungen bedrängt, sich, um den Pflege- und Finanzbedarf niedrig zu halten, ins Jenseits befördern zu lassen, stießen mit noch grimmigerer Miene als sonst die beiden Damen Edtstadler und Maurer, bei der Ersteren als in ÖVP-Diensten befindlich nicht weiter verwunderlich, bei der Zweiteren sehr wohl, sofern man bedenkt, dass auf Basis von Umfragen eine große Mehrheit der Grünwähler für eine Liberalisierung der Sterbehilfe eintritt. Besonders bestürzt zeigte sich naturgemäß der geistliche Stand, der von einem Kulturbruch sprach, was durchaus korrekt ist, sofern man das Urteil des Verfassungsgerichtshof als der Humanität verpflichtet einstuft, wodurch im Hinblick auf den österreichischen Katholizismus von einem längst fälligen Bruch mit einer Unkultur theologischer Unmenschlichkeit gesprochen werden kann. Im Dienste einer mittelalterlichen, animistischen Seelenlehre bevorzugt der Klerus nämlich in den meisten medizinethischen Fragen von Geburtenkontrolle über Abtreibung bis hin zur pränatalen Diagnostik zugunsten der heilen Lehre das menschliche Leid.

Nicht nur ob der drohenden Lebensgefahr für die Alten, sondern auch ob des drohenden Geschäftsentgangs für die eigene Klientel geriet auch Thomas Szekeres, Präsident der Österreichischen Ärztekammer, in Panik, wenn er vermeldete, nie und nimmer dürften in Österreich Sterbehilfeorganisationen wie etwa in der Schweiz zugelassen werden. Vielleicht täte es dem Standesfunktionär ganz gut, wenn er zur Kenntnis nähme, dass beim 20-Jahr-Jubiläum der Sterbehilfeorganisation „Exit“ der Präsident des schweizerischen Bundesrates als Ehrengast anwesend war. Fehlt im Reigen der Klagenden nur noch die SPÖ Parteivorsitzende Rendi-Wagner, die sich darüber freute, dass die Tötung auf Verlangen von den Verfassungsrichtern nicht genehmigt worden sei, eine klare Themenverfehlung, da die Frage vom Gericht erst gar nicht behandelt, sondern, da von den Klägern als zu eng gefasst, zurückgewiesen wurde, also weder in die eine noch in die andere Richtung eine Entscheidung erfolgte.

Zu diesem allgemeinen Lamento der Elite aus Politik, Kirche und Medizin gesellten sich naturgemäß die Medien in bester habsburgischer Tradition. In den allermeisten Leitartikeln wurden im progressivsten Fall die Bedenken im Hinblick auf den möglichen Missbrauch pflichtschuldigst repetiert, in den konservativeren Varianten gleich eine Stellungnahme der jeweils ortsansässigen Bischöfe oder ihrer ideologischen Escort-Damen Klasnic, Merkens oder Kummer eingeholt.

Dieser Kontrast zwischen dem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs und dem Jammer über einen in Wahrheit großartigen Fortschritt in Richtung Liberalisierung, Trennung von Kirche und Staat, Selbstbestimmung, Freiheit und Menschlichkeit legt unweigerlich die Frage nahe, was die Gründe dafür sind, dass Österreichs Eliten sich in Schmerzen winden, als seien sie bei verbotenem Denken ertappt worden – ganz im Gegensatz zu den konzis argumentierenden Richterinnen und Richtern des Verfassungsgerichtshofs, aber auch ganz im Gegensatz zu einer immer wieder statistisch erhobenen Mehrheit der Bevölkerung, die für eine Liberalisierung der Sterbehilfegesetze eintritt. Abgesehen von diesem psychologischen Aspekt ist die Frage auch deshalb unausweichlich, weil trotz des Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofs vieles darauf hindeutet, dass durch hemmende gesetzliche Regularien das Verbot der Beihilfe zum Suizid de facto in gleichsam modernisierter Weise wiedererrichtet werden soll, eine Vorgangsweise, deren Folgen erst richtig einzuschätzen sind, wenn man bedenkt, dass etwa in den Niederlanden – an der Richtigkeit des Arguments ändert sich durch seine Wiederholung nichts – pro Jahr 6500 Personen von der Möglichkeit der Sterbehilfe Gebrauch machen. Daraus jedoch folgt, dass, umgerechnet auf die Bevölkerung Österreichs, ca. 3000 Personen in Österreich die Möglichkeit bis dato verwehrt wurde und weiterhin verwehrt werden soll, selbstbestimmt und in Würde zu sterben, sie also entgegen ihrem Willen einen qualvollen oder von ihnen selbst als demütigend empfundenen Tod erleiden müssen.

