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Helmuth Schönauer
Das Wilde in uns
Stichpunkt

Die heute gereiften Jahrgänge gelten als die letzten Glücklichen, die in der Kindheit noch das Wilde spüren konnten, indem sie auf Brachen und Schotterbänken ohne Aufsicht spielen durften.

Die meisten Tiersorten von damals, mit denen man Freundschaft geschlossen hatte, sind nicht nur als Individuum gestorben und begraben, sondern als ganzes ausgestorben.

So werden die klassischen Bestimmungsbücher über Vögel oder Insekten mit jeder Auflage dünner, weil immer weniger Arten zu beobachten sind. Geblieben ist hingegen eine Sehnsucht nach dem Wilden, die in den Medien und in der Politik gleichermaßen bedient wird.

Unter dem Titel „wild“ gibt es mittlerweile ganze Netz-Serien zu sehen, worin in Verbindung mit einer geographischen Bezeichnung die letzten Tiere vor dem Aussterben, die letzten Flussmeter vor dem Aufstauen und die letzten Moore vor der Trockenlegung gezeigt werden.

„Wildes Kühtai“ bringt etwa einen letzten Flecken mit Heumahd ins Bild, wobei am Feldrand schon die Einpflockungen für die nächste Piste zu sehen sind.

„Wilder Wörthersee“ zeigt den letzten freien Quadratmeter Seegrund, der zwischen den Grundstücken von Waffenherstellern und Kaufhaus-Erbinnen übrig geblieben ist. Aber der Zugang zum See ist bereits so eng, dass sich nur eine Kamera ans Wasser vorschieben lässt, der Bauch eines Kameramannes bliebe bereits in der Abzäunung stecken.

Selbst das „wilde Osttirol“ kriegt man nur mehr in ausgewählten Zonen des Nationalparks vor eine Kamera, damit diese mit unschuldigem Blickwinkel etwas abfilmt, was wir für authentische und unverbrauchte Natur halten.

Die Serien über das Wilde stoßen nicht nur an die Grenzen des noch Vorhandenen, sondern werden auch von Minen, Bombentrichtern und militärischen Wracks eingegrenzt. Echte Wildnis gibt es nur mehr dort, wo ein Krieg den Menschen ausgesperrt hat.

So ist auch das letzte Wilde in Europa sinnigerweise der ehemalige Todesstreifen des Kalten Krieges, wo unter dem Titel „das grüne Band“ alles geschützt und gerettet wird, was man andernorts schon ausgerottet hat.

Die Sehnsucht nach dem Wilden überfällt vor allem jene, die es nie gesehen haben. Zum Unterschied von der Biologie, wo das Wilde positiv konnotiert ist, weil es als gefährdet und schützenswert empfunden wird, gilt „wild“ in der offiziösen Politik als verwerflich, wenn nicht gar als pervers.

Als wilde Abgeordnete bezeichnet man jene Mandatare, die sich von der Partei entfremdet haben, die sie einst ins Gremium bestellt hat. Als erster zumindest optisch wilder Abgeordneter gilt Josef Buchner, der 1987 von den Grünen geschasst worden ist und seinen Einmann-Klapptisch im Foyer des Parlaments hat aufstellen müssen.

Seither fallen regelmäßig Sünder vom wahren Parteiglauben ab und sitzen dann isoliert und Viren-sicher in ihren Klappsesseln in der letzten Reihe.

Überdurchschnittlich stark sind die Wilden unter den Grünen vertreten, wofür es zwei Gründe zu geben scheint. Einmal ist es der Individualismus, um nicht zu sagen die Egomanie, die das Hauptmotiv für den Eintritt in diese Partei ist. Zu den Grünen geht man nicht, weil man etwas bewerkstelligen möchte, sondern weil man sich selbst verwirklichen will.

Und zum anderen befördert die Sehnsucht nach naturnaher Einsamkeit die spätere Isolation. Die meisten dieser Einzelgänger haben aus ihrer von Elterndrohnen überwachten Kindheit die Erfahrung mitgenommen: Wenn ich allein spiele, bin ich wild und frei und ganz bei mir!

In Tirol gibt es schon seit längerer Zeit zwei wilde Abgeordnete der Grünen, die noch nicht richtig mitgekriegt haben, wie „wild“ sie eigentlich sind.

Mit dem Innsbrucker Bürgermeister Georg Willi und der Tiroler Landeshauptmann-Stellvertreterin Ingrid Felipe sind im Land gleich zwei Spitzenmanager aufs politische Abstellgleis gelangt, indem sie sich von der offiziellen Grünen Partei entfernt haben.

Während es sich der Bürgermeister als Solokämpfer und Eigenbrötler mit allen im Gemeinderat vertan hat und als Einmannshow seine Auftritte am Fahrrad inszeniert, klammert sich die Landesrätin wie ein kleines Kind an die Waden des Landeshauptmanns, nachdem sie mit ihrer Grünen Partei gebrochen hat. Mit dieser soll sie angeblich nur mehr dienstlich verkehren. Beide haben sich mit ihrer überstarken Persönlichkeit nicht nur von der Basis, sondern auch von den Wählern entfernt.

Als Wähler ist man es gewöhnt, dass nicht alle imstande sind, jenes Leben selbst zu führen, das sie vor der Wahl den anderen versprochen haben. Und so schenken sie den Wilden halt eine pragmatische Zuneigung, immerhin versinnbildlichen sie etwas, was bald ausgestorben sein wird.

Denn eines ist auch gewiss: Wilde haben ein kurzes politisches Leben, kaum jemand hat als Ausgescherter die nächste Wahl überlebt.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Ralph Holtfeuer

    Seit die Grünen an den Pfründen der Macht mitkosten dürfen, ging es mit ihren ursprünglichen Beweggründen immer mehr bergab. Freda und Günther rotieren ja schon seit Jahren in ihren Gräbern. Und seit dem in Innsbruck ein Bürgermeister diktatorische Anwandlungen hat, wird diese Partei immer mehr zur Lachnummer.

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