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Helmuth Schönauer bespricht:
Steve Dalachinsky: the veiled doorway / die verhüllte pforte
Translated by / übersetzt von
Jürgen Schneider
Händisch gebunden von Yeti Beirer

Wie bei vielen heiklen Tätigkeiten gibt es auch beim Lesen manchmal die Notwendigkeit, ein Arbeitsgerüst zu verwenden. Wie jedes Gerät, das die Arbeit erleichtert oder gar erst ermöglicht, verschwindet das Hilfsmittel nach dem Lesen wieder, und das Buch liegt ungeniert vor einem da, als wäre nie etwas geschehen.

Steve Dalachinskys zweisprachiges Buch „the veiled doorway / die verhüllte pforte“ ist eine bibliothekarische Rarität. Bei einer Auflage von 70 Exemplaren sollte man besser von einer Auslage in siebzig Unikaten sprechen. Die einzelnen Buchbögen nämlich sind in Handarbeit zusammengenäht, sodass das Handwerk des Bindens fließend in die Hand des Lesers übergeht. Über diese Hände fließt anschließend das Kunstwerk.

Mit dem Grundgerüst des Lesens fragt man am besten ungeniert sich selbst, was es mit dem Werk auf sich hat.

Was ist „the veiled doorway“? – Auf den ersten Blick ein Long Poem, das in 34 Sequenzen zerfällt, die nummeriert sind.

Welcher Kunstgattung ist das Werk zuzuordnen? – In der Nachbemerkung und auf den ersten Seiten heißt es, dass der Autor von Jazz eingenebelt ist, aus dem manchmal Eruptionen von Gedichten hervorsteigen. Ein poetisches Ich pocht an einer Stelle darauf, Poet zu sein, um in der nächsten Zeile zu behaupten, dass gegenwärtig der Status des Non-Poeten ausgepackt sei.

Wie lässt sich das Werk strukturiert lesen? – Am besten mit dem Gefühl, wie wenn man eine CD durchlaufen lässt. In den Pausen flüstert man: Oh, ein neuer Track, und am Schluss lässt man das Ganze vorerst einmal im Kopf verklingen, ehe man ein paar Besonderheiten herausfiltert.

Welche Motive machen die verhüllte Pforte einmalig und unvergesslich? – Es sind vielleicht die beiden durchgehenden Motive „Vögel“ und „Füße“. Ein logisches Begriffspaar. Die Vögel bedeuten, dass es sich um den Flug der Zeit handelt, und wo Vögel im Text sind, ist immer auch Lyrik dabei. Und die Füße verweisen auf das Irdisch-Bodenständige, das einen aber durchaus mobil hält.

An einer sogenannten Orgasmus-Stelle werden die Füße der Geliebten vom poetischen Ich abgeschleckt, während oben Vögel kreisen. Das übrigens ist der Höhepunkt des Poems.

Nach diesem ersten Durchlauf kann das Lesegerüst abgebaut werden, und der Leser steht ungeschützt dem Werk gegenüber, das ihn mit verschiedenen Wortpixeln anspringt.

Durch die Nummerierung der Sequenzen und die zu Wortgruppen eingeschmolzenen Zeilen entsteht ein optisches Gebilde, das jeweils an Fichtenzapfen erinnert, die hängend nach rechts gebogen sind.

Nach dem umfangreichen Introito, worin etwa die „verhüllte pforte“ definiert ist als ein Stück Unschuld, das rund um den Pariser Kulturknotenpunkt „Square Georges-Cain“ ausgelegt ist, werden die Eruptionen immer flacher und erreichen zwischendurch das Zucken einer psychiatrischen Dreizeilen-Befundung: „31. // Oedipus // hat seinen Vater // nicht ohne Grund getötet“ (30)

In mehrfachen Anschüben bemüht sich ein verdecktes Ich, ein Thema anzuschieben, wie das in poetischen Talkshows heißt. „Wenn du Dinge verlierst / denkst du immer du / verlierst Dinge“ (14) heißt so ein Thema, das sich in Blockbuchstaben in den Tageskalender brennt.

Manchmal sind Richtlinien für ein besseres Leben in die Elegie der Nutzlosigkeit eingestreut. „Rechtfertige nicht dein Tun, protegiere nicht die Protektion, es ist arbiträr. Unter diesem Hashtag kannst du eine Mail in den Wind schießen oder ein Stück Abfall essen.“

Die Ratschläge sind trotz ihrer Präzision sehr vage gehalten, denn die Empfehlung, unterschiedliche Emotionen zu untersuchen und anschließend mit Kanarienvögeln in unterschiedlichen Sprachen zu sprechen, ist eine Verfahrensweise, die nur bedingt für das Leben nützlich ist. Für das Dechiffrieren der Poesie freilich ist es ideal, wenn man der Aufforderung gehorcht, „aus dem eigenen Schwanz“ Federn und Fragmente aus Songs zu stehlen. (14)

Im letzten Drittel sucht das poetische Ich eine Identität außerhalb des Langgedichts zu gewinnen, nachdem es sich geoutet hat: „Ich bin gebürtiger Jude // Erdnussbutter und Matze // die Zunge klebt am Gaumen / die Sprache im Zaum und Ich“ (20).

Dieser Behauptung ist eine bunte „carte d’identite“ beigefügt, worin ausgeschnittene Papierfiguren einen Lexikoneintrag überlappen. Die Identitätskarte endet mit einer paradiesischen Collage: Zwei Taugenichtse sind unter einem fetten Baum dem Schatten der Langeweile ausgesetzt.

Das Ende ist ein weiter Satz, der dadurch mit der Welt verknotet ist, dass darin Groß- und Kleinbuchstaben vertauscht sind wie bei einem halb-öffentlichen Passwort.

„Du weißt, was Welt ist, ist ein absurdes Reich!“

Jürgen Schneider, der das Werk durch seine Übersetzung verdoppelt hat, indem sich jetzt jede Seite zu einer Flügelmappe aufklappen lässt, skizziert abschließend die Entstehungsgeschichte des Poems, das sich 2007 an verschiedenen Orten in Paris von selbst zusammengebraut hat.

In der Schluss-Notiz wird der Konnex zu Tirol gewürdigt. Beim Sprachsalz 2014 in Hall hat Steve Dalachinsky einen sogenannten interkontinental-interdisziplinären Auftritt hingelegt.

Die verhüllte Pforte ist Mahnmal, Lustobjekt, Gedächtnisstele und Poesie-Vulkan in einem. Der bibliophilen Ausgabe ist es übrigens egal, ob man sie im Regal der Beatniks oder der Jazz-Aficionados aufstellt.

Steve Dalachinsky: the veiled doorway / die verhüllte pforte. Translated by / übersetzt von Jürgen Schneider. Händisch gebunden von Yeti Beirer.
Zirl: BAES 2022. 36 Seiten. EUR 20,-. ISBN 978-3-9505283-1-2
Steve Dalachinsky, geb. 1946 in Brooklyn, starb 2019 in New York City.
Jürgen Schneider, geb. 1952 in Wiesbaden, lebt in Berlin.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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