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Helmuth Schönauer bespricht für
Buch aus Tirol:
Robert Prosser
Verschwinden in Lawinen
Roman

Wie kaum ein anderer Wirtschaftszweig ist der Tourismus davon abhängig, dass er auch von jenen mitgetragen wird, die ihm am liebsten aus dem Weg gehen würden. Denn ähnlich dem Sozialismus in der DDR ist er eine Lebensform, die von den Internen Mitarbeitern des Dorflebens überwacht und eingefordert wird.

Robert Prosser ist in einem Alpendorf groß geworden, seine Heimatgemeinde trägt sogar das Label „Alp“ im Ortsnamen. Wie viele Intellektuelle und Schriftsteller ist er früh von zu Hause aufgebrochen, um jenen Teil der Welt zu erkunden, der im Tourismus nicht vorkommt.

Legendär sind seine Romane über den Kaukasus, den er als Abrundung zu Geschichten am Schwarzen Meer mehrfach erkundet hat. Wegen der Kriege, die in diesen Ländern oft heimlich aufbrechen, wurde seine literarische Tätigkeit mit den Reportagen Hemingways verglichen, der ja seine Helden ebenfalls in amorphen Kriegen auftreten lässt.

Zu dieser Schreibmethode gehört es, das martialische Treiben des Tourismus unter dem Mantel von vorgespielten Traditionen zu hinterfragen. Hier lässt sich Prosser abermals mit Hemingway vergleichen.

Im aktuellen Roman Verschwinden in Lawinen zeigt sich ein Dorf, das von der eigenen Archaik verschüttet worden ist. Während in den Prospekten ein funktionierendes Busy-Land gezeigt wird, gehen Risse durch die Familienstränge, als ob der Kitt des Permafrosts selbst den Halt verloren und die Dörfer aufgeweicht hätte.

Die Deformationen der Protagonisten beziehen sich einerseits auf die eigenen Vorfahren, denen sie nicht mehr in Anspruch und Erinnerung gerecht werden, andererseits sind die Helden nicht mehr fähig, ein soziales Zusammenleben zu organisieren, ohne dass nicht ständig der Tourismus bis in die intimsten Gedanken vordringt.

Zu den Molochen die ein solch aufgemotztes Dorf bedrohen, gehören selbstverständlich Lawinen, die seit ewigen Zeiten über die Abhänge donnern.
Der Held Xaver steht mitten im Geschehen, denn er muss quasi den Roman freischaufeln, der in einer Rinne als Lawine abgegangen ist.

Das junge Liebespaar Noah und Tina ist verschüttet worden; während man die Frau im nahen Krankenhaus erfolgreich reanimiert, fehlt vom Jungen jede Spur. Das ganze Dorf scheint sich anlässlich solcher Lawinenabgänge beim Sucheinsatz zu treffen, in den Pausen beredet man die Lage der Einheimischen, Freunde und Nachbarn. Lawinen sind der Treffpunkt, an denen man ohne Tourismus über sich selbst reflektiert, und sei es auch nur in Gestalt von Gerüchten und Vermutungen.

Für Xaver löst jede Lawine zwei Suchaktionen aus: die unmittelbare, offizielle, die man nach ein paar Stunden meist einstellt, und die private, persönliche, wenn man nicht aufhören kann mit dem Suchen, weil es so viel verschüttetes Biographie-Material gibt.

Während man wieder in den Dorftrott zurückkehrt, die Kellner wieder in die Servieruniform wechseln und die Rezeptionistinnen auf schön machen, geben Xaver und sein Freund Flo nicht auf, sie wollen den Verschollenen privat suchen.

Schon der Großvater ist seinerzeit bei einer Lawine verloren gegangen und konnte erst Wochen später als kleine Zeitungsnotiz von einem Rentnertod ordnungsgemäß der Erinnerung überantwortet werden.

Auf dem Weg zu seiner persönlichen Lawine durchkämmt der Held sein Leben, das er ursprünglich wie die Hauptfigur auf dem Dorftheater anlegen wollte. Xaver spekulierte darauf, sich dank selbst erlernter Fertigkeiten für eine Hauptrolle zu empfehlen. Er wollte nicht mehr der Hirte sein, sondern der Mönch, der die mythischen Wesen bannte; nicht mehr der verlassene Gemahl, sondern der weltgewandte Liebhaber. Und nicht der Lotto-Millionär, nein, er sah sich viel eher in der Rolle jenes alpinen Vigilanten, der den Gewinn raubt und damit eine Kompanie von Strauchdieben ernährt. (78)

Nichts von dieser Theaterwelt ist in der Realität durchgekommen, während der Saison arbeitet er als Handlanger des Tourismus, sein Markenzeichen ist der Schlachtschussapparat Blitzer, mit dem er als der Letzte im Tal Hausschlachtungen vornimmt. Seine Mutter ist auf eine Alm gezogen und ins Alkoholische abgewandert. <sie hätte alles haben können, wenn sie den Touristen manchmal schön getan hätte.

Er selbst darf nicht daran denken, in welchen Betten er liegen könnte, wenn er nachts partikellos durch die Dunkelheit strömt, um mit den Blicken hineinzufensterln, wo sich drinnen die erotischen Darstellerinnen im Schlaf winden.

In einem Kraftakt bäumt sich Xaver noch einmal auf, den Vermissten aufzuspüren. Er besucht seine Mutter und legt den Schlachtschussapparat auf den Tisch, weil sich so besser die Anekdoten erinnern lassen. Nebenan wohnt der Einsiedler Mathoi, der längst mit der Gesellschaft abgeschlossen hat und versucht, mit den alten Hausmitteln des alpinen Überlebens über die Runden zu kommen.

Ja, er hat Noah gefunden und gerettet, und ihn am Leben gehalten, während alle nach ihm gesucht haben. Weil er die Lawine überstanden hat, soll er nicht mehr zurückkehren in die Gesellschaft, denn es ist das moderne Leben, das die Menschen als Lawine überkommt, meint der Randsiedler.

Robert Prosser lässt seinen Helden in den Lawinen aus Tradition, Volksglaube und Archaik graben in der Hoffnung, dass Überlebende dabei sind. Währenddessen laufen die Geschäfte wortlos über das Dorf hinweg wie eine Welle, die keine Widerrede verträgt. Es sind Geschichten wie aus dem Kaukasus, die in Nebenschauplätzen ausgebreitet werden. Das einzig brauchbare Erinnerungsstück ist der Schlachtschussapparat, mit dem man früher zu den Tieren gesprochen hat.

Je bunter das öffentliche Glück durch die Hotels wabert, umso verdüsterter lehnen sich die Einheimischen an die nächstbeste Wand, um Luft zu holen.

Robert Prosser: Verschwinden in Lawinen. Roman.
Salzburg: Jung & Jung 2023. 192 Seiten. EUR 22,-. ISBN 978-3-99027-273-2.
Robert Prosser, geb. 1983 in Alpbach, lebt in Alpbach und Wien.


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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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