Dass dieser menschenrechtliche Megaskandal überhaupt möglich ist, resultiert schlicht daraus, dass bislang, ganz im Gegensatz zu den Behauptungen unserer religiösen Märchenerzähler, noch niemand aus dem Jenseits zurückkehren konnte, um sich über die Foltermethoden zu beschweren, denen er bei seinem Sterben ausgesetzt war. Alle, die versuchen, nicht nur den mehrheitlichen Willen der Bevölkerung, sondern auch das Urteil des Verfassungsgerichtshofs wiederum in sein Gegenteil zu verkehren, müssen sich daher die Frage gefallen lassen, ob sie sich nicht des Staatsterrorismus schuldig machen, wenn sie als Politiker und Politikerinnen, geistliche Würdenträger oder hohe Funktionäre anerkannter Institutionen durch die bewusste Verabschiedung den Menschenrechten widersprechender Durchführungsgesetze das staatliche Gewaltmonopol des Staates zu benützen versuchen, um die Inhalte einer totalitären, durch den Erkenntnisstand der Gegenwart vollkommen überholten Ideologie durchzusetzen. Dies wäre jedenfalls dann der Fall, wenn es über Einfluss der Kirchen, der Ärzteschaft und der von ihnen indoktrinierten bzw. abhängigen Klientel von Politikerinnen und Politikern gelänge, die Rahmenbedingungen, unter denen Sterbehilfe in Zukunft zulässig sein muss, so eng zu fassen, dass das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs auf diese Art wieder aus der Welt geschafft würde.

Abgesehen von dieser Gefahr, die, ähnlich wie in Zeiten der Abtreibungsdebatte, von den liberalen Kräften des Landes abgewehrt werden muss, ist, um auf die Gründe des erstaunlichen Jammers selbst einzugehen, die intellektuelle Unbedarftheit, mit der auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs reagiert wurde, erschreckend und unterschreitet das ansonsten übliche Niveau des öffentlichen politischen Diskurses im Lande bei weitem. Die hilflose Flucht der politischen, medizinischen und medialen Eliten in von kirchlicher Seite bereitgestellte Frames und konsequent am Thema vorbeischwätzende Argumente zeugt von einer beschämenden Hilflosigkeit dem Thema des Scheiterns, des Todes, der begrenzten Kräfte und des Lebensendes gegenüber. Dies wiederum ist nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, welche Leistungen der Selbstdisziplinierung und einer nur durch grenzenlosen Ehrgeiz bewältigbaren Verstellung und Verstümmelung der Person im Zeitalter der radikalen Selbstvermarktung von all jenen, die nach oben wollen, abverlangt werden. Es ist aber auch nicht verwunderlich im Hinblick auf eine Medizin, die es gewohnt ist, sich in Heilerfolgen zu sonnen und es als inakzeptable Niederlage empfindet, mit dem letztendlichen Scheitern jeglichen austherapierten Leidens bzw. Lebens konfrontiert zu werden. Es ist in den narzisstischen und hart an ihrer Selbstoptimierung arbeitenden Köpfen von Politikern und zusätzlich feministisch hochgerüsteten Politikerinnen, von Ärztefunktionären und Ärzten, aber auch durch ihre Fähigkeit zum verbalen Schnellbiss in Leitungsebenen gehievte Medienleute der Tod somit ein Thema, über das nicht nachgedacht werden darf, auch wenn das Ende, das uns alle erwartet, schrecklich ausfallen kann, eine reale Möglichkeit und eine Ursache berechtigter Ängste, die in weiser Voraussicht zu verhindern Aufgabe der Politik und des Arztberufs wären.

