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Franz Mathis
Mensch oder Natur?
Essay

Anlässlich der Debatte um die Nordostumfahrung von Wien einschließlich des Lobautunnels gilt es, einige grundsätzliche Feststellungen in Erinnerung zu rufen.

Seit es Menschen gibt, haben sie versucht, ein möglichst lebenswertes Leben zu führen, wozu auch Eingriffe in die Natur notwendig waren: Häuser zum Wohnen wurden ebenso errichtet wie Betriebsstätten zur Deckung des Bedarfs an Nahrung, Kleidung und sonstigen Gütern sowie Straßen und Eisenbahntrassen zur Erreichung der gewünschten Mobilität.

Lange Zeit stellten diese Eingriffe kein Problem dar, da sie die Natur angesichts der geringen Bevölkerungsdichten ohne anhaltende Schäden verkraften konnte. Erst mit der rascheren Zunahme der Bevölkerung und der dadurch ausgelösten, verstärkten Urbanisierung und Industrialisierung in den letzten gut 200 Jahren nahm die Nutzung der Natur zunächst noch langsam, in der weiteren Folge jedoch immer stärker und schneller zu, so dass sie inzwischen aus objektiver wie subjektiver Sicht an ihre Grenzen gelangt.

Mehr als in früheren Jahrhunderten gilt es daher heute, den Wunsch der Menschen nach einem lebenswerten Leben mit dem Erhalt der Natur in Einklang zu bringen. Welche diesbezüglichen Wünsche lassen sich, was den Verkehr betrifft, unterscheiden?


1.

Menschen, die an stark befahrenen Straßen wohnen, wünschen sich eine Reduzierung des Verkehrs, um die Lärm- und Luftbelastung zu senken und die Sicherheit der sonstigen Verkehrsteilnehmer wie Radfahrer und Fußgänger zu erhöhen. Diese Herausforderung stellt sich im konkreten Fall etwa in den Wiener Stadtteilen Aspern und Essling.

Laut dem Gutachten der sogenannten ExpertInnengruppe aus dem Jahre 2017 zählte man 2015 in Aspern 31.000 und in Essling 22.000 Ortsdurchfahrten von Kraftfahrzeugen pro Tag – ohne die verkehrsärmeren Nachtstunden sind dies 1.000 bis 2.000 pro Stunde.

Da die Bevölkerung im gesamten Gemeindebezirk Donaustadt allein in den 5 Jahren zwischen 2015 und 2020 um rund 13 % auf fast 200.000 Einwohner zugenommen hat und nach allen Prognosen weiterhin stark zunehmen wird, ist allein deswegen – vom wachsenden Transitverkehr einmal abgesehen – für die nächsten Jahre mit einem noch höheren Verkehrsaufkommen zu rechnen. Neben der Entwicklung schadstoffärmerer und leiserer Autos kann diese Belastung nur durch die stärkere Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel und/oder die Errichtung von Umfahrungsstraßen gemildert werden.

Die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel stößt insofern an Grenzen, als sie mit den Wünschen der Menschen, was die von ihnen bevorzugten Verkehrsmittel betrifft, kollidieren. Laut derselben Studie lässt sich nämlich eine klare Präferenz für die privaten PKW feststellen: von den im Frühverkehr von außerhalb der Stadt nach Wien fahrenden Personen benützen nur etwa halb so viele Menschen die öffentlichen Verkehrsmittel.

Aber nicht nur die Vorlieben der Verkehrsteilnehmer sprechen gegen eine stärkere Nutzung der Öffis, laut der Studie sind in dieser Region auch „die Bedingungen für den nichtmotorisierten Verkehr vergleichsweise schlecht.“ Auch die in der jüngsten Evaluierung des Umweltministeriums vom November dieses Jahres vorgeschlagenen Projekte werden sie nicht wesentlich verbessern, da es sich dabei nicht um neue Bahnlinien handelt, sondern lediglich um kleinere Verbesserungen an der für diesen Bereich relevanten S 80 zwischen Hütteldorf und der Seestadt Aspern.

Dagegen würde der Bau der umstrittenen Nordostumfahrung S1 einschließlich der Stadtstraße von der Südosttangente zur Seestadt die Situation für die Menschen in Aspern und Essling wesentlich verbessern.

