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Alois Schöpf
Der Obernberger See
Tourismuspolitisches Multiorganversagen 1
Essay

Das Obernbergtal erreicht man, wenn man von der Bundesstraße in Gries am Brenner von Norden kommend rechts abbiegt und nach einigen, fast schon schluchtartigen Engstellen den Ortsteil Vinaders erreicht, der sich um eine uralte, dem hl. Leonhard geweihte Kirche gruppiert, die bereits vor dem Jahre 1000 als Station für Rompilger diente. Heute ist die Kirche von einem stimmungsvollen Friedhof umgeben, in seiner Nähe befindet sich der von außen unscheinbare und auch heute noch empfehlenswerte Gasthof „Vinaders“, in dem der schwedische König Carl XVI. Gustaf seiner zukünftigen Gattin Silvia unter der Oberaufsicht des damaligen Innsbrucker Bürgermeisters Alois Lugger näher gekommen sein soll. Man erreicht Vinaders aber auch über die Autobahnausfahrt Nösslach, von wo aus eine enge Straße mitten durch die wunderbarsten Bergwiesen führt. Nach einer weiteren Engstelle oberhalb von Vinaders öffnet sich das Obernbergtal, ursprünglich eine 1380 Meter hoch gelegene Weidefläche, von einem noch natürlichen Bachlauf durchzogen, links und rechts zuerst flache, dann steil ansteigende Wiesen, die in den Wald übergehen, ganz zuhinterst ein spektakulärer Talschluss mit den sich hoch auftürmenden Felsen der Schwarzen Wand und des Obernberger Tribulaun.

Die heutige Besiedelung des Tals erinnert mit seinen 370 Bewohnern in ihrer Mischung aus alten, ärmlichen Bergbauernhöfen, neu erbauten Häusern im Stil des Alpenbarock und dazwischen einigen wenigen Gebäuden in durchaus avancierter moderner Architektur an längst vergangene Zeiten, als habe man dieses schwer erreichbare Nebental des Wipptals vergessen und aus der industriellen und touristischen Entwicklung des Landes ausgeklammert.

Wenn sich da nicht ganz am Ende, nach einem erstaunlich großen Parkplatz mit kleinen, aber gepflegten Toilettenanlagen und einem Anmarsch von 200 Höhenmetern der Obernberger See befände, ein Naturjuwel der Sonderklasse, einer der schönsten Bergseen Tirols überhaupt, nach einem gewaltigen Felssturz vor 35.000 Jahren entstanden, blau schimmernd, von den Fischen des Fischereiverbandes Innsbruck bevölkert, in vollkommener Stille daliegend, zuerst ein kleineres Gewässer, sodann durch einen schmalen, von einer hölzernen Brücke überwölbten Bachlauf verbunden der zweite, viel größere See. In einer zweistündigen Wanderung vom Parkplatz aus können beide Seen, die durch ihre malerische Verbindung eine Einheit bilden, umrundet werden. Die Ufer, sofern zugänglich, aber auch die Bachläufe unterhalb des Sees, sind ein Paradies für Kinder und in besonders heißen Sommern ist das ansonsten bitterkalte Wasser sogar zum Baden geeignet. Ja, so abgelegen er auch sein mag, mit dem Obernberger See verbinden wohl sehr viele Bewohner Tirols, vor allem aus der Landeshauptstadt Innsbruck, schönste Jugenderinnerungen.


Bürgerprotest

Dies dürfte wohl auch ein Hauptgrund gewesen sein, dass umgehend eine Bürgerinitiative entstand, als bekannt wurde, dass das uralte, langsam in sich zusammenfallende alte Wirtshaus am Ufer des Obernberger Sees abgerissen und durch einen Neubau, ja, wie es hieß, durch ein wahnwitziges Hotelressort ersetzt werden sollte. Statt die Bemühungen eines Investors, dem Tal durch ein touristisches Projekt Zukunftsperspektiven und Beschäftigungsmöglichkeiten für die stark auspendelnde Bevölkerung zu eröffnen, im Prinzip freudig zu begrüßen, somit in einen Dialog auf Augenhöhe mit dem zukünftigen Bauherren einzutreten und erst vor diesem Hintergrund Bedenken zu formulieren, stand von vornherein fest: Hier forderten Bürger aus dem urbanen Raum – die in nicht wenigen Fällen, wenn man die Unterschriftslisten der Initiative studierte, selbst über voluminöse Villen mit Garten, wenn nicht gar mit Parkanlagen verfügten -, dass unter dem Motto des Naturschutzes die Idylle ihrer Jugenderinnerungen intakt blieb. Sie wünschten sich nichts weniger als die kostenlose Reservierung eines durch Behördenbescheid unberührten Stücks Natur.

