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Helmuth Schönauer
Martialisch
Stichpunkt

Seit einem halben Jahr erscheinen am österreichischen Bildschirm laufend Berichte vom Krieg in der Ukraine.
Es ist unser Wehrschütz!

Eingepanzert in einer kugelsicheren Weste, mit dem Alarm-Schriftzeichen TV-PRESS versehen, spricht unter der Sonnenbrille eine besonnene Stimme heraus. Im Endeffekt ist alles skurril und furchtbar, man gewöhnt sich auch nach Monaten nicht an den Krieg. Seine Stimme ist so gehalten, dass sie auch bei Tageslicht gesendet werden kann, wenn Kinder zusehen.

Wie sehr wir uns an diese gemütliche Art gewöhnt haben, merken wir erst, wenn plötzlich ein echter Kriegsberichterstatter vor uns steht. In der Mittags-ZIB vom Montag taucht plötzlich Alexander Weglehner vom ORF-Tirol auf.

Er steht in Innsbruck vor dem Kaufhaus Tyrol, im Halb-Hintergrund die Annasäule, im Fernhintergrund die Nordkette. Es hat einen Stromausfall gegeben, blabla, Feuerwehr musste aus Liften befreien, blabla, Notstromaggregate angesprungen, blabla, Vorgeschmack auf Blackout, blabla, demnächt wird das Netz wieder online sein.

Obwohl er keine kugelsichere Weste, sondern ein schwarzes Hemd anhat, ist man bei Weglehner eher an Krieg erinnert als bei Wehrschütz.

Das hängt vielleicht damit zusammen, dass er zweimal abbrechen muss, weil man nichts hört. Beim zweiten Mal murmelt er etwas wie Scheißfluglärm, kriegt das Scheiß aber noch irgendwie weg, sodass nur ein Loch gesendet wird, in das der Lärm der startenden Mittagsmaschine gnadenlos hineindringt. Mehr Kriegslärm und Turbinenterror in einem zweiminütigen Beitrag geht nicht.

Der Auftritt vor der friedlichen Annasäule ist ein Glücksfall für die Berichterstattung mit Originalton. Bisher erzählten wir uns nur gegenseitig, dass wir den Winter über im Freien keine Gespräche führen können, weil ständig Flugzeuge über das Herz der Alpen fliegen. An einem gesättigten Winterwochenende sind es immerhin vierhundert Flugbewegungen.

Vierhundert mal bricht der Innsbrucker das Gespräch an einem Wochenende ab, wenn er es im Freien führt. Endlich einmal konnte diese martialische Tatsache live gesendet werden.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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