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Helmuth Schönauer
Die Pointen des Todes
Über Friederike Mayröcker
Stichpunkt

Jemand, der zu schreiben beginnt, ist entweder von einem Text so angerührt, dass er etwas in dieser Richtung für sich selbst weiterverfolgen möchte. Oder aber er ist angetan vom Lebenswandel einer Dichterin, die ihn zum Schreiben animiert.

Die Vorbilder sind nicht einmal in erster Linie geschlechtsspezifisch. So hat etwa in den 1970ern auf der Uni Innsbruck ein ganzer Jahrgang von Studenten mit dem Dichten begonnen, als einmal Elfriede Jelinek mit ihren berühmten Hosenanzügen im Seminar vorbeigeschaut und uns belehrte hatte, dass wir alle von den Medien Verführte seien.

Wer es anschließend nicht zum Dichter gebracht hat, dissertierte wenigstens über „Michael. Ein Jugendbuch für die Infantilgesellschaft“ (1972), worin alles in einem Roman zusammengepfercht ist, was die anschließenden 1970er ausmachte.

Mithilfe dieser beeindruckenden Performance ist schließlich aus der forschen Medienkritikerin eine Nobelpreisträgerin geworden, die freilich seit der Bepreisung so gut wie nichts Relevantes mehr zu sagen hat. (Außer eben, dass sie Nobelpreisträgerin ist.)

Von dieser Initiationsfigur für literarische Startups ist übrigens ableitbar, dass nur eines von beiden zählen kann: entweder der Text oder die Performance. Meist beginnt jemand mit guter Literatur und flacht dann zur literarischen Performance ab. Der umgekehrte Weg ist seltener, dass jemand zuerst eine witzig-helle Erscheinung ist und nachher auf den Text reduziert wird. Franz Kafka wäre so ein Fall, bei dem uns wirklich nur seine Bürokratie-Romane interessieren und weniger sein Hormonzustand im Briefverkehr.

Seit es ein offenes Geheimnis ist, dass ein normaler Leser alles tut, um nichts lesen zu müssen, hat sich das Augenmerk der Literaturproduktion auf Marketing verlagert. Wenn jemand gut performt, ist es letztlich egal, was er schreibt.

So eine Leitfigur ist Friederike Mayröcker gewesen, die dieser Tage verstorben ist. In gar nicht so wenigen Nachrufen wird sie als „Elfriede“ bezeichnet, was darauf schließen lässt, dass die Redaktionen oft nur einen Nachruf-Dummy vorbereitet haben, der dann auf alle Akutfälle umgeschrieben werden kann. Seit es nicht mehr auf die Texte ankommt, lässt sich so ein Nachruf noch um eine Spur aufregender gestalten, wenn man in die Figur der Verstorbenen jeweils eine kleine Pointe einbaut, die sonst niemand erlebt hat.

Ich bin in der glücklichen Lage, so eine Pointe zu besitzen, die ich jetzt zum Tod der Friederike Mayröcker loswerden möchte.

Als Veranstalter für Bibliothekslesungen habe ich mich immer wieder an den Geschmack des Publikums herangetastet, was aber im Land der Hinterseer, Mitterer und Untertrenker ziemlich aussichtslos sein kann. Denn für den Geschmack der Tiroler findest du selbst in der Unterhaltungsindustrie selten jemanden, der einen für alle zufriedenstellenden Abend hinkriegt.

Einige wollten damals Ernst Jandl einladen, weil dieser als besonders witzig, wenn auch frech galt. „ich werde dir erscheinen / wie stets ich erschienen dir bin / und du wirst weinen / denn ich bin dahin / […]“

Es war schon alles für eine kleine Tirol-Tour mit Ernst Jandl vorbereitet, da ließ er ausrichten, dass wir auch „seine Alte“, die Mayröcker eben, mitnehmen müssten, ihn gebe es nur als Doppelpack. Sie seien nämlich ein Paar, das aber zwei Wohnungen habe.

Ein Rückruf an die Fans hat dann gleich nüchterne Tatsachen geschaffen. Wer das sei? Und wenn man die Mayröcker kannte, gab es die in der Literaturprovinz durchaus logische Frage, ob sie auch lustig sei, oder ob es sich nicht eher um eine in Schwarz getünchte Frau handle, die vor allem nuschle.

Aus finanziellen Gründen haben wir dann die Lesung abgeblasen, dabei hätten wir noch sechzig Jahre lang Zeit gehabt, sie nachzuholen. Soweit die heutzutage unumgängliche Nachruf-Anekdote.

Der Tod der Friederike Mayröcker sollte auf zwei Tracks kommentiert werden. Der eine ist der übliche, wonach man über Tote nichts sagt, außer Gutes. Und ehrlich lässt sich hinzufügen: Jetzt hat sie es hinter sich! Auch wenn sie am Leben gehangen hat, ist das Ungewisse, wie sie sterben wird, jetzt ausgeräumt. Es ist ihr gut gelungen, und wir alle hoffen, uns möge es ähnlich gut gelingen.

