Print Friendly, PDF & Email

Norbert Hölzl
Der Dammbruch Richtung Ukraine-Krieg
Essay

In seinem Buch Wer beherrscht die Welt? – Die globalen Verwerfungen der amerikanischen Politik schrieb Noam Choms­ky: Nach der Zustimmung Gorbatschows zur deutschen Wiedervereinigung versicherte ihm Präsident Bush,

„dass sich die NATO nicht einen Zentimeter nach Osten ausdehnen würde … Verständlicherweise war Gorbatschow verärgert, als dem dann nicht so war. Aber als er sich beschwerte, wurde ihm seitens Washingtons erklärt, es habe sich nur um ein mündliches Versprechen gehandelt, eine Art Gentleman’s Agreement, das folglich nicht bindend sei. Präsident Bill Clinton trieb die Expansion der NATO sogar bis an die Grenze Russlands. Heute sieht sich die Welt mit einer ernsthaften Krise konfrontiert, die in nicht geringem Maße Folge dieser Politik ist.“.

Geschrieben fünf Jahre vor dem Einmarsch in die Ukraine.

In nur 14 Jahren traten alle Warschauer-Pakt-Staaten der NATO bei. Niemand hätte sich das 1990 vorstellen können. Gorbatschow hat sich wortreich verteidigt, er habe sich vom Westen nicht über den Tisch ziehen lassen. Aus russischer Sicht hat er sehr schlecht verhandelt, aus westlicher Sicht eher schlecht. 1990/91 hätte man ihm Neutralität für alle Warschauer-Pakt-Staaten zweifellos zugestanden. Russland würde sich heute sicher fühlen und die EU müsste sich nicht vor ihren Höchstgerichten mit Nicht-Netto-Zahlern wie Ungarn oder Polen herumstreiten.

Chomsky bringt es auf den einfachen Punkt: Auf US-Raketen in Polen oder gar in der Ukraine reagiert Russland genauso gereizt wie die USA reagieren würden, wenn eine mexikanische Linksregierung russische Raketen aufstellen ließe – was sich ja in Kuba schon gezeigt hat, als die Raketen nicht nach Kuba kamen und im Gegenzug die US-Raketen in der Türkei sehr stillschweigend entfernt wurden. Erst als die Welt vor dem Abgrund eines Atomkrieges stand, lenkte Chruschtschow ein. Das war 1962.

Sechzig Jahre später rückte die russische Invasionsarmee an die Grenzen der Ukraine. Natürlich nannte man das Manöver. Aber es war alles offensichtlich und keineswegs ein Überfall aus dem Hinterhalt wie bei Hitler 1941.

Gebetsmühlenartig wiederholte Putin seinen Vorwurf und seine Forderung, die sich Jahre vorher schon Jean-Claude Juncker in stundenlangen Gesprächen angehört hatte: Nicht wir, die Russen, sondern ihr rückt ständig näher an uns heran. Wir wollen eine schriftliche Garantie, dass die Ukraine nicht der NATO beitritt.

Dass US-Raketen in Polen aufgestellt wurden, empfand der Kreml als Provokation, aber jetzt noch einmal 500 Kilometer näher an Moskau US-Raketen in einer ehemaligen Sowjetrepublik wäre für einen Kreml-Herrscher wie Putin so provokant wie einst Kuba für Kennedy.

Schon Juncker räumte ein, dass der Westen nicht immer klug gehandelt habe. Dass ein Papst einen Angriffskrieg wie jenen in der Ukraine verurteilt, ist selbstverständlich. Beim Einmarsch der Russen in die Ukraine brach Franziskus mit dem diplomatischen Protokoll. Ein Staatsoberhaupt bittet oder bestellt einen Botschafter an seinen Regierungssitz. Franziskus aber ging in die russische Vertretung, drückte seine Besorgnis aus und bot seine Vermittlungsdienste an.

Als er dann von den Plänen des Westens für milliardenschwere Rüstungsausgaben zugunsten der Ukraine erfuhr, nannte er sie Irrsinn und sagte in einer Audienz: Ich habe mich geschämt. Erschütternd, dass sich nur Franziskus schämt. Im Petersdom rief der Papst auf, Reue zu zeigen, nicht aus der Geschichte gelernt zu haben. Krieg ist eine Niederlage für die Menschheit. Im Krieg gibt es keinen Sieg.

Eine gute Erklärung für die Katastrophe böte auch der große Schweizer Theologe Hans Küng, der nicht immer einer Meinung mit dem Vatikan war. Im Projekt Weltethos 1990 empfiehlt er den ständig Krieg Führenden vor allem im Nahen Osten, die Türen offen zu halten auch für Andersdenkende, denn dann werden sie nicht das Haus anzünden, und er fordert, das Gespräch nie abreißen zu lassen, denn wer mitsammen im Gespräch ist, schießt nicht auf den anderen.

