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Marta Marková
Schicksal und totalitäre Geschichtswahrnehmung
1. Teil: Jan

Warum gerade drei Lebensgeschichten aus dem multikulturellen Milieu der früheren Tschechoslowakei? Die familiäre kommunistische Prägung beeinflusste Jan, Mara und Zacharias ebenso wie der Verfall des Kommunismus, der ihnen  lange Zeit eine Art Ersatzheimat gewesen war. Deren Verlust motivierte sie zur Suche nach der eigenen Identität. Über eine Odyssee.

Es war Samstag, der 1. Februar 2020. „Deine Freundin Mara ist gestorben –  Lungenkrebs, zu spät entdeckt.“ Darüber informierte mich per E-Mail mein Mann.
An dem Tag wollte ich eigentlich in Prag sein, aber wegen eines ärztlichen Termins blieb ich in Innsbruck. In Prag wurde nämlich Jan verabschiedet, der am 30. Dezember 2019 durch einen Motorradunfall in Zürich plötzlich und unerwartet von uns gegangen war… fast dämonisch war er in der Dunkelheit verschwunden.

Vor dem letzten Tag des Jahres, an dem in seiner Heimat, dem Land seiner Geburt, so heiter, mit Witz und medial befeuert, vierundzwanzig Stunden bis zum Neujahrstag durchgeblödelt wurde… Man wusste noch immer nicht, ob es ein Unfall oder vielleicht doch Selbstmord war. Man hätte es gerne gewusst – ob er, von seinem Haus kommend, durch die idyllischen Straßen am südöstlichen Züricher Stadtrand fuhr; dort, wo die Kinder über den Kreidezeichnungen auf dem Straßenboden ihr Hüpfspiel „Himmel und Hölle“ spielen durften; dort, vorbei an Häusern im Bauhausstil der 1930er Jahre zum Motorboot am Zürichsee? Der sehnlichste Wunschtraum seines Lebens war gerade Wirklichkeit geworden: Ein Boot am Zürichsee! Nein, niemand wollte die Hinterbliebenen verwirren und beunruhigen, das Andenken an den Verstorbenen stören. Schon der Versicherung wegen wollte man es nicht allzu genau wissen.

Und jetzt Mara! Dreiundzwanzig Tage nach Jans Ableben sollte auch sie sterben. Zwei Menschen, die völlig aktiv im Leben gestanden waren.

Was hatten sie gemeinsam, die plötzlich aus meiner Welt verschwunden waren und die ich vermissen werde? Obwohl sie einander nie begegnet sind? War es der  euphorische kommunistische Glauben der Eltern? Die Träumereien der Nachkriegszeit über eine bessere Gesellschaft, welche ihnen schon in die Wiege gelegt worden waren? Altersbedingte Wahrnehmungen eines gemeinsamen Nenners auf Basis einer totalitären Erziehung? Die Suche nach einem Zuhause – oder die Diaspora? Die Intensität des „Pendelns“? Maras Pendeln zwischen Athen und Wien und Jans Pendeln zwischen Zürich und Prag! Trotzdem gab es einen Unterschied, da Jan – anders als Mara – dem osteuropäischen Judentum entstammte. Dennoch, ihr familiärer Hintergrund wie auch ihre Spurensuche nach dem Leben und dem zentralen Lebensort spiegelten die Nachkriegsgeschichte des 20. Jahrhunderts bis ins Digitalzeitalter der Gegenwart wider; auch die Geschichte der Opfer und Täter und ihrer Nachkommen.


