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Christoph Themessl
Die Stunde der Zeichendeuter
Über Perspektiven- und Paradigmenwechsel
Essay

Paradigmen sind im weitesten Sinne – wie sie auch hier zu verstehen sind – basale Voraussetzungen gemeinsamen oder auch kulturspezifischen Weltverständnisses. Jedes Mal, wenn es zu einem Wechsel kommt, ist das im übertragenen Sinn durchaus mit schweren Erdbeben oder größeren Mutationen im Erbgut zu vergleichen. Die Dinge sehen hernach zumindest anders aus.

Der Begriff Paradigmenwechsel stammt vom Philosophen Thomas S. Kuhn, der sich in seinen wissenschaftstheoretischen Arbeiten im 20. Jahrhundert damit auf veränderte Rahmenbedingungen der Beobachtung durch neue wissenschaftliche Apparaturen, neue Fachbegriffe, gesellschaftliche Entwicklungen u. ä. bezog.

Paradigmen haben so wie Theorien dann ausgedient, wenn ihre Terminologien (ihr Wortschatz) nicht mehr ausreicht, eine Anzahl relevanter, zu beobachtender Phänomene zu erklären (und damit verbundene Probleme zu lösen), wodurch eben ihr Wechsel notwendig wird.

In der alltäglichen, empirischen Forschung gehören kleinere Paradigmenwechsel zum Alltag. Unter dem Gesichtspunkt von Versuch und Irrtum wird mit Thesen und Theorien nicht selten wie mit Aktien spekuliert; bringen sie nichts, dann verwirft man sie eben wieder. Das sind dann aber eher nur Perspektivenwechsel innerhalb eines grundsätzlich funktionierenden theoretischen Gebäudes (Paradigmas) der Disziplin.

Richtige Paradigmenwechsel sind hingegen so etwas wie geistige Mutanten der Weltgeschichte. Sie verändern unsere Perspektive des Lebens im Großen und Ganzen, unser Weltbild. Sie können wissenschaftlicher oder auch soziokultureller Herkunft sein. Sie können bisweilen Fluch, aber auch Segen bringen.

Ein klassischer Paradigmenwechsel, auf den sich auch Christoph Kuhn bezog, war jener vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild. Das Modell der Erde mit dem Menschen im Mittelpunkt der Welt war mit neueren Beobachtungen und Berechnungen, die etwa N. Kopernikus und G. Galilei mithilfe von Dreistab und Fernrohren anstellten, nicht mehr in Übereinstimmung zu bringen.

Es folgte ein schweres Erdbeben, das aber erst nach und nach ins Bewusstsein aller Menschen drang und dieses veränderte. Das irdische Dasein als göttliche Komödie oder Schicksalstragödie mit Hauptakteur Mensch wurde auf der zentralen Bühne unter dem gestirnten Himmel noch lange und trotz anderslautender wissenschaftlicher Erkenntnisse, die uns theoretisch ins leere All stießen, authentisch zur Darstellung gebracht.

Auch Einsteins Relativitätstheorie oder die Quantenphysik, welche die klassische Physik Newtons auf das Bedeutsamste ergänzten, veränderten nicht unseren persönlichen Sinneseindruck. Und auch zur Bewältigung des Alltags bedürfen wir nach wie vor in erster Linie der Physik Newtons mit ihren praktischen Erklärungen rund um Schwerkraft, Hebel, Farben etc.

Quasi erst durch die Hintertür des Welttheaters, durch den zweitrangigen Lieferanteneingang intellektueller Requisiten, und nur langsam, wie die Geschichte der großen Ideen eben geht, durch dunkle Kanäle der Menschen Gehirne, die sich mit dem Unerhörten erst vertraut machen müssen, nach eintausend vorsichtigen Proben gewissermaßen, schleichen sich die rein abstrakten Paradigmenwechsel der Wissenschaften auf die Bühne sinnlicher Darstellung und beginnen dort die Rollen zu beeinflussen: Agnostizismus, Atheismus, Relativismus, Subjektivismus, Solipsismus, Fiktionalismus sind die Kinder von Physikern, auch wenn die Eltern oft die Namen späterer Philosophen tragen. (Die traditionell mit der Physik verbrüderten Philosophen sind häufig das Sprachrohr der Physik, was ihnen leider selbst nicht immer bewusst ist.)

