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Alois Schöpf
Schluss mit dem Transit-Selbstbetrug!
Als auserwähltes Opfervolk kommen wir nicht weiter.
Essay

Die unendlich langen und kurvenreichen Fahrten zuerst über die Alte Römerstraße via Ellbögen und dann über die Bundesstraße zum Brenner gehören zu meinen Kindheitserinnerungen. Wenn man rechtzeitig irgendwo im Süden ankommen wollte, war man klug beraten, bereits um 4:00 Uhr in der Früh aufzubrechen, denn später staute es sich oft bis zu 60 km lang durch das ganze Land.

Die Eröffnung der Autobahn im Jahre 1963 bis zur Europabrücke in Teilstücken und sodann 1968 durchgehend von Kufstein bis zum Brenner wurde von allen als ein Segen und ein Zeichen des durch Olympische Spiele bestätigten allgemeinen Fortschritts betrachtet.

Das hat sich inzwischen ins Gegenteil verkehrt. Angeführt von den röhrenden Simplizitäten eines Fritz Gurgiser und den etwas feiner formulierten Wehklagen der Grünen und der seit Jahrzehnten in Tirol regierenden ÖVP-Trachtenmannschaft gilt Tirol inzwischen als prominentes Opfer des internationalen Transitverkehrs, der Frächter-Lobby und einer uneinsichtigen EU, welche, angeführt von den Bayern und Norditalienern, die alpine Problematik der Tiroler einfach nicht zur Kenntnis nehmen wollen.

Von allem Anfang an ein peinliches Element dieser Selbstviktimisierung ist naturgemäß der eklatante Widerspruch zwischen den die Opferrolle zwecks Wählerstimmenmaximierung aufblasenden Politikern, die es der Welt andreashofermäßig zeigen wollen, und einer hoch subventionierten Werbemaschinerie, die Tirol als Tourismusweltmeister zu verkaufen versucht. Solches widerspricht den primitivsten Grundsätzen der Logik, was auch durch die sophistische Ausrede nicht glaubwürdiger wird, die Transithölle beschränke sich auf das Inn- und Wipptal, wohingegen alles andere immer noch Paradies genug sei, um darin einen teuren Urlaub zu verbringen.

Bleibt zu erwähnen, dass es nach Jahrzehnten noch immer verabsäumt wurde oder nicht gelang, das gleichsam als zeitgeistige Landesidentität festgeschriebene Katastrophenszenario des Transits und seiner Auswirkungen auf die Gesundheit der Bevölkerung durch valide wissenschaftliche Untersuchungen im Hinblick auf spezifische Erkrankungen bzw. Verminderung der Lebenserwartung zu untermauern, ganz im Gegenteil: Tirols sportliche Bevölkerung darf sich nach statistischen Erhebungen im Durchschnitt 70 Lebensjahre ohne wesentliche gesundheitliche Beeinträchtigung erwarten, wohingegen sich die mehr oder weniger von Autobahnen befreiten Burgenländer mit ihrem offensichtlichen Hang zu Schweinsbratl und Alkohol mit 57,5 Jahren begnügen müssen.

Die Hypothese, obgleich sehr naheliegend, dass die Tiroler an ihrer Transitproblematik durch selbstverschuldete Dummheit und flagrante Unterlassungen die Hauptschuld tragen, grenzt an Landesverrat. Schmerzhafter Realismus hat gegenüber einem Patriotismus, der das Narrativ von den heldenhaften Bergisel-Schlachten auf die Autobahn übertragen hat, kaum eine Chance, um in der öffentlichen Debatte zu reüssieren.

Tirol hatte im Jahre der Volkszählung 1971 544.483 Einwohner, im Jahre 2021 waren es 760.105. Im Jahre 1968, also im Jahr der Volleröffnung der Autobahn zwischen Kufstein und Brenner, kamen österreichweit auf 1000 Personen 143 Kraftfahrzeuge, im Jahre 2020 waren es 571. Im Jahre 1965, also in der Planungs- und Bauphase der Autobahn, fuhren auf Österreichs Straßen 790.675 PKWs, im Jahre 2007 waren es schon 4,2 Millionen. Im Jahre 1968 betrug das Bruttoinlandsprodukt Österreichs 22.298 Millionen, im Jahre 2020 waren es 375.562 Millionen.

Dies sind nur einige wenige Kennzahlen, die den Zuwachs an Mobilität, aber auch an Wohlstand nicht nur in Tirol und Österreich, sondern in ganz Europa verdeutlichen. Die Nachkriegszeit, also unser aller Leben bis heute ist eine unglaubliche historische Ausnahmesituation und bescherte uns dank wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts ein Goldenes Zeitalter mit Massenwohlstand, Massentourismus, Massenkonsum und Massenmobilität. Dies mag in einer letzten Zahl Ausdruck finden: im Jahre 2019, also noch vor Corona, überquerten 2,4 Millionen LKWs und 12,34 Millionen PKWs den Brenner.

