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Helmuth Schönauer
Identitätsschmelze
Stichpunkt

Was täglich auf uns eindrischt, macht uns mit der Zeit so mürbe, dass wir es einfach im Leben mitlaufen lassen, ohne noch einen Gedanken darüber zu verschwenden, wie uns geschieht.

1.
Vor einiger Zeit hat im schoepfblog Werner Schandor davon erzählt, wie der Moloch Microsoft von klein auf die Schüleraccounts weltweit mit seinem Office besetzt, so dass seine Weltherrschaft zumindest in der jüngeren Hälfte der Jahrgänge längst eingetreten ist.

Wir Älteren merken anlässlich von Updates, dass wir wieder ein Stück weit vom Konzern übernommen worden sind. Bill Gates übernimmt uns nicht qua Impfung, wie einige Denkspezialisten glauben, sondern qua Download, wenn wir freiwillig sein Programm installiert haben.

2.
Ein nicht minder hartnäckiges Einschleich-Reptil ist der ORF, der sich mal als Religion, mal als ungewählte Partei geriert.

Während man aus der Kirche aber austreten kann, ist man dem ORF ungeschützt ausgesetzt. Sein Inkasso wird bei jenen, die nichts mit ihm zu tun haben wollen, als eine Art informelle Schutzgelderpressung empfunden.

Dabei sind die meisten Jahrgänge bis ins tiefste Altersheim hinein schon alle auf Sender außerhalb des ORF einprogrammiert.

Die Pflegerin fragt Arte oder RTL?, ehe sie das Licht löscht und die Insassen lichtgedämmt dem Einschlafen überlässt.

Die jüngeren Jahrgänge kriegen von diesen Ritualen wenig mit, denn sie halten  den ORF schon längst für die Abkürzung irgendeines Amtes, mit dem man besser nichts zu tun hat.

3.
Die dritte Einrichtung, die uns aus Fahrlässigkeit lieb geworden ist, ist das berühmte Wikipedia.

Völlig ungehemmt rufen wir es bei jeder Gelegenheit auf und es stellt uns meist zufrieden, weil wir oft nur belanglose Dinge wie Tisch und Stuhl nachschlagen und uns dabei überraschen lassen, dass es einen Unterschied zum Sessel oder zur Tafel gibt.

Dieses Vertrauen in die Beschlagwortung schlichter Dinge lässt uns glauben, dass alles in Wiki gut dargestellt und geregelt ist.

Als anlässlich des Überfalls auf die Ukraine Meldungen durchsickerten, dass man in Russland das ganze Wikipedia auf Sticks herunterlädt, weil man mit dem Abschalten des Netzes rechnet, wurden auch bei uns Gedankenspiele laut, wie man jenes Wissen sichern könnte, das von einem einzigen geistigen Anbieter betrieben jederzeit den Geist aufgeben könnte.

Spätestens seit beim Anklicken von Wiki Spendenaufrufe aufblitzen, wird den Usern klar, dass diese Schwarm-Intelligenz verschwinden und atomisiert werden kann.

Ein Gemeinwesen wie Österreich würde über Nacht zugrunde gehen, denn niemand wüsste mehr, wie man ohne Wiki kocht, isst oder Krankheiten beschreibt.

Die wenigsten wissen, dass auch Wiki einen Besitzer hat. Nur weil dieser als Stiftung auftritt, ist das noch lange keine Garantie dafür, dass er nicht eines Tages alles verkauft, kostenpflichtig macht oder überhaupt löscht.

Vermutlich würden die meisten gar nichts von einem Verkauf mitbekommen, solange die dargebotenen Begriffe wie sinnvolle Wörter ausschauen.

4.
Der Verkauf von Twitter an den reichsten Menschen der Welt (ist das überhaupt noch ein Mensch, oder schon ein Konto?) zeigt, wie fragil letztlich alles ist, was wir täglich in der Hand halten.

Der Schock über den Twitter-Deal sitzt mittlerweile global in den Knochen der User. Das eherne Gesetz, dass in einer kapitalistisch organisierten Gesellschaft auch das Wissen kapitalistisch organisiert ist, lässt uns erschaudern.

Denn das Geld wird keine Ruhe geben, bis es nicht alle Netze aufgekauft und durch semantische Kernschmelze zu einem einzigen Besitzer-Satz eingedampft hat: Ich bin ich!

Millionen huldigen mit ihren Tweets dem neuen Gott, kaufen Häkchen und Gadgets, lassen sich zensieren oder verhöhnen und prahlen damit, dass es ihnen nichts ausmacht, mit dem neuen Tweet-Chef ein neues Über-Ich zu übernehmen.

5.
Als Königin dieses weltumspannenden Über-Ichs gilt in literarischen und philosophischen Kreisen Ayn Rand (1905 – 1982), die bei uns kaum bekannt ist. Gegen sie war Margret Thatcher ein Gänseblümchen! lautet eine recht griffige Beschreibung.

Gestählt von der Oktoberrevolution ging sie 1924 mit einem Touristenvisum nach New York und entfaltete bald ihre Philosophie in Romanen und Essays, wonach ein klug entwickeltes Ego allen Staats- und Denksystemen weit überlegen sei.

In österreichischen Bildungskreisen hält man sich von ihren Schriften fern, weil sie schlicht, gottlos schön und atheistisch sind. Manche sagen auch Ego-Trash dazu. Vor allem die dargestellte Moral ist durchaus überlegenswert: Sie ist letztlich nichts anderes als eine Währung, welche die alltäglichen Kursschwankungen mitmacht.

Die Philosophie der Ayn Rand steht über dem Ansinnen jener Netzwerke, die uns im Alltag schon längst umgarnt haben. Dazu gehört es auch, dass wir nichts von Ayn Rand wissen sollen, damit wir uns besser auf die Protagonisten ihrer Denke einstellen können.

Diese rauschen als Musk und sein Klon Trump durch die Netze, um bei dieser Gelegenheit gleich unsere Identität zum Schmelzen zu bringen. Teilweise ist diese Schmelze sogar einer offenen Hingabe geschuldet, so wie man ja im Kitsch das Herz oft in Liebe dem Leeren entgegenschmelzen lässt.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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