J a n

Persönlich lernte ich Jan erst im Sommer 2019 auf Vermittlung unseres gemeinsamen Freundes Peter Brod kennen. Obwohl wir beide Zeitzeugen des Prager Frühlings waren und aus dieser Zeit viele gemeinsame Freunde hatten, waren wir in den 1960er Jahren einander nie begegnet. Er studierte Mathematik und ich Sozialwissenschaft, er „verließ“ gemeinsam mit seinen politisch engagierten Eltern die Tschechoslowakei 1968 nach der Niederschlagung des Prager Frühlings, ich erst 1980. Seine Eltern fanden Aufnahme in der Schweiz. Damals stand die Welt all den vor dem Panzer-Kommunismus Geflüchteten offen, ohne Bedingungen, ohne ethnische oder religiöse Vorurteile. Sie wurden in der Schweiz ansässig, weil eine Pensionsversicherungsanstalt seinem Vater die entsprechende Beschäftigung bot. Jan ging nach London, um Computer Science zu studieren. 1973 zog er wieder in die Schweiz, wo er als freiberuflicher, selbstständiger Analytiker und Programmierer arbeitete. 1994, in seinem 48. Lebensjahr, gründete er eine Familie. Er heiratete Lenka, eine junge Tschechin aus Südböhmen, und bald danach kamen auch ihre vier Kinder zur Welt, zwei Mädchen und zwei Buben. Seine Mutter, Jahrgang 1919, starb 2005, sein Vater, Jahrgang 1917, folgte ihr 2012.

Jan verehrte den Vater. Stets trug er dessen Dokumente aus der NS-Zeit bei sich, beschäftigte sich mit dem Holocaust und auch mit den Schauprozessen in der ČSR der 1950er Jahre. Diesen zwei prägenden Erfahrungen spürte er immer wieder nach. Seine Eltern wurden im November 1941 aus dem Städtchen Rakovník / Rakonitz in Mittelböhmen in das KZ-Theresienstadt deportiert, ebenso wie ihre Eltern und die engsten Verwandten und Bekannten. Anfang 1942 ging es weiter in das jüdische Ghetto in Riga und von dort in das KZ-Buchenwald. Die Großeltern und die meisten ihrer Verwandten wurden ermordet. Jans Eltern hatten Glück im Unglück, sie überlebten.

Totalitärer Optimismus beherrschte die kommunistische Nachkriegsgesellschaft, zu deren Struktur auch Jans Vater gehörte. Er übte hohe Ämter aus. Von 1949 bis 1952 war er Stellvertreter des Handelsministers František Krajčír der Regierung Klement Gottwald (Präsident) und Antonín Zápotocký (Ministerpräsident). Im Zuge der innenparteilichen KPČ-Säuberungen, nach dem Prozess gegen KPČ-Generalsekretär Rudolf Slánský und seiner und der anderen Angeklagten Hinrichtung im Jahre 1952, wurde auch ihm seine Mitgliedschaft in der KPČ aberkannt.

Da er nicht zu den wichtigsten Playern der KPČ gehörte und irgendwo im Verborgenen vielleicht doch einen Schutzengel hatte, verlor er „nur“ seine Position in der Regierung und wurde in die Produktion zu den „Werktätigen“ versetzt. Der 35jährige wurde einfacher Arbeiter im verstaatlichten Unternehmen Walter Engines Motortlet N.E. in Prag-Smíchov-Jinonice/Jinonitz, ein hochspezialisiertes Unternehmen des militärischen Komplexes, das vollständig vom Staatssicherheitsapparat kontrolliert wurde. Bis zum Jahr 1956 blieb er dort eingesetzt.

Die politischen Aufstände in Berlin und Budapest, das Ableben von Stalin und Gottwald, die legendäre Parteirede auf dem XX. Parteitag der KPdSU von Stalins Nachfolger Nikita S. Chruschtschow, welcher in seiner fünfstündigen Geheimrede den Stalinistischen Totalitarismus angeprangert hatte (dessen Nutznießer Chruschtschow selbst über Jahrzehnte gewesen war), bedeuteten eine Wende: 1956 begann auch die poststalinistische Ära in der Tschechoslowakei. Jans Vater wurde wieder auf einen anderen Posten berufen – als Stellvertretender Direktor des Staatlichen Verlages für Technische Literatur (STNL). 1963 erfolgte auch die politische Rehabilitation, seine Mitgliedschaft in der KPČ wurde erneuert. Er war wieder zurückgekehrt in sein kommunistisches Establishment. Seine Frau unterrichtete als Volksschullehrerin an der Grundschule. Jan wurde ein Jahr nach dem Ende des II. Weltkrieges im Mai 1946 geboren, seine Schwester zwei Jahre später, am Höhepunkt nationaler Euphorie und der brutalen Verdrängung aller Errungenschaften der Ersten Republik – der Republik des T.G.Masaryk.

