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Ronald Weinberger
Es gibt Anfangloses.
Kosmische Überlegungen

Das Endlose kennen wir alle. Ein Begriff, der zumeist Unangenehmes impliziert. Ob endlose politische Debatten, eine endlose Hitze, endlos lange Kriege, eine als endlos empfundene, sprich andauernde Krankheit (an deren Ende womöglich schlussendlich das endgültige Ende steht), ein endlos langer Artikel (sic!) und so weiter und so fort, was schließlich ebenso etwas schier Endloses bezeichnet.

Kurz, das Endlose ist uns vertraut. Selbst das endlose, sprich ewigliche, Hallejuja auf Wolke 7, das denjenigen in Aussicht gestellt wird, die sich in ihrem Leben in religiöser, genauer gesagt christlicher Hinsicht brav verhalten haben und ergo mit einer ewigen Existenz nach ihrem leiblichen Hinscheiden bedacht werden, vermag die wenigsten von uns in Hoch-, eher in Endzeitstimmung, zu versetzen. Eine endlose Weiterexistenz und das damit verbundene ewige Frohlocken- und Jauchzensollen ist doch, nach genauerem Durchdenken, eine ultimate Strafe, nicht wahr?


Nun zum Anfang!

“Im Anfang erschuf Gott Himmel und Erde“ heißt es anfangs (Genesis) in dem am häufigsten gedruckten und veröffentlichten schriftlichen Werk der Welt. Allgemeiner ausgedrückt bedeutet das: Alles fängt irgendwann an. Das ist so klar wie Kloßbrühe, wie die nördlich des Weißwurstäquators in Deutschland beheimateten und ob ihrer Aussprache und ihrer von uns zumindest angenommenen Arroganz von uns Alpenrepublikanern argwöhnisch betrachteten, ja bisweilen sogar bemitleideten menschlichen Mitgeschöpfe ab und an zu sagen pflegen.

Aber auch für uns ist das mit dem Anfang “klar“. Das sagt uns doch der in den Himmel gelobte, von dort indes nicht immer zu allen von uns herabgestiegene Hausverstand. Dabei sollten wir allein schon deswegen gewarnt sein, da wir doch x-mal den Satz “Was war früher, die Henne oder das Ei?“ vernommen haben, und die korrekte Antwort darauf, was denn von den beiden nun am Anfang (?) stand, in aller Regel nicht zu geben vermögen.

Nichtsdestotrotz und beinahe trotzig raunt einem der oftmals dienliche, einen dennoch häufig genug aufs Glatteis führende und eben so genannte Hausverstand ein, man solle sich mit solchen Spitzfindigkeiten bloß nicht abquälen, denn es gälte selbstverständlich und immer, dass alles, aber wirklich auch Alles, einen Anfang haben müsse.


Halt! ruft da…

leider nur gelegentlich, das logische Denkvermögen quälgeisternd dazwischen: „Weshalb ist denn dann um alles in der Welt für Gott kein Anfang vorgesehen?“ Es existiert ein anfangloser Gott, so ist es doch, nicht wahr? Dieses gelegentliche Dazwischenfunken der Logik nehmen freilich kaum Christenmenschen oder andere dem Monotheismus anhängenden “homines sapientes“(?) wahr, sondern fast nur diejenigen, die den Gottesglauben als mehr oder minder bedenkliche oder auch ridikulöse Ausgeburt der Fantasie abtun. Anders ausgedrückt: Für Gläubige wird Gott zweifelsohne anfanglos sein, denn sonst kämen für diese Leute gar sündhafte Überlegungen und Schlussfolgerungen ins Spiel.

Aber ich soll mich hüten, vom Thema abzuschweifen. Mein Bestreben lautet nämlich, Sie davon überzeugen zu wollen, dass die Grundsubstanz unseres Seins, in dem es zugegeben von vielerlei Anfängen und noch mehr Enden nur so wimmelt, womöglich “anfanglos“ ist. Und was diese Grundsubstanz denn ist, will ich Ihnen nunmehr ausklamüsern. Wozu habe ich denn – laaang ist’s her, dass ich damit anfing und 1 Dezennium ist’s her, dass ich es enden ließ – ein Astronomiestudium absolviert und eine Jahrzehnte währende Tätigkeit in Astronomie an der Uni Innsbruck hinter mich gebracht?