Andere sollten ihnen durch Wohlstandsverzicht und Selbstmusealisierung das Vergnügen bewahren, sich von ihren Zivilisations- und Wohlstandskrankheiten abseits touristischer Trampelpfade, wie das heißt, zu regenerieren.

Selbstverständlich fanden sich in der Unterschriftenliste auch die Namen einiger prominenter Architekten, die in ihren Statements immer wieder wortreich die Zersiedelung des Landes und den deprimierenden architektonischen Standard des privaten Hausbaus beklagen und sich den Behörden gegenüber dafür einsetzen, das Einfamilienhaus mit Garten zugunsten einer verdichteten Bauweise zu unterbinden. Bei diesen Gardinenpredigten wird selbstverständlich konsequent unterschlagen, dass an der Zersiedelung Tirols die Behörden selbst die Hauptschuld tragen, da über Jahrzehnte eine Bebauungsdichte von 0,3 % der Grundfläche vorgeschrieben war. Ebenso wird unterschlagen, und dies ist wohl als das noch gewichtigere Argument anzusehen, dass es offenbar ein elementares Bedürfnis einer Mehrheit der Bevölkerung zu sein scheint, sich ein Eigenheim mit Garten zu schaffen.

Ist es vor dem Hintergrund solcher Sehnsüchte Aufgabe des Staates, seinen Bürgerinnen und Bürgern bei der Verwirklichung ihrer Lebensträume zu helfen? Oder ist es vielmehr seine Aufgabe, sich den – wie es die städtebaulichen Studien und Bauten des Megastars der Moderne Le Corbusier beweisen, der etwa mit seiner „Wohnmaschine“ Unité d’habitation in Marseille zum Begründer des Plattenbaus wurde – menschenverachtenden Großmachtsträumen von Architekten, Bürokraten und Naturschützern zu unterwerfen?


Die formale Katastrophe

Trotz der grundsätzlichen Fragwürdigkeit ihres Protestes – und gerade dies weist ja die Entwicklung bzw. Nichtentwicklung der Region um den Obernberger See als paradigmatischen Fall von tourismuspolitischem Multiorganversagen aus – wurde nun von Seiten der Kritiker zu Recht gegen ein Projekt protestiert, dessen Pläne neben einem aus Holz und Glas konzipierten siloartigen, pseudomodernen Hauptgebäude an die 30 unter die Erde in Stahlhüllen verpackte Wohneinheiten beinhaltete, die für Feriengäste vermietet werden sollten.

Dass dieses Projekt schlicht im Verhältnis zur eher kleinräumigen und zart strukturierten Umgebung vollkommen überdimensioniert war und dass darüber hinaus an seiner Rentabilität gezweifelt werden durfte, lag dabei ebenso auf der Hand, wie die Tatsache, dass es, von einem Baumeister und nicht von einem Architekten entworfen (Das mögen die Architekten aber schon gar nicht!), tatsächlich die ästhetischen Mindeststandards guter Architektur zugunsten des landesüblichen Hotelbau-Kitsches unterbot.

Zugunsten des Bauherrn und der Planer darf jedoch nicht unterschlagen werden, dass die Idee, vermietbare Wohneinheiten in Stahlcontainern unter die Erde zu verbannen, zwangsweise aus einer Bürokratie resultierte, die in Gestalt von Baubehörde und Naturschutz für den Neubau im Verhältnis zum alten Bestand lediglich ein Drittel mehr an Kubatur bewilligte, was allein aufgrund der wesentlich verschärften Hygiene- und Sicherheitsbestimmungen für touristische Neubauten darauf hinauslief, dass wiederum nicht mehr als ein einfaches Wirtshaus, wie es bisher bestanden hatte, genehmigt wurde.

Nun dürfte wohl für den flammendsten Antikapitalisten die Tatsache einsichtig sein, dass von keinem unternehmerisch denkenden Investor erwartet werden kann, ein von vornherein defizitäres Projekt zu verwirklichen.

Es galt also, einen Trick zu finden, wie der enge Rahmen der vorgeschriebenen Kubatur, die einen wirtschaftlichen Betrieb des Neubaus darüber hinaus aufgrund der engen saisonalen Nutzbarkeit des Gasthauses von maximal vier bis sechs Monaten im Jahr unmöglich machte, zugunsten einer fairen Rentabilität, welche die Investition rechtfertigte, umgangen werden konnte. Dies war dadurch möglich, dass Wohnraum, der sich unter der Erde befand, zum damaligen Zeitpunkt noch nicht in die Kubatur des Neubaus eingerechnet wurde, eine Gesetzeslücke, die aufgrund der Planungen am Obernberger See in Folge vom Tiroler Landtag geschlossen wurde.

