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Helmuth Schönauer
Verdrehter Tiroler Abend
Stichpunkt

1.
Im Krieg und in der Revolution gelten Satiren als geschmacklos, weil die Geschehnisse am Erdboden immer die Ausmalungen am Papier übertreffen. Aus diesem Grund hat Karl Kraus, der Meister der Floskelenttarnung, für seine Darstellung des Ersten Weltkriegs das Mars-Theater gewählt.

Im Stück „Die letzten Tage der Menschheit“ (1915‒1922) wird aus dem ungeheuren Geschwätz der Militärs, Politiker und Journalisten eine nicht enden wollende „Tagesschau“ zusammengesetzt. (Das österreichische Format „Zeit im Bild“ ist immer zu putzig, wenn es um große Sachen von Welt geht.)

Die Leistung dieses Stückes liegt darin, dass es einsieht, dass es zeitgleich mit der Wirklichkeit nicht aufgeführt werden kann. Die Protagonisten sprechen zwar die Sätze im Jetzt und direkt aus der Zeitung heraus, aber sie sprechen, als ob sie vor 2000 Jahren in einem griechischen Theater säßen. Die Figuren Optimist und Nörgler haben daher etwas von einem österreichischen Chor an sich, der auf Griechisch macht.

2.
Dieser Tage ändert sich unter dem Stichwort Afghanistan stündlich die Lage, die ohnehin immer eine andere ist, als wir in Europa seit zwanzig Jahren davon berichtet kriegen.

Neben Fassungslosigkeit und Emotion beim Konsumieren von Nachrichten sollten die direkt Betroffenen nicht auch noch verletzt werden, indem unbedacht Bilder und Begriffe bemüht werden, die der aktuellen Lage nicht entsprechen.

So wie das Mars-Theater von Karl Kraus einen Zeitsprung beinhaltet, um das Gesagte aus der Wirklichkeit zu holen und nach Entlarvung dieser wieder zurückzugeben, haben wir uns in der Erwachsenenbildung des vorigen Jahrhunderts immer wieder darum bemüht, für die Darstellung von Krisen ein künstlerisch erträgliches Diskussionsformat zu finden.

3.
Im alten Jahrhundert konnte ich bei Veranstaltungen manchmal mein „Projekt Tirolerabend“ vorstellen, das je nach Aufführungsort mehr oder weniger Gelächter erzeugte, obwohl es kein Kabarett, sondern ein Bildungsprojekt war.

Besonders gut kam der Tirolerabend in Franken an, weil diese ähnliche Erfahrungen mit den Voralpenbayern gemacht hatten wie die Tiroler. Noch heute jammern sie bei jeder Gelegenheit, dass man ihnen das Frankenschwert aus Nürnberg entwendet und nach München geschickt habe.

Im „Tirolerabend“ wurden wortlos Filmausschnitte gezeigt, wie bärtige Männer in Filzhüten am Bergisel um ihr Heiligtum herumstehen und in die Luft schießen, während einer ihrer Anführer mit einem Tablett voller Kekse durch die Reihen geht, Hände schüttelt und diese glänzenden Dinger an die Brust heftet. Die Frauen bekommen nichts an die Brust, vermutlich aus Gründen der sexuellen Hygiene, da niemand der lüsternen Männer es wagt, die Kekse bei Tageslicht in fremde Busen zu stechen.

In einer unauffälligen Sequenz ist zu sehen, wie das Heiligtum, die Statue eines gewissen „AH“, frisch gesprengt am Boden liegt, und wie die herumstehenden Kinder lachen, weil die Statue innen hohl ist. Diese Einstellung von lachenden Kindern wird öfters hintereinander gezeigt, um zu beweisen, dass die Sprengmeister harmlose Kerle sind, denen man bei Sonntagsreden vertrauen darf.