Anstatt nun in wohlfeile Klagen über die angebliche Transithölle in Tirol auszubrechen, sei daran erinnert, dass diese, wie gesagt, privilegierte Entwicklung hin zu massenhaftem Glück und der Möglichkeiten zu massenhafter Selbstverwirklichung mit einer Autobahn aus dem Jahre 1968 bewältigt werden muss, mit einer Infrastruktur also, die in der Zwischenzeit, obgleich es Aufgabe des Staates gewesen wäre, hier vorausschauend zu handeln, den Erfordernissen der Gegenwart nicht mehr gewachsen ist.

Ganz im Gegensatz etwa zu Oberösterreich, wo bereits weit vor Linz die Autobahn mehrspurig geführt wird, um Staus zu verhindern. Die Autobahn südlich von Innsbruck hat nicht nur als Umfahrung einer Landeshauptstadt inklusive sämtlicher Speckgürtel zu fungieren, was unweigerlich zu Staus führt, sie hat ebenso weiterhin als wichtigste Transitstrecke für Lkws und PKWs in den Süden und vom Süden herauf ihre Dienste zu leisten. Womit klar ist, dass berechtigte Klagen über Verkehrsstaus, Autobahnüberlastung und die daraus resultierende Umweltbelastung schlicht und einfach auf die Unfähigkeit von Politik und Verwaltung zurückzuführen sind, der Bevölkerung für ihre Steuerleistungen eine den Anforderungen der Zeit angepasste Verkehrs-Infrastruktur zur Verfügung zu stellen.

Ohne Autorität, sich dem Bund und der ASFINAG gegenüber durchzusetzen, und immer nur von Wahl zu Wahl kalkulierend zieht man sich lieber den Trachtenjanker über, schreitet Schützenfronten ab und erklärt sich mit bierheiserer Stimme zum Opfer der bösen Anderen. Oder kniet als postmoderne Manifestation des brandgefährlichen Philosophen Jean-Jacques Rousseau vor einer Urnatur nieder, die es in einer Kulturlandschaft wie Tirol schon seit Jahrhunderten nicht mehr gibt, und spielt, um Wahlen zu gewinnen, zynisch mit einer verblendeten Volonté Générale, die man selbst produziert hat.

Neben dem Versäumnis, die Autobahn durch Tirol den Realien moderner Mobilität anzupassen und drei- bzw. vierspurig zu führen, bleiben drei tatsächliche Belastungen der Bevölkerung übrig, die es nicht mit Verboten und verschwurbelter Naturreligion zu bewältigen gälte, sondern, sofern es nicht teilweise bereits geschehen ist, durch technologische Innovationen.

Es ist dies eine zweifelsfrei durch die alpinen Tallagen besonders starke Lärmbelastung, es ist dies der durch den Abrieb der Reifen verursachte Feinstaub und es ist das Abgasproblem.

Letzteres wird durch den „Green Deal“ der EU, welche abgasarme Fahrzeuge bzw. Fahrzeuge, die vollkommen auf fossile Brennstoffe verzichten, durch vergünstigte Mauten belohnt, ohnehin binnen kurzer Zeit einer Lösung zugeführt. Der Verkehr in Europa steuert nämlich auch ohne Gebrüll aus Tirol auf Abgasfreiheit zu. Ganz davon abgesehen, dass die entscheidenden Umweltverbesserungen auch in der Vergangenheit bereits von Innovationen der Fahrzeugindustrie, die durch ihre Schwindeleien im Rahmen der Abgasmessungen ihr an sich berechtigt gutes Image dumm verspielt hat, ausgegangen sind: bald werden LKWs mit Wasserstoff-Brennstoffzellen und PKWs in zunehmendem Ausmaß mit Elektromotoren die Straßen benützen und das derzeitige Hauptproblem des Transits, die Abgasbelastung, massiv reduzieren.

Die Maßnahmen der EU zur Verringerung der Umweltbelastung durch den Fernverkehr in diesem Zusammenhang als gegen das Land Tirol gerichtet zu betrachten, nur weil man nicht imstande war und ist, eine den Anforderungen der Zeit angepasste Infrastruktur zu errichten, ist eine populistische Peinlichkeit und nicht dazu angetan, den Ruf unseres Landes bei den Entscheidungseliten der Nachbarländer zu befestigen.