Ausgangspunkt für den berechtigterweise kritisierten Entwurf eines Hotel-Ressorts war also nicht nur der anzweifelbare Geschmack des Bauherrn und der Planer, sondern vor allem auch eine jeglichem betriebswirtschaftlichen und touristischem Denken entfremdete Bürokratie.


Verhinderungsversuche

Wahrscheinlich wäre das Hotelprojekt längst schon realisiert worden, wenn der Bauherr in den nun folgenden Auseinandersetzungen von seinem Kitschprojekt abgerückt und einen international renommierten Architekten engagiert hätte, wie sie etwa in Gestalt von Dominique Perrault mit den Rathausgalerien und Zaha Hadid mit der Bergiselschanze und der Hungerburgbahn das Stadtbild Innsbrucks markant und zur Freude aller verändert haben. Nein, in nicht nachvollziehbarer Nibelungentreue rückte Herr Stocker, langjähriger und renommierter Präsident des inzwischen weniger renommierten FC Wacker Innsbruck, nicht von seinen Planungen ab und eliminierte via Gericht und mit dem von diesen Gerichten akzeptierten Recht auf freie Meinungsäußerung auch in Sachen Architektur, sofern die Baubestimmungen eingehalten werden, sämtliche Versuche, den geplanten Neubau zu verhindern. Bis sich zu allerletzt, gleichsam knapp vor Baubeginn, herausstellte, dass die Zufahrt zum geplanten Großprojekt aufgrund des Einspruchs der Agrargemeinschaft Obernberg nicht gegeben war und auch nicht gegeben wurde.

Nach Jahren der überregionalen Auseinandersetzungen verdankt das Projekt also sein zurzeit definitives Ende dorfinternen Zwistigkeiten und einer über Jahrzehnte in Armut gewachsener dörflichen Missgunst.



Die Diagnose

Architektonisch und wohl auch tourismuspolitisch muss man dieses geradezu groteske Ende des Projektes als Segen bezeichnen. Zugleich ist es eine Katastrophe. Denn alle daran Beteiligten haben schmählich versagt. Der Bauherr, der zu Recht auf Rentabilität bestand, sich jedoch als stur und von beschränktem architektonischen Geschmack erwies. Die Baubehörde, die von vornherein die Chance auf einen fairen Gewinn des Investors verunmöglichte. Ein Naturschutz, der sich daran erfreut, mit kleinkariertem, technologiefeindlichem Denken die Welt zu retten und vom hohen Sitz seines Bürokratenthrons herab den Tourismus zunehmend als Belästigung empfindet. Honorige Bürgerinnen und Bürger, die es selbst zu Wohlstand gebracht haben, und nicht dulden, wenn andere sie im Bestreben, einen ähnlichen Wohlstand zu erreichen, durch Investitionen aus ihrer Traumidylle verjagen. Arm in Arm mit grünen Lehrerpolitikern ist ein defizitäres Wirtshaus zum Zwecke ihrer temporären Erfrischung an schönen Tagen das Äußerste, das sie sich vorstellen können.

Zuletzt hat auch eine Politik mit den ihr vorgelagerten geschützten Werkstätten Tirol Werbung und Lebensraum Tirol AG versagt, indem sie aus Panik, entweder die Naturschützer und damit die umworbene Grünwählerschaft oder die Touristiker verärgern zu müssen, in bester k.u.k.-Manier darauf setzte, dass sich die besten Lösungen dann ergeben, wenn man Akten in Verstoß geraten lässt. Dies ist denn auch geschehen. Obernberg und der Obernberger See sind in Schönheit so tot wie eh und je. Und der Vorschlag, für die zahlreichen Besucher des Naturjuwels zumindest zwecks Verpflegung einen Verkaufsstand zu genehmigen, wurde von der Naturschutzbehörde auf jenes ausgewiesene Grundstück verwiesen, auf dem der vor sich hin verfallende alte Gasthof im Besitz der Familie Stocker steht, die sich für diese Zumutung verständlicherweise sehr herzlich bedankte und ablehnte.


Die Zukunft

Viele Autoren, die zur Freude des Lesers einen Zustand zu analysieren verstehen, verspielen zuletzt ihre Autorität, wenn es darum geht, Perspektiven für die Zukunft zu entwickeln. Nicht selten sind ihre Vorschläge nicht nur banal, sondern auch fernab von jedem wirtschaftlichen Denken. Hier ist also äußerste Bescheidenheit erforderlich. Die Qualifikationen eines guten Unternehmers sind eben andere als die eines Schriftstellers.