Gemeinsam mit Maßnahmen im öffentlichen Verkehr und einer flächendeckenden Parkraumbewirtschaftung in ganz Wien würde sie laut genannter Studie bis 2030 die täglichen Ortsdurchfahrten in Aspern auf 20.000 und in Essling auf 18.000 reduzieren. Ohne die Umfahrungsstraße würden sie in Aspern bei den 31.000 des Jahres 2015 verbleiben und in Essling sogar auf 24.000 ansteigen. Daraus ergibt sich für die Entlastung der dortigen Wohnbevölkerung eine klare Präferenz für die Umfahrungsstraße samt Stadtstraße.


2.

Neben dem Wunsch nach möglichst wenig Belastung durch den Straßenverkehr gibt es auch den Wunsch der Menschen, die den PKW benützen, mit möglichst wenig Zeitverlust von A nach B zu gelangen. Damit ist der Transit vom Südosten nach Nordosten, und zwar sowohl innerhalb als auch außerhalb der Stadtgrenzen von Wien gemeint.

Diesen Wunsch haben die vielen Tagespendler mit den LKW-Fahrern und ihren Auftraggebern gemeinsam, die die Gewerbegebiete südlich und nördlich von Wien mit den notwendigen Gütern beliefern. Sie alle sind derzeit auf die innerstädtische Verbindung auf der Südosttangente angewiesen, der mit inzwischen über 200.000 Kraftfahrzeugen pro Tag oder über 80 Millionen pro Jahr meist befahrenen Straße Österreichs.

Zum Vergleich: in Tirol wurden 2020 an der Zählstelle Ampass rund 65.000 und an der Zählstelle Brennersee etwas über 20.000 Fahrzeuge bzw. pro Jahr knapp 24 und etwas weniger als 8 Millionen gezählt. Dass die täglichen, oft kilometerlangen Staus auf der Tangente den legitimen Wunsch der Autofahrer nach einer kürzeren und stressfreieren Fahrt massiv beeinträchtigen, steht außer Zweifel.

Auch zur Lösung dieses Problems legt die besagte Studie mehrere Szenarien vor. Allein mit den Maßnahmen im öffentlichen Verkehr und einer flächendeckenden Parkraumbewirtschaftung würde sich bis 2030 die tägliche Belastung auf der Praterbrücke der Südosttangente von 232.000 auf 211.000 Fahrzeuge reduzieren, in Verbindung mit der geplanten S1 hingegen auf 183.000, also um nicht weniger als 21 %.

Gleichzeitig nimmt die Studie an, dass bei diesem Szenario rund 65.000 Fahrzeuge auf der neuen S1 fahren würden, was neben der Verlagerung von der Tangente auf die Ansiedlung von Betrieben und die Errichtung von Wohnanlagen entlang der neuen Umfahrungsstraße zurückzuführen sein dürfte. Zusammen mit dem reduzierten Verkehr auf der Tangente ergäbe sich daraus ein Verkehrsaufkommen von 248.000 Fahrzeugen, was einem Zuwachs von 7 % entspricht.


3.

Von diesen etwa 7 % ist zunächst auszugehen, wenn man nunmehr – nach dem Nutzen für die Menschen – nach der Belastung der Natur fragt. Stellen die 7 % schon angesichts des für die Donaustadt erwartbaren Bevölkerungszuwachses von über 16 % eine relativ bescheidene Zunahme dar, so dürfte der effektive und von der Umweltministerin ins Treffen geführte Zuwachs des CO2-Ausstoßes sogar noch geringer ausfallen, da bis 2030 infolge technischer Weiterentwicklungen bereits deutlich schadstoffärmere Fahrzeuge unterwegs sein werden.

Das zweite von ihr angeführte Argument gegen die Umfahrungsstraße bezieht sich auf die unmittelbare Beeinträchtigung der Natur im Sinne einer weiteren Versiegelung des Bodens und des Nationalparks Donau-Auen.

Zu ersterem ist zu sagen, dass die zu erwartende Siedlungsentwicklung im Osten Wiens ganz ohne neue Straßen nicht auskommen wird, es sei denn man ignoriert den mehrheitlichen Wunsch der Bevölkerung nach individuellem PKW-Verkehr und zwingt sie zur Nutzung der Öffis, deren notwendiger Ausbau allerdings auch nicht ohne Bodenversiegelung auskommen würde.