Erst über Jahrhunderte lernte sich das Individuum als Molekül des Universums zu betrachten und als solches zu reflektieren. Manche nannten den Mündigkeitsprozess, der damit einherging, Aufklärung.

Paradigmenwechsel müssen allerdings nicht zwangsläufig wissenschaftlicher Natur sein. Bis heute ist es meines Wissens im Detail nicht geklärt, wie die polytheistischen und naturphilosophisch ausgerichteten Griechen auf den Monotheismus der alten Ägypter unter Echnaton (Amenophis IV) und des israelischen Volkes gekommen waren. Der Eingottglaube, der sich spätestens in Platons Ideenlehre bemerkbar macht (zumindest ist bei ihm die Idee des Guten die höchste aller Ideen) und von da an wie ein hypothetisches Bekenntnis die Philosophien der Nachfolger begleitet, war gekommen, um zu bleiben, auch wenn jeder Beweis für seine Richtigkeit trotz eintausend Bemühungen bis heute aussteht.

Der Monotheismus erfasste über die Figur des Jesus und das so genannte Ur-Christentum die römische und westliche Welt und über den Feldherrn Mohamed die östliche Kultur. Karl Jaspers bezeichnete diese Phase der Geschichte als Achsenzeit der menschlichen Entwicklung. Der Monotheismus war auf jeden Fall ein geistiger Mutant der Weltgeschichte größtmöglichen Ausmaßes, wobei dahingestellt bleiben soll, ob die Mutation eine vorteilhafte oder auf längere Sicht für die Menschheit als Ganze eine geistespathologische Katastrophe war – insofern der Monotheismus nicht nur ein Paradigma, sondern auch ein kritikunfähiges, absolutistisches Dogma ist.

Zu den jüngeren Paradigmenwechseln (wie gesagt hier immer im weiteren Sinne zu verstehen) darf man auch den Darwinismus und die Psychoanalyse nach S. Freud zählen. Der Schock, sich in nächster Verwandtschaft mit den Affen zu befinden (Abstammungslehre), saß und sitzt sogar heute noch bei vielen tief. Die zufällige Entstehung der Arten, das angebliche Naturprinzip der Selektion, welches die Schwächsten und schlecht Angepassten aus der Evolution ausscheide, erschien selbst Charles Darwin zu seinem eigenen Kummer (er hatte ja als Student am Christ´s College in Cambridge drei Jahre lang theologische Studien getrieben) als Mord an Gott. Das evolutionsbiologische Paradigma rächt hier fast versehentlich ausgerechnet in der Gestalt eines verkappten Priesters das monotheistische Paradigma, so dass die laufenden Wechsel durchaus auch ihr Gutes haben können, könnte man vielleicht sagen.

Ganz ähnlich schmerzte Freuds Psychoanalyse: Dass wir nicht Herr im eigenen Hause seien, sondern häufig Triebtäter unbewusster Motive, kränkt bis heute einen Teil der menschlichen Gesellschaft, jenen Teil, der sich so gerne für die Krone der Schöpfung hält.

Die Dezentralisierung der irdischen Bühne, die zufällige Herkunft eines Tiers namens Mensch und die Entdeckung unbewusster Triebdynamiken waren, wie Freud es einmal sagte, die drei großen Kränkungen der Menschheit. Zumindest aus europäischer Sicht ist das richtig.

Jedes Mal, wenn ein Paradigmenwechsel ansteht, hat dementsprechend die Stunde der Wortklauber und Zeichendeuter, der sophistischen Auslegungskünstler geschlagen. Schließlich geht es um einiges. Auch ein Hegel oder Marx waren Begriffsakrobaten, und der Marxismus bedeutete einen Paradigmenwechsel des menschlichen Selbstverständnisses. Die Philosophie Heideggers ist reines Sprachspiel, lange bevor dieser Begriff durch L. Wittgenstein in die Geistesgeschichte eingegangen ist und im Anschluss an ihn ein bedeutender Teil an Philosophen den menschlichen Geist in ein Zeichensystem aufzulösen versuchte; dass Sprache schon das ganze Bewusstsein sei – und nicht etwa ein lautliches Anhängsel an den inwendigen, angeborenen Geist –, dass wir mit Zeichen und ihren Bedeutungen spielen, war immerhin ein philosophischer Perspektivenwechsel um die Mitte des 20. Jahrhunderts zum Thema Bewusstsein.