Religion und Astronomie

Neben der Religion ist die Astronomie das zweite Großgebiet, das sich unter anderem um das Woher, das Warum, sodann aber auch um das Wie von vielem Grundsätzlichen kümmert. Mit einem riesengroßen Unterschied zu den religiösen Gefilden: Die Naturwissenschaft Astronomie basiert auf dem Bestreben, belegbares “Wissen“ zu erlangen, abzusichern und zu mehren, wohingegen ihr Pendant namens Religion darauf ausgerichtet ist “Glauben“ zu erwecken, zu fördern und zu erhalten, auch gemäß des Mottos “wer glaubt, wird selig“. Glauben versus Wissen, zwei gar nicht so uralte Gegenspieler…

Wann und wie gestaltet war der Anfang, als sich unser Planet “Erde“ zu drehen begann? Der „Drehbeginn“ also? Dazu sollten Sie wissen – Achtung, ich fange jetzt an, heftig zu schulmeistern -, dass sich im Weltall alles, aber wirklich alles, von winzig kleinen bis hin zu gigantisch großen Himmelskörpern, bewegt. Langsam gegenüber der Umgebung oder rasend schnell, ist einerlei. Unsere Planeten, auch die Sonne, wurden ja aus gewissermaßen herumstreunenden winzigen Staubkörnern und Gasteilchen, die vor allem (soll heißen: längst nicht nur!) mittels der Grundkraft Gravitation zueinanderfanden und an Größe zulegten, gebildet. Ebenso unter der Herrschaft des Drehimpulses, der stets eine signifikante Rolle einnahm und einnimmt.

Der kurzen Rede endlicher Sinn und Schlussfolgerung: Für unsere Erde (und das gilt wohl für alle Trillionen oder gar Trilliarden Planeten im All, genauso für sämtliche Sterne, Kometen, Asteroiden, Monde usw.!) gab es NIE einen Anfang, an dem sie sich zu drehen „begannen“. Eine Art Anfang für ihre Existenz gibt es gleichwohl schon, aber ich bin ja angetreten, Ihnen zu verdeutlichen, dass längst nicht alles einen Anfang haben muss. Wir halten fest: Die ganze Dreherei der Erde & Co, die uns neben Tag und Nacht eine Vielzahl sonstiger Effekte beschert, ist anfanglos.


Quantenfluktation

Kommen wir zum Urknall! Da gebe ich anfangs gleich und leicht beschämt zu, dass wir Astronomen über ihn viel, aber längst nicht alles wissen. Was wir wissen: Unser Universum muss einmal (vor 13,8 Milliarden Jahren, um genau zu sein), winzig klein, ultraheiß und unvorstellbar dicht gewesen sein. Und jetzt geht es aber weniger mit gesichertem Wissen, indes mit mehr oder weniger (gut) begründbaren Hypothesen weiter. Ich schrieb “Unser Universum“. Unser Universum dürfte aus einem Beinahe-Nichts (Quantenvakuum) mittels einer so genannten Quantenfluktuation hervorgegangen sein. Es gibt keinen namhaften Grund für die Annahme, dies sei die einzige Quantenfluktuation gewesen. Existiert folglich ein Multiversum? Gut möglich. Wann hatte das seinen Anfang? Sollte eine auf modern frisierte Bibel künftig mit den Worten “Im Anfang schuf Gott das Multiversum“ anfangen?

Nun mal wieder ernst, denn das hieße ja – da es nie und nimmer plausibel wäre, dass alle Universen zugleich in die Urknallphase eintreten – dass es konsequenterweise ein Davor und noch ein Davor und so weiter gegeben haben dürfte. Oder in anderen Worten: Die Annahme, der Beginn “unseres“ Universums sei ein echter Anfang gewesen, ein Anfang aller Anfänge, ist bloß eine nette, aber unbegründbare Spintisiererei. Strikt unmöglich ist sie indessen nicht.