So viel jedoch kann immerhin eingefordert werden, dass eine Tourismuspolitik, die sich weniger um Wähleranbiederung kümmert als vielmehr um Lösungen, schon längst alle Beteiligten mit der Macht von Widmungsbefugnissen an einen Tisch zusammenführen hätte müssen. Denn Obernberg hat nicht nur wie viele andere Talschaften in Tirol, deren ländliche Lebensqualität den Reiz unseres Landes ausmacht, ein Recht auf wirtschaftliche Erschließung. Mit dem Naturjuwel Obernberger See verfügt die Region auch über ein unverwechselbares Kapital und große Chancen.

Die Frage, wie diese genützt werden, kann am besten wohl nur dadurch beantwortet werden, dass man prinzipielle und großzügige Investitionsbereitschaft signalisiert und dabei, gleichsam als Parameter für die eingeforderte Qualität, andere erfolgreiche Musterbetriebe des Landes wie etwa die Gesundheitszentren „Lanserhof“ in Lans oder das „Parkhotel“ in Igls, das Wellness-Zentrum „Posthotel“ in Achenkirch oder das private Klinikum „Medalp“ in Imst als mögliche Maßstäbe der erforderlichen Qualität heranzieht.

Durchaus denkbar wäre aber auch abseits des Tourismus die Ansiedlung etwa der Expositur einer renommierten internationalen Universität oder eines Forschungsinstituts oder eines innovativen Technologieclusters. Verbunden mit all diesen Projekten, die in Reaktion auf den langjährigen Diskussionsprozesses nicht direkt am Ufer des Sees, sondern im Bereich des großräumigen Parkplatzes im Gebiet des derzeitigen Parkplatzes angesiedelt werden sollten, wäre jedoch die Verpflichtung, am See selbst einen kleinen Restaurantbetrieb zu errichten.

Im Hinblick auf die Aufwertung des Sees selbst, der jeweils im Herbst und nach trockenen Sommern sehr stark zu einer dürftigen Lacke absinkt, erlaube ich mir zuletzt als regelmäßiger und begeisterter Besucher den wahrscheinlich manchen Naturschützer zum Wahnsinn treibenden Wunschtraum, dass durch einen eigenen Wasserzulauf oder durch das Verstopfen der unterirdischen Abflüsse ein konstanter Wasserspiegel herbeigeführt würde, der die Schönheit des Sees das ganze Jahr über zur Geltung bringen würde.

Berichte über das Projekt mit Dank an die Kollegen und Kolleginnen:
https://www.meinbezirk.at/tag/natur-refugia

Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor und Journalist, lebt bei Innsbruck. Alois Schöpf schreibt seit 37 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 28 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Limbus: Vom Sinn des Mittelmaßes (2006), Heimatzauber (2007), Die Sennenpuppe (2008), Platzkonzert (2009), Die Hochzeit (2010), Glücklich durch Gehen (2012), Wenn Dichter nehmen (2014), Kultiviert sterben (2015) und Tirol für Fortgeschrittene (2017). Zuletzt erschien in der Edition Raetia Bozen gemeinsam mit dem Fotografen und Regisseur Erich Hörtnagl "Sehnsucht Meer, Vom Glück in Jesolo", die italienische Übersetzung wurde zeitgleich präsentiert. Und es erschien, wieder bei Limbus, "Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen". Schöpf ist auch Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte und leitete das erfolgreiche Bläserfestival fünfundzwanzig Jahre lang bis 2019.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Fritz Gurgiser

    Schade, dass du nicht einmal selber dabei warst, als es darum gegangen ist, das zu verhindern, was heute links neben dem See nicht als Schmuckstück, sondern abgewirtschaftete Ruine steht. Dann hättest du das miterlebt, woran es wirklich gescheitert ist: An ein paar Personen, die sich die wichtigste Frage nie gestellt haben: Was ist die beste mach- und finanzierbare Lösung, die für dieses einzigartige Naturjuwel UND das Tal etwas für die nächsten Generationen bringt? Das kommt in diesem Aufsatz nicht oder zu wenig vor, wo vieles richtig und vieles unrichtig dargestellt wird. Es ist nicht an der Politik, nicht an Behörden und nicht an Personen gescheitert, die sich vieles vorstellen haben können, es ist am Geld und am Einzelinteresse sowie an rücksichtsloser Verbohrtheit bis hin zu Narrentum gescheitert. Schade, denn auch ich gehöre zu denen, für die das Naturjuwel Obernberger See eine Riesenchance für die gesamte Talschaft gewesen wäre – aber nicht für Massen- sondern nur für Klassentourismus mit Boden- und Talhaftung sowie dem, was der Tribulaun verhindert, wenn er nicht bestiegen wird: Weitblick. Fritz Gurgiser

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