Für Putin hat der Westen schon lange die Türen geschlossen. Gespräche bei den großen Wirtschaftsgipfeln finden zwar mit Großmächten wie Italien statt, nicht aber mit dem größten Land der Erde.

Gorbatschow hat seit 1989 viel geschrieben über Das gemeinsame Haus Europa und die Zukunft der Perestroika, aber er dachte in einer globalisierten Welt nicht nur an eine Umgestaltung des Ostens, sondern auch des Westens. Weder der Osten noch der Westen folgte seinen Visionen. So endete der Visionär als Politpensionär und tragischer Held.

Der Ukrainekrieg wirkt wie die Darstellung des Vietnamkrieges in Barbara Tuchmans Die Torheit der Regierenden. Jahre vor Kriegsende wusste man auch in den USA, dass dieser Krieg nicht zu gewinnen war, aber man führte ihn weiter zur Freude der Waffenindustrie und zur Verzweiflung der Bevölkerung.

Christopher Clark nannte jene, die 1914 die erste Weltkatastrophe auslösten ohne es eigentlich zu wollen und ohne die Verheerungen zu ahnen, Schlafwandler. Jene, die neben dem größten Kernkraftwerk Europas Krieg führen und feuern, kann man nicht Schlafwandler nennen. Es sind Brandstifter. Dabei gibt es nirgends jene ahnungslose Kriegsbegeisterung wie 1914.

Mitten im Morden zwischen Deutschen und Franzosen sollten sich in der Schweiz jene Dichter und Denker Deutschlands und Frankreichs treffen, die immer schon gegen den Krieg waren. Es kamen Romain Rolland aus Paris und Stefan Zweig aus Wien. Sonst niemand.

Am 29. Juni 2022 war es doch etwas anders. 20 führende Schriftsteller und Denker unterzeichneten einen offenen Brief in der Zeitung Die Zeit. Sie forderten vom Westen so wie der Papst nicht schwere Waffen, sondern die Schaffung eines Klimas für Verhandlungen in einem Krieg, der nicht zu gewinnen ist.

Der ukrainische Botschafter in Berlin verfiel daraufhin in eine Vulgärsprache, die in der Geschichte der Diplomatie beispiellos sein dürfte. Andrij Melnik schrieb: „Schert euch zum Teufel! … Ihr Haufen pseudointellektueller Versager.“ Man hat Botschafter hochbezahlte Briefträger genannt. Propaganda und Politik gehören eigentlich nicht zu ihrem Berufsbild. Hier wurden führende Denker eines Staates beflegelt.

Botschafter wurden schon wegen weit geringerer Entgleisungen zu unerwünschten Personen erklärt. Herr Melnik blieb trotz allem bis zum 14. Oktober 2022 in seinem Amt in Berlin. Ein Schlafwandler ist er ebenso wenig wie sein Kollege in Wien. Vasyl Khymnet erklärte in einem Interview mit der Tiroler Tageszeitung am 2. August 2022 den Krieg so: „… die Moral der russischen Armee ist im Keller. Mit jedem befreiten Dorf wird Russland schwächer. Mit entsprechender Unterstützung können wir die Ukraine befreien. Und wenn es zu Verhandlungen kommt, können diese nur ein Ziel haben: die komplette Befreiung der Ukraine, und zwar ohne irgendeine Forderung seitens Moskaus“.

Welchen Spielraum sollen Verhandlungen haben ohne irgendeine Forderung des bisherigen Gegners? Das ist de facto jene bedingungslose Kapitulation wie im Zweiten Weltkrieg, die schon Papst Pius XII. vergeblich verurteilte.

Wer auf eine allmähliche Abrüstung der Worte der Berufsdiplomaten hoffte, wurde wenige Tage später neuerlich enttäuscht. Nach einem wiederholten Dank Selenskyjs für die US-Waffenlieferungen schrieb am 20. August 2022 der Botschafter Russlands bei den internationalen Gremien in Wien Michael Uljanow: Keine Gnade für die ukrainische Bevölkerung!

Der ukrainische Parlamentspräsident in Kiew warf dem Botschafter Endlösung und Völkermord vor und forderte die biederen Österreicher Van der Bellen und Nehammer auf, diesen russischen Diplomaten zu deportieren. Ich musste mehrmals lesen, um zu glauben, was ich da lese: Endlösung und deportieren.