Ebenso grundsätzlich, wobei wir bei “unserem“ Universum bleiben: Längst existiert das Konzept des zyklischen Universums: Auf einen Urknall folgen gigantisch lange Zeiten der Entwicklung des Universums, eine Evolution, die im Endeffekt in einen neuen Urknall mündet, welcher die Karten, also die anschließend vorherrschenden Verhältnisse, völlig neu mischt. Und so weiter, von Ewigkeit zu Ewigkeit (ein “Amen“ verkneife ich mir).

Dennoch will ich nicht verhehlen, dass die Mehrzahl der Kosmologen, aufgrund der eindeutig beobachteten Beschleunigung der Expansion unseres Universums, derzeit eher von einem sich endlos ausdehnenden All spricht, und das mit Beschreibungen von möglichen Endszenarien, die ich Ihrer vermutlich von Anfang an zarten Seele besser nicht zumute.

Sollten Sie mir entgegnen wollen, dass ich zugegeben hätte, diese “universalen“ Hypothesen seien doch genaugenommen unbewiesen, muss ich zugeben: das stimmt. Sie sind aber allemal plausibler als sich Entitäten herbeizufantasieren, die all das zu irgendeinem Zeitpunkt, dem “Anfang“, geschaffen hätten. Für meinen und nicht nur meinen durch viele Naturbetrachtungen einigermaßen geschärften Geist ist ein Schöpfer einzig ein Gerät, das gute Dienste in der Küche und am Esstisch tut. Na ja, will ich einschränken, es gibt sehr wohl auch Schöpfer von Kunstwerken…


Es gibt Anfangloses

Aber machen wir es uns jetzt doch viel leichter, wenn wir über Anfang und Ende beziehungsweise darüber reden, dass dergleichen zuweilen einfach nicht existiert. Mit “leichter“ meine ich, dass hierbei unser Hausverstand seinen Platz findet. Wo, sehr geehrtes Lesepublikum, befindet sich auf der Oberfläche einer Kugel oder eines Ballons (oder auf der eines Möbiusbandes etc.) Anfang oder Ende? Oder analog, wenn sich etwas entlang eines Kreises bewegt. Antwort: genaugenommen überall und nirgendwo. Oder, um dem Titel meines Artikels Genüge zu tun: Derartige Oberflächen oder geschlossene Linien sind anfanglos. Endlos freilich auch…

Womit ich endlich am Ende meines Artikels angekommen bin. Und bevor wir alle den roten Faden verlieren: Ich wollte betont haben, dass man bitte nicht im Brustton der Überzeugung sagen und denken soll, ALLES habe irgendwann einen Anfang gehabt. Es gibt auch Anfangloses. Echtes Anfangloses und imaginiertes Anfangloses.

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Ronald Weinberger

Ronald Weinberger, Astronom und Schriftsteller, 1948 im oberösterreichischen Bad Schallerbach geboren, war von 1973 bis 1976 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg. Von 1977 bis zum Pensionsantritt im Dezember 2011 war Weinberger an der Universität Innsbruck am Institut für Astronomie (heute Institut für Astro- und Teilchenphysik) als Fachastronom tätig. Als Schriftsteller verfasst Weinberger humorvolle Kurzgedichte und Aphorismen, aber auch mehrere Sachbücher hat er in seinem literarischen Gepäck: Seine beiden letzten Bücher erschienen 2022 im Verlag Hannes Hofinger, im Februar das mit schrägem Humor punktende Werk "Irrlichternde Gedichte" und im September das Sachbuch „Die Astronomie und der liebe Gott“ mit dem ironischen, aber womöglich zutreffenden, Untertitel „Sündige Gedanken eines vormaligen Naturwissenschaftlers“.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Eibel

    fantastisch! danke!

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