Im zweiten Teil des Tiroler-Abends werden Dokus über die illegalen Schneefelder der „Tiroler Taliban“ gezeigt, aus denen sie ihr Einkommen lukrieren. Teils sind diese Gebilde mit der gleichen Glyzerin-Kraft in die Felsen gesprengt, mit der man einst im Ersten Weltkrieg den legendären Pasubio in die Luft gejagt hat.

Tagsüber haben auf diesen Filmen die Taliban die Haare nach hinten gebunden, sie lachen viel, prosten einander zu und schieben Sessel unter die Ärsche von Touristen, die manchmal schon wieder daraus herausfallen, noch ehe sich die Sitzgondel in Bewegung gesetzt hat. Im Hintergrund laufen ständig Kanonen, aus deren frischer Munition ein Meister manchmal eine Probe nimmt.

Im dritten Teil gibt es Ausschnitte aus dem Leben der Touristen zu sehen, die mehr oder weniger angetrunken und eingeraucht an diversen Pools sitzen oder in sogenannten Ausgreif-Stationen, wobei sie die Genitalien der Umstehenden malträtieren und Grunzlaute von Glück ausstoßen.

Während dieses Kulturprojektes kann das Publikum nur mit Mühe unterscheiden, ob die Filmausschnitte aus einem Untergrundkanal Afghanistans stammen oder von offiziellen hiesigen Tourismuskanälen.

4.
Aus den Publikumsreaktionen lassen sich seltsame Analogien und Verbindungen ablesen.
– Das also wäre aus Tirol geworden, wenn Andreas Hofer, ein frommer Gastronom und Feind der Aufklärung, nicht besiegt worden wäre.
– Obwohl von der offiziellen Politik geächtet und im Stich gelassen, ist er zum Liebling der Bevölkerung geworden.
– Von den Frauen ist hier wie dort nichts zu sehen, man blendet höchstens in einem Textstreifen ein, dass sie in Tirol etwa die Hälfte der Männer verdienen sollen, dafür aber Tag und Nacht im Hoteldirndl herumhüpfen müssen.
– Am Schluss des Tiroler-Abends ist meist eine Luftbrücke über Kranebitten zu sehen, auf der frisches Touristenfleisch eingeflogen wird. Wann immer man eine Luftbrücke sieht, kommen Bilder aus Kabul oder Kranebitten als Analogie hoch.
– Aus dem Stoff der „Tiroler Taliban“ hat sich allmählich der Tirolerabend entwickelt, wie er bis zur Jahrtausendwende tapfer vorgeführt worden ist.
– Heute noch sind Elemente des Tirolerabends im sogenannten „landesüblichen Empfang“ enthalten.

(In Erinnerung ist mir ein Franke aus dem hyper-katholischen Bamberg geblieben, der mir gratulierte und meinte: Seids froh um euren Tirolerabend, wir Franken haben nichts Ähnliches und müssen deshalb bei jeder Zusammenkunft fressen und saufen!)

5.
Nach Nine-Eleven war es aus mit dem seltsamen Projekt, es war angesichts des Terrors allenthalben nicht mehr möglich, mit kulturellen Überlegungen auf Themen wie Hegemonie, Identität oder Globalisierung zu reagieren. Die Weltallianz ist in Afghanistan einmarschiert und hat vermutlich auch unsere Sprache und Empfindsamkeit für solche Themen verändert.

Ab und zu blitzt noch etwas vom Projekt „Tirolerabend“ auf, wenn etwa bewaffnete Gotteskrieger in der Moschee neben dem Prediger stehen, und man erinnert ist, wie noch vor kurzem ein Pfarrer in Tirol Zores kriegte, weil er die bewaffneten Schützen nicht zur Mette lassen wollte.

An anderer Stelle erinnert sich jemand an den Olympia-Widerstandskämpfer Karl Schranz, der mehrfacher Kandahar-Sieger ist.

Natürlich gibt es da eine aufklärende Geschichte dazu, aber man sollte bedenken, dass auch wir Tiroler durchaus Talibanische Gene in uns tragen, um es pathetisch zu sagen und die Grausamkeit für einen Satz kleinzureden.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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