Der Russe reagierte besonnen. Er nahm die Erklärung sofort vom Netz. Er sagte, er habe so emotional reagiert, weil immer wieder von Waffen die Rede war und nie von Diplomatie. Es sei eigentlich seine Absicht gewesen, ein Fragezeichen und nicht ein Ausrufezeichen hinter die Leiden der ukrainischen Bevölkerung zu setzen.
Es sah beinahe so aus, als dürfe man bereits hinter einem Fragezeichen einen Hauch von Hoffnung und Einsicht sehen.

Doch im Krieg der Worte wurde wenige Tage später die unselige Totale Kapitulation direkt ausgesprochen. Ex-Präsident Dmitri Medwedew, Vizechef des Nationalen Sicherheitsrates, drohte der Ukraine, die gerade Ortschaften zurückeroberte, auf Telegram mit der Forderung der totalen Kapitulation des Kiewer Regimes zu Russlands Bedingungen.

Vier Tage lang stellte Selenskyj seine Maximalforderungen an den Westen, um dann doch etwas abzurücken: Die sofortige Aufnahme in die EU – als Nettozahler wohl kaum, dann die NATO-Mitgliedschaft, damit andere für die Ukraine sterben, und einen sogenannten Marshallplan für den Wiederaufbau. Wer den finanziert, sagte er nicht. Vermutlich waren nicht jene gemeint, die einen großen Teil der ukrainischen Getreidefelder an China verkauft hatten. In welche Taschen diese Milliarden flossen, wird dem Westen eher nicht verraten.

Vorerst setzen westliche Staaten auf die Wirkung von Wirtschaftssanktionen. Sanktionen gegen Russland haben schon im 19. Jahrhundert das Gegenteil von dem bewirkt, was beabsichtigt war.

Ausgerechnet Bismarck, der stets um ein freundliches Verhältnis mit Russland bemüht war, ließ sich 1877 von den ostpreußischen Großgrundbesitzern, die Deutschen nannten sie die ostelbischen Junker, dazu drängen, Schutzzölle – ein anderes Wort für Sanktionen – gegen Importe aus Russland zu verhängen, denn das Getreide aus der Ukraine war billiger als jenes aus den weiten deutschen Ostgebieten. Die Schutzzölle füllten zwar die Staatskassen in Berlin, kühlten aber die bisherige Freundschaft zwischen Russen und Deutschland sehr empfindlich ab.

So bahnte sich die Zusammenarbeit Russlands mit Frankreich und England an, die 1914 in jenen Zweifrontenkrieg mündete, den Bismarck um alles in der Welt vermeiden wollte. 1918 verloren die besitzgierigen Junker einen Teil ihres Besitzes, 1945 verloren sie alles. Und die Bundesrepublik entschädigte viele dieser Junker auch noch für ihre einstige Gier.

Russland hat kein Problem, immer wieder eine Weltmacht als Partner zu finden. 1914 waren es die Noch-Weltmächte England und Frankreich, heute ist es China, eigentlich gegen alle kulturhistorischen und politischen Zusammenhänge, als man von einem Europa sprach, das von Lissabon bis Wladiwostok reicht.

Stalin dürfte solche Zusammenhänge 1952 ebenso gesehen haben wie Putin 2001. Diese Visionen sind erstaunlich alt. Als der deutsche Philosoph Johann Gottfried Herder gefragt wurde, ob Russland ein europäischer oder ein asiatischer Staat sei, gab er eine Antwort, die in die Geschichte einging: Dem größten Erdstrich nach zwar zu Asien, sein Herz aber liegt in Europa.

Schon um 1900 waren sich Forschungsreisende einig: Wenn China einmal erwachen sollte, wird Russland Europa dringend brauchen. Für die Mächtigen in Brüssel scheint China noch nicht erwacht zu sein.

Merkels einstige Fehlbesetzung als Heeresministerin, die nunmehrige Kommissionspräsidentin der EU Ursula von der Leyen hielt in Straßburg am 14. September 2022 ihre Rede zur Lage der EU. Soweit so gut, aber die optische Wirkung erschlug den Inhalt, sofern es einen gab. Die Dame verwandelte sich vor dem EU-Parlament gleichsam in eine Fahne. Sie kleidete sich in den Landesfarben Gelb-Blau, zusätzlich mit einer Ukraine-Schleife am gelben Blazer.