Was die Lärmentwicklung betrifft, so wurden bereits in weiten Bereichen der Autobahn Lärmschutzwände hochgezogen. Wo solche noch notwendig wären, sollte dies schleunigst nachgeholt werden, wobei, wie schon gesagt, aufgrund der Tallage, zweifelsfrei gewisse Regionen übrig bleiben werden, die von dieser Belastung kaum oder nicht befreit werden können.

Vielleicht dürfte in diesem Zusammenhang doch auch einmal die Bemerkung nicht als abwegig empfunden werden, wonach sich hierzulande im Hinblick auf die Mobilität eine volksnarzisstische Wehleidigkeit eingebürgert hat, die in keinem Verhältnis zu den Zuständen stehen, wie sie etwa in städtischen Konglomeraten in Deutschland, Belgien oder Holland alltäglich sind, und die in keinem Verhältnis zur Lockerheit stehen, mit der auch die Tiroler davon ausgehen, dass in ihren Supermärkten jeden Tag kernlose Trauben aus Namibia vorrätig sind und, wenn es im Norden bewölkt und im Süden warm ist, einer Reise zwecks kulinarischer Genüsse zumindest nach Bozen, wenn nicht an den Gardasee möglich sein muss.

Bleibt noch das relativ erst jüngst mit entsprechenden Umwelt-Sensibilitäten belastete Problem des Feinstaubs, der eventuell durch regelmäßiges Waschen der Autobahn weggeschwemmt werden könnte. Hier stehen zweifelsfrei noch Lösungen aus.

Anstatt sich jedoch streng rationalistisch und technologieaffin diesem und ähnlichen Problemen zuzuwenden, wird die Opferrolle Tirols, nachdem sie inzwischen im Rahmen der EU auf Unverständnis stößt, wahrscheinlich noch bis zu den nächsten Landtagswahlen in provinzieller Binnen-Vehemenz fortgespielt werden. Hier hilft natürlich auch der Hinweis auf den Umwegtransit, der angeblich ein Drittel des LKW-Verkehrsaufkommens über den Brenner ausmacht und dessen Regulierung wieder einmal als probatestes Mittel den Anderen zugeschoben wird. An das Abflauen dieses Arguments dürfte sich sodann eine längere kollektive Trostperiode bis zur Eröffnung des Brennerbasistunnels, der realistischer Weise seinen Betrieb wohl erst in 10 Jahren aufnehmen wird, anschließen. Real geschehen wird jedoch nichts, da alles, was getan werden sollte, an der selbst gebastelten Verschwörungstheorie als Opfervolk scheitern muss.

All jene Tiroler, die sich ihren Verstand noch nicht von solch traditionsreichem und der Selbstliebe förderlichem „mia sein mia-Patriotismus“ haben verblasen lassen und die zugleich ehrlich genug sind, zwischen ihren eigenen Konsumgewohnheiten und Wohlstandserwartungen und deren notwendigen Mobilitätsfolgen eine Verbindung herzustellen, werden weiterhin mit einer den Ansprüchen der Zeit nicht entsprechenden Infrastruktur leben müssen, ohne, wie die anderen, im Wutbürgertum einen Trost zu finden.

Zu selbigem mag ihnen, wie oben bereits angedeutet, die Erkenntnis dienen: Im Vergleich zu vielen hoch urbanisierten Gegenden Europas gehen unsere Wehklagen immer noch von ziemlich luxuriösen Voraussetzungen aus!

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Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor und Journalist, lebt bei Innsbruck. Alois Schöpf schreibt seit 37 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 28 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Limbus: Vom Sinn des Mittelmaßes (2006), Heimatzauber (2007), Die Sennenpuppe (2008), Platzkonzert (2009), Die Hochzeit (2010), Glücklich durch Gehen (2012), Wenn Dichter nehmen (2014), Kultiviert sterben (2015) und Tirol für Fortgeschrittene (2017). Zuletzt erschien in der Edition Raetia Bozen gemeinsam mit dem Fotografen und Regisseur Erich Hörtnagl "Sehnsucht Meer, Vom Glück in Jesolo", die italienische Übersetzung wurde zeitgleich präsentiert. Und es erschien, wieder bei Limbus, "Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen". Schöpf ist auch Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte und leitete das erfolgreiche Bläserfestival fünfundzwanzig Jahre lang bis 2019.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Otto Riedling

    Es gibt seit Sommer 2019 – wieder einmal – ein „Münchner Abkommen“, wo dezidiert festgehalten ist, was Sache ist. Es ist – auch historisch – nachvollziehbar, dass „Münchner Abkommen“ noch nie gehalten haben. Dass die CSU-ler richtige „Bazi“ sind, ist auch bekannt. Sie haben halt keine Handschlagqualität. Böse Zungen behaupten „wenn man einem CSU-ler die Hand gibt, muss man danach immer schauen, ob noch alle 5 Finger dran sind“.

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