Der Verdacht, das Nachdenken über den Tod laufe zwangsläufig auf eine narzisstische Verletzung von Leuten hinaus, deren oberstes Ziel die Karriere ist, ergibt sich auch aus der Beobachtung, dass die meisten jener, die etwa in der Österreichischen Gesellschaft für ein humanes Lebensende, ÖGHL, oder auch bei der schweizerischen DIGNITAS mitarbeiten, von einer jeweils ganz persönlichen Konfrontation mit dem Tod berichten können, eine schmerzhafte Erfahrung, die sie zuletzt dazu bewegte, sich für die Absicherung dieser letzten Freiheit des Menschen im Sinne von Selbstbestimmung und Leidensverminderung einzusetzen. Es ist daher eine Mindestanforderung an unsere sich bislang noch durch Denkverweigerung blamierenden Eliten, eine ähnliche Empathie zu entwickeln. Wenn Sie gelänge, würden nämlich die Reaktionen auf den Spruch des Verfassungsgerichtshofs weniger beschämend ausfallen und vielmehr berechtigte Freude über einen großen Fortschritt im Lande an ihre Stelle treten.

Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor und Journalist, lebt bei Innsbruck. Alois Schöpf schreibt seit 37 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 28 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Limbus: Vom Sinn des Mittelmaßes (2006), Heimatzauber (2007), Die Sennenpuppe (2008), Platzkonzert (2009), Die Hochzeit (2010), Glücklich durch Gehen (2012), Wenn Dichter nehmen (2014), Kultiviert sterben (2015) und Tirol für Fortgeschrittene (2017). Zuletzt erschien in der Edition Raetia Bozen gemeinsam mit dem Fotografen und Regisseur Erich Hörtnagl "Sehnsucht Meer, Vom Glück in Jesolo", die italienische Übersetzung wurde zeitgleich präsentiert. Und es erschien, wieder bei Limbus, "Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen". Schöpf ist auch Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte und leitete das erfolgreiche Bläserfestival fünfundzwanzig Jahre lang bis 2019.

Dieser Beitrag hat 7 Kommentare

  1. Christine Kiesenhofer

    Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage,
    Rühmet, was heute das Höchstgericht getan!
    Lasset das Zagen, verbannet die Klage,
    Stimmet voll Jauchzen und Fröhlichkeit an!
    soweit der adaptierte Bach-Text

  2. Rainer Haselberger

    Ich verstehe die Reaktion der Grünen nicht, die eigentlich im Sinne ihrer Wähler das VfGH-Urteil begrüßen müssten, aber in überschießendem Gehorsam in den Chor ihres Koalitionsmeisters einstimmen und plötzlich zu Kerzerlschluckern werden!
    „Hände falten – Goschn halten“ ist scheinbar das Motto der gesamten Regierung.

  3. Reinhard Nicolaus

    Das gleiche Drama mit ähnlichen Protagonisten spielt sich in Deutschland ab. Die beteiligten Politiker, religiöse Fundamentalisten, überhebliche Ärztefunktionäre und Journalisten spielen sich als Vormund der Bevölkerung auf. Auch hier bei uns wird verzweifelt nach Wegen gesucht, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts durch trickreiche rechtliche Gestaltung weitgehend auszuhebeln und zunächst einmal seine Anwendung so lange wie möglich hinauszuzögern. Ich vermisse bei uns eine so wortgewaltige Stimme gegen Indoktrination und Unvernunft wie sie Österreich in Alois Schöpf hat. Es ist eine Freude, ihr zu lauschen. Einziger kleiner Kritikpunkt: Der Seitenhieb gegen den Feminismus war m.E. unnötig.

  4. Horst Volkhammer

    Auch in Deutschland sollte, wenn es denn einmal zu entsprechenden Gesetzestexten kommen muss, strengstens gegen eine Verwässerung durch die nicht müde werdenden „Eliten“ vorgegangen werden; als wichtigste Schlussfolgerung aus dem durch und durch gelungenen Kommentar.

  5. Michael Ludwig

    Alois Schöpf trifft genau des Pudels Kern. Danke für diese in epischer Breite ausgeführten Fakten und weiterführenden Gedanken!
    Michael Ludwig

  6. Alexander Masoner

    Sehr geehrter herr schöpf, super artikel – genau so ist es – leider. Dass in dieser sogenannten Elite ein Meinungsumschwung in der nächsten Zeit stattfindet, geht aus meiner Sicht gegen Null.
    Schöne Grüsse und einen guten Rutsch ins neue Jahr
    Alexander Masoner

  7. Edda Böhm

    Vielen herzlichen Dank für diesen ausführlichen Artikel, der mir für so manche widerspenstigen Zeitgenossen stringente Argumente liefert!
    Danke und liebe Grüße aus Wien
    Edda Böhm

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