In der programmierten, künstlichen Intelligenz, die sich neuerdings in unseren Computern und Mitbewohnerinnen namens Alexa oder Siri zu Wort meldet, könnte sich der Perspektiven- zu einem Paradigmenwechsel ausweiten.

Auf der anderen Seite droht unsere Gegenwart dank symbolsprachlicher (bildsprachlicher) Medien einen neuen Analphabetismus in die Zivilisation zu tragen und sich selber schon, ehe sie der künstlichen Intelligenz noch folgen könnte, in einem Paradigmenwechsel mit stark atavistischen Zügen zu verlieren: der Affe Mensch mit Bildchen-Sprache. Das wäre dann die erste große wirkliche Regression der menschlichen Entwicklungsgeschichte.

Vorbereitet wiederum durch Informationstechnologie werden Funktionen des realen Lebens auf ein einfacheres, leicht zu bedienendes, ja auf ein Trottel-Niveau übersetzt, und die Wirklichkeit schließt sich den Bildchen an. Für den alltäglichen Austausch daneben genügen einige Interjektionen der Trieb- und Instinktmeldungen.

Aber sehen wir nicht schwarz. Ein Teil der Menschheit wird immer wach und auf Sinnsuche bleiben. Ein ernsthaftes, neues Paradigma, eine umwälzende wissenschaftliche Erkenntnis wie die kopernikanische Wende, ein revolutionärer Wurf wie Napoleons code civil wäre eine Erlösung in einer alles in allem ratlos erscheinenden Zeit. Immer mehr Menschen leben in Kokons, leiden unter narzisstischen oder egomanischen Störungen, stecken noch im Homeoffice aus der Corona-Zeit oder verweigern hinter Gier, Geiz, Rücksichtslosigkeit weitestgehend ihre Teilhabe an der menschlichen Gemeinschaft. Sehnen sich die Menschen hinter der Verbitterung nicht nach einem neuen Sinn?

Bringt ihn uns womöglich die grüne Wende der Nachhaltigkeits-Technokraten? Oder vielleicht die moderne Quantenphysik a la Anton Zeilinger in Union mit einem spätabendländischen Buddhismus…?

Der Autor, Christoph Themessl, leitet in Lans eine Praxis mit Schwerpunkt Existenzanalyse


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Christoph Themessl

Christoph Themessl, Dr., geb. 1967 in Innsbruck, ist Schriftsteller, Philosoph und Journalist. Er arbeitete für zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften und war mit seiner Firma PR-Zeitungen Themessl als Magazin-Produzent fünfzehn Jahre lang selbständig. Zu seinen Publikationen zählen: „Der Tod kann warten“ (Roman; 1997), „Bewusstsein und Mängelerkenntnis; Philosophische Psychologie für die Praxis“ (studia Verlag, 2013), „Als die Seele denken lernte“ (studia Verlag, 2016) und „Sinn- und Sinnlosigkeit. Die Entscheidung des philosophischen Praktikers“ (LIT Verlag, 2021). Themessl betreibt in Lans eine philosophische Praxis namens „Safe House – das Sorgendepot“ und arbeitet in der Behindertenhilfe des Landes Tirol.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Susanne Preglau

    Vielen herzlichen Dank für Ihren Beitrag zu Paradigmenwechsel und Philosophie im schoepfblog.
    Aufgrund meiner beruflichen Beschäftigung mit Fragen der Wissenschaftstheorie von Karl Popper bis Thomas Kuhn am Institut für Soziologie der Universität Innsbruck und meinem privaten Interesse an populärwissenschaftlich philosophiegeschichtlicher Überblicks-Literatur von Jostein Gaarder bis Richard David Precht erscheint mir Ihr Text besonders erhellend (Aufklärung wird im Englischen nicht umsonst als „enlightenment“ bezeichnet!)
    Nach einer Dokumentation dieser Tage im ORF über Sigmund Freud, Alfred Adler und Viktor Frankl würde ich gern mehr über Ihren Zugang zur „Existenzanalyse“ erfahren – vielleicht in einem weiteren Beitrag im schoepfblog?

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