Im zweiten Track muss man aber ein paar Sätze abspielen, die sich um die Inszenierung des Todes drehen. Wie beim Ableben einer Königin stirbt hier nicht nur eine Person, sondern das Mitglied einer Dynastie. Das unterscheidet den Tod von Schriftstellerinnen von jenem von Lokführern oder Netzwerkadministratoren.
Das Königiginnentum muss nämlich irgendwie weitergehen, wenn die oberste Repräsentantin das Haus verlässt. Die Literatur muss weitergehen, wenn ihre oberste Verfasserin stirbt.

Das Königtum der Friederike Mayröcker besteht darin, dass ihre Texte immer von der Alltagspolitik entfernt sind, sodass sie immer aktuell und richtig liegen. Ihre Texte wirken in Belarus genauso wie in Tirol, in beiden Ländern dürfte die offizielle Liebe zur Literatur ähnlich eingeschränkt sein.

Die Texte sind zwar gedruckt und gesprochen, und die Literaturwissenschaft kann sich darüber hermachen, in Wirklichkeit sind sie bloß das Wortgekritzel, das beim lebenslänglichen Sitzen im Schreibzustand entsteht. Einem mittelalterlichen Spinnrad ähnlich ist das gesponnene Wollgarn, das im nächsten Janker aufgetragen wird. Einem Fliegenfischer ähnlich, sind die gefangenen Zeilen bloß Fügungen, die wieder ins Wasser zurückgeworfen werden.

Diese lebenslängliche Schreibhaltung hat ganze Kohorten von Jahrgängen dazu animiert, selbst zu schreiben. Ihr Stil passte nämlich für alle, was immer man schreibt, es lässt sich eine Verbindung zur Mayröcker herstellen. Dahinter steckt ihre Ermunterung aus Mädchentagen, wie sie selbst einmal sagte, wonach sie ein Poesiealbum anlegen und nie mehr damit aufhören wollte. (Dass sie in dieser Haltung Schule und Unterrichten als lästige Sackgasse empfand, versteht sich von selbst.)

Diese Schreibhaltung, als unschuldiges Abarbeiten von Lebenszeit verstanden, ist das Schöne und Unvergessliche der Mayröcker. Leider hat sich an sie auch der Literaturbetrieb herangepirscht und seine Geschäfte mit ihr vorangetrieben.

In einem Witz heißt es, du darfst einen Preis erst dann vergeben, wenn ihn als erstes die Mayröcker gekriegt hat. Wenn sie Geburtstag hatte, wurde den ganzen Tag lang auf Ö1 etwas Finsteres vorgelesen, bis der letzte den Einheitsfunk abgeschaltet hatte.

Bis zur Pandemie gab es jeden Monat einen Kongress über sie, weil man unter ihrem Titel auf jeden Fall die Reisespesen abrechnen konnte. Und in der Pandi ging die Textviecherei auf Zoom weiter. Wenn einmal eine Woche lang niemandem etwas eingefallen ist, wechselte man einfach die Sprache, und machte den ganzen Zirkus auf estnisch oder lettisch weiter.

Und die Geschichte ist noch lange nicht aus. Bis die angefangenen Sekundärarbeiten alle fertig geschrieben und publiziert sind, werden noch Jahre vergehen. Wie in der Germanistik üblich, werden die Enkel schon nicht mehr wissen, wer diese magische, schwarz gekleidete Frau gewesen ist, da wird immer noch geforscht werden, und jeder wird mit seiner These richtig liegen, denn die Mayröcker wird nichts mehr klarstellen.

Das hat sie übrigens nie getan. Man konnte alles über sie sagen, und es hat ihr immer gepasst. Ein bisschen eitel war sie schon, wehe, es war einmal ein Tag dabei, an dem niemand zu einem Interview kam.

Man könnte die Geschichte auch anders erzählen. Die Friederike Mayröcker war in den letzten Jahren eine Messie und ein Pflegefall. Die Pflegenden kamen als Germanisten verkleidet pünktlich in ihre vermüllte Wohnung, die sie als Lebensstipendium zur Verfügung gestellt bekam. Alle paar Monate machte man aus den Pflegeberichten einen Prosaband, der immer einen Fixplatz auf der Ehrenliste des ORF bekam.

Jetzt gibt es noch ein Ehrengrab, und dann beruhigt sich die Sache wieder. Aber ja, ein paar Lehrstühle sind noch ausgeschrieben, den Germanisten ist zuzutrauen, dass sie noch jahrzehntelang an diesen Texten herumforschen, bis sie die letzte Analogie zu ungeklärten Tontafeln hergestellt haben.

Eine Pointe des Todes ist übrigens, dass er selbst viel kürzer ist, als das Reden über ihn dauert. Am liebsten mag er die, die sich in Sinnlosigkeiten verkrallen, statt einfach abzugehen.

Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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