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H.W. Valerian
Es knistert im Gebälk.
Notizen

Das muss wohl im Winter 1968/69 gewesen sein. Wir befanden uns in der achten Klasse. Da kam eines Tages überraschend der Herr Direktor herein – stahl uns die Pause – und begann, von den politischen Verhältnissen zu sprechen. Vor allem hatte es ihm die Wirtschaft angetan, von der wir damals nichts verstanden und die uns auch nicht interessierte.

„Es knistert im Gebälk“, orakelte er vieldeutig und düster.

Wir waren durchaus bereit ihm zu glauben. Erstens überhaupt und zweitens, weil sich damals schon im Hintergrund das unbehagliche Gefühl bemerkbar machte, es sei uns zu lange zu gut gegangen, ergo müsse bald eine Krise kommen. Man durfte unseren Altvorderen nicht böse sein wegen ihrer pessimistischen Sicht der Dinge, nach allem, was sie durchgemacht hatten.

Ich weiß nicht mehr, ob Volkswirtschaftler damals wirklich eine Krise prognostizierten. Woran ich mich erinnere, ist dies: Sie kam nicht. 1970 stellte die SPÖ erstmals eine Alleinregierung in Österreich, die Ära Kreisky begann. Das rief erst recht die Kassandras auf den Plan. Aber es wurde bloß besser, immer besser – die nächsten dreißig Jahre, das war die beste Zeit, welche unser Land je erlebt hatte. „Das goldene Zeitalter“, zitierte ich viel später einmal, im Rückblick, den Historiker Eric Hobsbawm. „Wohl eher das diamantene“, meinte eine Kollegin.

Daran änderte nicht einmal der Ölschock etwas – eigentlich gab’s ja zwei davon: den ersten, an den wir uns erinnern, im Jahre 1973, und einen zweiten 1979. Wie es sich traf, konnte ich die Auswirkungen in zwei Ländern beobachten: in Großbritannien und in Österreich.

Im einen Fall kam es zu katastrophalen Zuständen mit Inflation, Streiks, blackouts, Drei-Tage-Woche, kalten Wohnungen, Ausrufung des nationalen Notstands (state of emergency). Im andern Falle – praktisch nur ein Kräuseln. In England hieß es, das deficit spending nach John Maynard Keynes habe versagt. Aber in Österreich?
Gewiss, gewiss, die Schulden – der berühmte Sager von Bundeskanzler Dr. Kreisky: „Ein paar Milliarden mehr Schulden bereiten mir weniger schlaflose Nächte als hunderttausend Arbeitslose.“ Von den Kassandras wurde das mit Entsetzen quittiert. Glaubte man ihnen, so drohte wieder einmal der Kollaps.

Und es geschah – nichts.

Schulden wurden gemacht, zugegeben, aber im Vergleich zu dem, was später kam, handelte es sich um nicht mehr als ein Lüfterl. Später: Das meint die 1980-Jahre, da ging’s so richtig los mit der Staatsverschuldung. Aber da regierte die SPÖ nur noch in Koalitionen, zuerst mit der FPÖ, dann mit der ÖVP (ab 1986). Beim weitaus überwiegenden Großteil aller österreichischen Staatsschulden haben auch ÖVP-Minister eifrig ihre Hand gehoben:  im Ministerrat werden Beschlüsse einstimmig gefasst.

Na ja, und dann krachte es wirklich: 2008, der credit crunch. Nur hatte uns den niemand vorausgesagt, gar niemand. Es knistert im Gebälk? Im Gegenteil! Es sei alles leiwand, beruhigten uns die Superg’scheiten, Sie wissen schon: Börsenmakler, Finanzexperten, Wirtschaftswissenschaftler. Alles in Ordnung! Krisen gibt’s keine mehr, dazu sind wir jetzt viel zu gescheit geworden, mit Computerberechnungen in Sekundenschnelle.

Und dann standen sie vor der Fernesehkamera in London, in der City, in ihrem dunkelblauen Maßanzug und konnten ihre Angst nicht verbergen: „The markets don’t work anymore.“
Und sie bettelten – ja, worum wohl?
Um den Staat: „Why don’t they nationalize?“
Wenn ich das nicht live im britischen Fernsehen gesehen und gehört hätte, dann würde ich’s bis heute nicht glauben.

Da hat’s also nicht bloß geknistert, da hat’s gekracht! Bloß waren nicht wir schuld, die durchschnittlichen Menschen, weil wir zu viel ausgegeben und zu wenig gearbeitet hätten. Nein. Schuld waren die Finanzheinis, die Makler und Konsulenten und Manager, wie auch immer sie sich bezeichnen mochten. Auslöffeln durften die Suppe hingegen wir, nicht die Millionen-Verdiener.

In Österreich überstanden wir auch diese Krise mit vergleichsweise geringem Schaden. Die Briten bezahlten mit austerity, mit einem drastischen, um nicht zu sagen brutalen Sparkurs ab 2010. Da kamen nämlich die Konservativen wieder an die Macht (zunächst zusammen mit den Liberalen). Und das Resultat?

Nun, um nur von den Schulden zu sprechen: Die Staatsschuldenquote (Schuldenstand des Gesamtstaates in Prozent des BIP) dürfte 2020 im Vereinigten Königreich bei 104 Prozent gelegen sein. Ja, Sie haben richtig gelesen. Zehn Jahre austerity, und die Schuldenquote steigt auf über hundert Prozent! Vor der Krise lag sie noch bei vierzig Prozent. (Österreich: damals 68%, jetzt 84%).

Es knistert im Gebälk?

H.W. Valerian

H.W. Valerian (Pseudonym), geboren um 1950, lebt und arbeitet in und um Innsbruck. Studium der Anglistik/Amerikanistik und Germanistik. 35 Jahre Einsatz an der Kreidefront. Freischaffender Schriftsteller und Journalist, unter anderem für "Die Gegenwart". Mehrere Bücher. H.W. Valerian ist im August 2022 verstorben.

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