Wie kam es zu unserer Begegnung 2019? In den letzten Jahren war Peter Brod, ein Cousin meines Freundes Peter Demetz, der Mittelpunkt der internationalen Kontakte, eine wandelnde Enzyklopädie. Er wusste über alles Bescheid, vor allem über das jüdische Leben in Prag. Mein letztes Buch war für ihn  Grund genug, mich mit seinem Freund bekannt zu machen. Mit Jan traf er sich regelmäßig, um über alles unter der Sonne zu diskutieren – zwei Rückkehrer nach 1989, deren gemeinsamer Ausgangspunkt im Prager Frühling 1968 lag.

Für Peter schien mir das nachvollziehbar. Als Jugendlicher war er mit seinen Eltern aus Prag nach Deutschland emigriert und 1989 als Journalist der BBC als Mitarbeiter der tschechischen Abteilung wieder zurückgekehrt. Doch Jans intensives Doppelleben zwischen Zürich und Prag erstaunte mich. Die Suche nach dem billigsten Flug, der ihm das Nachholen all der Jahre seiner Jugend außerhalb seiner alten Heimat erlaubte; das brennende Interesse an allen Prager Ereignissen, den Premieren, Operninszenierungen, Konzerten, Ausstellungen, politischen Diskussionen… Ob er überhaupt Zeit zum Atemholen fand? Und wie ließ sich das mit seiner jungen fünfköpfigen Familie vereinbaren?

Aber er war ein Mann, ein Jahr älter als ich, der für seine wichtigen Bedürfnisse alles andere zurückstellen konnte; ein sachlicher Pragmatiker eben – so erklärte ich es mir. Peter und Jan beeindruckten mich durch ihr hyperaktives kulturelles Leben. Ihr Philosophicum zelebrierten sie beim Mittagsessen im Stile von Privatiers des 19. Jahrhunderts. Nicht nur, weil ich als Frau immer sehr beschäftigt war – mir waren alle meine Freundinnen abhanden gekommen, wie vom Wind verweht… auf Nimmerwiedersehen. Die noch Lebenden versorgten entweder ihre Enkelkinder oder pflegten Anverwandte.

Jan und ich verabredeten uns auf ein Treffen in einem halben Jahr, im Frühjahr 2020, beim Innsbruck International / Biennial of the Arts. Nein, damals wusste ich natürlich noch nichts über das Thema, es wurde streng geheim gehalten, damit ich ja nichts weitersagen, nichts verraten konnte. Erst wenn das Festival tatsächlich eröffnet worden wäre, hätte ich es tun können, aber da war es zu spät. Das „Prager Philosophicum“ war durch Jans Tod verwaist. Und ziemlich bald danach, mitten in der Veranstaltungsreihe, zwang auch das Coronavirus die Biennial of the Arts 2020 ihre Tore zu schließen. Das Thema „Human Capital“ hatte sich als der gemeinsame Nenner für die Gegenwart erwiesen.

Wie aus einer schlechten „horror science fiction“ entwickelte sich Realität: Die Ärzte in Bergamo bettelten um Apps, weil das Coronavirus „die Patienten“ bei vollem Bewusstsein und im Todeskampf in die Isolation zwang. In ihrer Einsamkeit verlangten sie nach einem Mobiltelefon, um sich von ihren Liebsten zu verabschieden.

Fortsetzung: 30.06.2021

Marta Markova

Marta Marková, Kulturpublizistin und Autorin, geb. in Spieglitz/Špiklice (Tschechische Republik), lebt heute in Wien und Innsbruck. Studium an der Prager Karlsuniversität, Tätigkeit als Journalistin, Verlags-und Hörfunkredakteurin. 1980 Flucht nach Österreich, ab 1989 Kulturpublizistin für den ORF, für die Wiener Zeitung, den Standard und für tschechische und slovakische Medien (Aspekt). Sie forschte u.a. zu „Kafkas Freundin“ Milena Jesenská und Alice Rühle-Gerstel, Milenas Freundin, und war Lektorin für die Tschechische Sprache am Institut für Slawistik der Universität Innsbruck. Demnächst erscheint im Innsbrucker Limbus Verlag das Kulturbuch "Daheim – und doch nicht zu Hause. Kochen im fremden Land."

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