Mehrfach sprach sie ihren Ehrengast an, eine First Lady ohne politische Spitzenfunktion des Nicht-EU-Staates Ukraine, Olena Selenska. Von der Leyen kündigte ihre dritte Reise nach Kiew an, wo sie den höchsten Orden des Landes entgegennahm. In Moskau höhnte der Fernsehmoderator und Propagandist Wladimir Rudolfowitsch, warum diese stockdumme Frau nicht Deutsch spricht: Wieso sprechen Sie die Sprache eines Landes, das die EU verlassen hat? … Demütigen Sie Ihre eigene Sprache nicht!

Was hatten kurz vorher führende deutsche Schriftsteller von der EU gefordert? Sie möge ein Klima für Verhandlungen schaffen. Die höchstrangige Repräsentantin Europas, die sich in eine Fahne verwandelt hatte, ignorierte die Denker unserer Zeit ebenso wie im Ersten Weltkrieg die Kriegsgegner Romain Rolland, Stefan Zweig inklusive Papst ignoriert wurden.

Russland, dessen Herz laut Herder in Europa liegt, traf sich gleichzeitig in Samarkand mit China und anderen Staaten der Shanghaier Organisation. 2001 hat Putin vor dem Deutschen Bundestag Deutsch gesprochen. Aber die Deutschen haben den Russen nicht verstanden.


Aus: Norbert Hölzl: „Warum wir die Russen nicht verstehen“, Edition Tirol 2022

Wir danken für die Abdruckgenehmigung


Wenn Ihnen schoepfblog gefällt, bitten wir Sie, sich wöchentlich den schoepfblog-newsletter zukommen zu lassen, und Freundinnen und Freunde mit dem Hinweis auf einen Artikel Ihres Interesses zu animieren, es ebenso zu tun.


Weitere Möglichkeiten schoepfblog zu unterstützen finden Sie über diesen Link: schoepfblog unterstützen

Norbert Hölzl

Norbert Hölzl, Prof. Dr., ehemaliger Referatsleiter im ORF, Radio- und TV-Autor, TV-Regisseur und Buchautor.

Dieser Beitrag hat 5 Kommentare

  1. Rainer Haselberger

    Tschetschenien, Abchasien, Südossetien, Transnistrien, Syrien, Krim, Ostukraine, …Putin hat schon vor der Ukraine-Aggression erschöpfend gezeigt, was er sich unter einer friedlichen Koexistenz mit seinen Nachbarstaaten vorstellt! Vielleicht war das die Motivation der Warschauer-Pakt-Staaten, in die NATO zu drängen. Wenn nun sogar Finnland und Schweden, die im Kalten Krieg immer blockfrei waren, in die NATO wollen, muss Putin etwas falsch gemacht haben.

  2. Susanne Preglau

    Zum Text „Warum wir die Russen nicht verstehen“ möchte ich 3 Gedanken einbringen:
    1. schließe ich mich Andreas Niedermann an, der das Streben der Länder des ehemaligen Warschauer Pakts in die NATO mit deren berechtigter Sorge vor einem Übergriff Russlands erklärt.
    2. bin ich davon überzeugt, dass das Streben der Ukraine in die NATO, weil sie eben zu Recht einen neutralen Status n i c h t als ausreichenden Schutz vor einem Überfall Russlands ansehen kann, in keiner Weise als Rechtfertigung für Russland für einen Angriffskrieg dienen kann.
    3. Ist ein Plädoyer für „Verhandlungen in einem Krieg, der nicht zu gewinnen ist“ ein triftiger Grund, einem Land bei einem Angriffskrieg n i c h t bei seiner Verteidigung beizustehen?
    Wenn Russland die Ukraine ihrem Staat schon einverleiben will, dann sollen sie doch am Verhandlungsweg wenigstens einen dicken Batzen davon abkriegen?? Ein grotesker Standpunkt!

  3. c. h. huber

    wie sagte schon unser kanzler sinowatz einstens: alles ist sehr kompliziert!

    1. Andreas Niedermann

      Nein, ist es nicht. Ein faschistischer, imperalistischer Staat überfällt einen anderen. Was ist daran kompliziert?

  4. Andreas Niedermann

    Sieht so aus, als hätte nicht nur Deutschland Russland nicht verstanden. Sondern auch Autoren wie
    Dmitry Glukhovsky, Viktor Jerofejew, Vladimir Sorokin, Michael Chodorkowski oder der Russland-Kenner Emanuelle Carrére, um nur ein paar zu nennen.
    Vielleicht drängten die Länder des Warschauer-Pakts auch in die Nato, weil sie sich vor dem imperialistischen Russland fürchten, dessen Spezialität es ist, Nachbarn zu überfallen.
    Es ist zu begrüßen, dass der Schoepf-Blog auch Satirikern Gelegenheit bietet, ihre lustigen Texte zu publizieren …

Schreibe einen Kommentar