Gänzlich übersehen wird auch der LKW-Verkehr, der noch viel weniger von öffentlichen Verkehrsmitteln übernommen werden kann. Außerdem würde die erwartete Ansiedlung von Betrieben statt entlang der S1 anderswo oder aber gar nicht erfolgen, was wiederum die Wirtschaft und damit den berechtigten Wunsch der Bevölkerung nach materiellem Wohlstand beeinträchtigen würde.

Als weiteres Argument gegen die Umfahrungsstraße wird in der Evaluierung des Umweltministeriums auf die durch den Lobau-Tunnel verursachte Gefährdung des Naturschutzgebietes mit seinen „800 Arten höherer Pflanzen, 33 Säugetier- und rund 100 Brutvogelarten, 8 Reptilien- und 13 Amphibienarten sowie 67 Fischarten“ hingewiesen. Allerdings wird dabei – auch von der Umweltministerin – fälschlicherweise behauptet, dass mit dem Tunnel die Lobau und damit das Naturschutzgebiet durchquert würde.

Vielmehr handelt es sich um eine Unterquerung in 60 m Tiefe und unter dem Grundwasserstrom, die zudem weit außerhalb des Naturschutzgebietes beginnt und endet. Auch würden keinerlei Bauwerke im Nationalpark errichtet. Wie unter diesen Bedingungen Fauna und Flora des Parks beeinträchtigt werden sollen, ist schwer zu erschließen.


4.

Wenn man daher zusammenfassend versucht, die Vorteile, die die geplante Nordostumfahrung von Wien für die Menschen dieser Region bringen würde, und die über die unvermeidlichen Folgen der zu erwartenden Siedlungsentwicklung hinausgehenden Nachteile für die Natur gegeneinander abzuwägen, fällt die Bilanz eindeutig zu Gunsten der Umfahrungsstraße aus.

Maßnahmen im öffentlichen Verkehr einschließlich der Parkraumbewirtschaftung allein – also ohne Umfahrungsstraße samt Stadtstraße – können laut der besagten Studie diese Vorteile in keiner Weise sicherstellen. Gemeinsam mit der Umfahrungsstraße hingegen kann ein ausgewogener Ausgleich zwischen den Wünschen der Menschen nach einem lebenswerten Leben und dem Schutz der Natur durchaus gelingen.

Es macht daher Sinn, dass eine solche Umfahrung auch in das nach wie vor gültige Bundesstraßengesetz 1971 aufgenommen wurde. Es bleibt nur zu hoffen, dass bei der letztgültigen Entscheidung für oder gegen den Bau der Straße nicht die Umweltministerin, sondern das Gesetz und der Wiener Bürgermeister die Oberhand behalten.

Während erstere offenbar die Natur über den Menschen stellt, stehen für letzteren die Menschen mit ihrem Wunsch nach einem lebenswerten Leben im Vordergrund, wobei er gleichzeitig diesen Wunsch mit dem Schutz der Natur in Einklang zu bringen sucht.

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Franz Mathis

Geboren in Hohenems (Vorarlberg) 1946, Studium der Geschichte und Anglistik an der Universität Innsbruck, Mag. phil. 1971, Dr. phil. 1973, Habilitation aus Wirtschafts- und Sozialgeschichte 1979, ordentlicher Universitätsprofessor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte seit 1993. Forschungsaufenthalte in England und den USA, Gastprofessor an den Universitäten Salzburg, New Orleans (USA), Trient und Bozen. Studiendekan der Geisteswissenschaftlichen Fakultät, Rektorsbeauftragter der Universität Innsbruck für die Partnerschaft mit der University of New Orleans, Vorstandsmitglied der Internationalen Gesellschaft für historische Alpenforschung, Schriftleiter der Tiroler Wirtschaftsstudien. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: vergleichende Stadtgeschichte, vergleichende Unternehmensgeschichte, Dritte Welt, allgemeine Wirtschaftsgeschichte Zusammenhänge und Grundlagen sozio-ökonomischer Entwicklung.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Otto Riedling

    Wie schon beim Tschirganttunnel: Dieses Projekt wird schon 20 Jahre lang durch die Zeit geschoben.
    Dazu kommt noch der Faktor, dass die Wiener Sozis wie die Depperten (a la ÖVP Telfs) bauen.
    Sie haben den „Vogel“, Wien auf über 2 Mio. Einwohner aufzublähen. Auch dies müsste diskutiert werden. Die enorme Bevölkerungszunahme wurde künstlich „herbeigezüchtet“ (siehe oben). Jetzt weiß man halt nicht, wie man damit umgehen soll.

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