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Helmuth Schönauer bespricht:
Peter Giacomuzzi
Briefe an Mimi
1938 – 1944

Das Wohnzimmer der Literatur ist die Kiste, da fühlt sie sich wohl und beschützt und wartet mit dem Kistenbesitzer tapfer auf das Ende der Welt.

Peter Giacomuzzi ist von Kindheit an von dieser Literatur in der Kiste inspiriert. Bei ihm hat diese Verzauberung die Ausmaße einer Schuhschachtel und steht im Regal seiner Tante, die ihn durchs Studium füttert. In der Schachtel sind Briefe eines gewissen Toni, der als Bild neben dem Fernseher steht.

Später ist die Tante gestorben und der Erzähler erwachsen geworden. Mit größter Ehrfurcht sichtet er die Briefe und beschließt nach Jahrzehnten, sie im gefühlten Einklang mit der Tante diskret zu edieren.

„Briefe an Mimi“ ist ein Stück intime Geschichtsschreibung, wie sie seit Menschengedenken stattfindet. Hinter jeder schriftlich formulierten Liebesgeschichte steckt auch ein Stück Gegenwartsgeschichte. Im Endeffekt tun Liebende nämlich nichts anderes, als das große Rätsel vom Leben und Sterben mit den Wörtern des Zeitgeists auf die Intimität herunterzubrechen.

Der Herausgeber fungiert in diesem besonderen Fall als Autor, Zeitgeschichtler und Heimatkundler. Seine Qualifikation für das Unterfangen ist nämlich einmalig: „I bin japanischer walscher mit taitsch.“ (23)

Die Briefe an Mimi sind Einweg-Post, die Antworten muss man sich jeweils zwischen den Zeilen erschließen. Die Schreibsituation lässt sich wie ein Klappentext zum Leben zusammenfassen.

Der in Bologna studierende Toni lernt bei einem Heimatausflug nach Bozen eine Friseurin kennen, verliebt sich ins Ungewisse hinein, und die angeschriebene Mimi schreibt regelmäßig zurück. Es gibt diverse Treffen, die aber die Zukunft offenlassen.

Das Ungewisse macht den schreibenden Toni eifersüchtig und hilflos, andererseits schiebt er seine Unruhe auf die Politik, die gerade mit der Option über Südtirol hereinbricht.

Toni studiert später in Innsbruck, ehe er immer weiter an die Front versetzt wird. Schließlich kommt der letzte Brief Mimis an ihn wieder zurück mit dem Vermerk „Empfänger vermisst“.

Mimi ist inzwischen in Innsbruck und berichtet von Bombenangriffen, die ihre Frisur-Klienten mit nassem Haar in die Schutzbunker fliehen lassen.

Die Briefe sind in kursiver Schrift abgedruckt, der Gesprächsstoff verletzt keine Persönlichkeitsrechte, denn aufgrund von Zensur findet die Post ohnehin öffentlich statt.

Neben familiären Schicksalen, die in Nebensätzen erwähnt werden, geht es vor allem um das Diffusum der Zukunft, sowohl was die beiden betrifft, als auch die Gesellschaft.

Einfach durchhalten, warten, weiterschreiben, dranbleiben. – Dieses Verhalten passt sowohl für ein Liebespaar als auch für eine schreibende Person. Die Dichter leben ja schon seit Jahrhunderten in einem aussichtslosen Hoffnungszustand, wofür es keine Erfüllung gibt.

Auf der zweiten Ebene sind die Briefe mit historischem, ästhetischem, pädagogischem und geographischem Material unterlegt. Auf gerastertem Untergrund wird etwa ein im Brief zitiertes Liebeslied in voller Länge angespielt, eine sogenannte Hummel-Postkarte liegt als Fallbeispiel für Ästhetik des guten Willens bei, der in Südtirol für das letzte Weihnachtsgeschäft gebräuchliche „goldene Samstag“ wird in seiner Mehrdeutigkeit vor diversen Stimmungslagen aufgefächert, und das Törggelen erklärt sich im merkantilen Austrinken und Umfallen quasi von selbst.

Manche der vorgestellten Rituale und Geschäfte funktionieren zu allen Zeiten, wie das Trinken, Weinen und Alleinsein, andere sind spezifische Rituale des Regimes, etwa das Öffnen von Briefen, das dem Recherchieren im Internet sehr nahekommt.

Die dritte Ebene ist als vergängliche Blässe ausgeführt. Im sachten Andruck ohne Großschreibung schimmern Notizen des Autors aus dem Papier. Manche Absätze sind so zart ausgeführt, dass sie lese-physikalisch das Auge nicht mehr erreichen.

Aber Schlüsselwörter und Beschreibungen von Gemütszuständen vermitteln eine Art inneren Monolog, den der Autor über die Edition gestülpt hat.

Die naheliegende Frage, wie hätte ich als Toni gehandelt, zieht sich als durchgehendes Motiv über die Notate. Die Antwort fällt meist „reif“ aus: Wahrscheinlich ähnlich. Denn gegen die Zeitgeschichte hat noch niemand ein Leben hingekriegt, ob in der Liebe, im Studium oder in der physischen Vernichtung durch Arbeit oder Krieg.

Peter Giacomuzzi schafft mit dieser dreifachen Textschicht eine eigenständige Form von Literatur.

In Tirol werden die sogenannten Südtiroler-Siedlungen mittlerweile abgerissen, umgebaut und für ein neues Geschichtsbild restauriert. Darin sind wahrscheinlich Tausende sogenannter Erinnerungskisten verwahrt, die manchmal wohl entsorgt werden, in günstigen Fällen im Archiv landen oder aller-günstigstenfalls als „Briefe an Mimi“ in einem Regal für griffbereites Nachdenken.

Peter Giacomuzzi: Briefe an Mimi. 1938 – 1944. Abbildungen.
Zirl: BAES 2022. 252 Seiten. EUR 25,90. ISBN 978-3-95054283-0-5.
Peter Giacomuzzi, geb. 1955 in Bozen, lebt nach Jahren in Japan in Innsbruck.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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