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Reloaded:
Karlheinz Töchterle
Kritisches zum Lueg-Gutachten von K. Bergmeister
Analyse

Ende Februar verständigten sich Vertreter von ASFINAG, Land Tirol und Gemeinden des Wipptales darauf, einen unabhängigen Sachverständigen zu beauftragen, um festzustellen, welche Maßnahme (Neubau der Brücke oder Tunnel) zur Generalerneuerung der Luegbrücke auf der A 13 Brennerautobahn unter Einbeziehung der Themen wie Verkehrssicherheit, Lärm- und Schadstoffbelastung und Nachhaltigkeit die beste Lösung wäre.

Gutachter Konrad Bergmeister gab dabei in der Gesamtbetrachtung dem Ersatzneubau der Brücke im Vergleich zum Tunnel den Vorzug. Karlheinz Töchterle bezweifelt dieses Urteil aufgrund der von Bergmeister selbst erstellten Kriterien massiv. (A.S.)


Grundsätzliches

Die Bewertungsmethode nach insgesamt 26 Kriterien mit der Vergabe von Punkten von 1 (sehr schlecht; stimmig wäre eigentlich 0) bis 10 (sehr gut) erweckt den Anschein von Messbarkeit, Genauigkeit und Objektivität. Gleichwohl verbleibt die Vergabe der einzelnen Punkte immer im Bereich subjektiver Einschätzung und wirkt oft fragwürdig.

Ein besonders schlagendes Beispiel liefert die Bewertung der Verkehrsführung während der Bauphase (S. 143 ff.), die beim Abriss und Neubau der Brücke natürlich sehr herausfordernd, beim Tunnel hingegen sehr einfach ist. Man würde also eine Bewertung von 10 : 1(bzw. 0, s. oben) zugunsten des Tunnels erwarten, tatsächlich aber findet man nur 7 : 4!

Wenn man diese Punktevergaben nur geringfügig ändert, ergeben sich natürlich vollkommen andere Bewertungen. Das gilt ebenso für die Bewertungsmatrix, in der die Punkte zusammengeführt und ohne jede inhaltliche Begründung gewichtet werden. Bei nur leichten Änderungen ergäben sich dort – auch unter Beibehaltung der schon problematischen Einzelpunkte – ganz andere Ergebnisse, wie die Stellungnahme der Gemeinde Gries nachweist.

Die bestehende Brücke ist 22, 5 m breit, die geplante neue 30,9 m, also um 37 % breiter! Eine solche Breite im engen Wipptal vor dem Brenner wäre nicht nur ein optischer und ökologischer Gewaltakt, sondern auch ein verkehrspolitischer Wahnsinn (vgl. Resümee). Wenn man dann auch noch für die zu vergleichenden Tunnelröhren in etwa analoge Querschnitte annimmt, explodieren natürlich deren Kosten. Solch breite Autobahntunnel gibt es derzeit weder irgendwo in Österreich noch auf der italienischen Seite der Brennerautobahn.


Mensch und Raum

Das von einem Architekten bearbeitete erste Thema „Mensch und Raum“ kommt auf der Basis sehr fragwürdiger und fast immer kontrovers diskutierbarer Argumente zu einer Höherbewertung der Brückenlösung.

Der Text strotzt vor fast immer anfechtbaren ästhetischen Behauptungen und inhaltsarmem Geschwurbel. Einige Beispiele von sehr vielen möglichen: Die „landschaftlich triviale“ Situation kann durch „bauliche Setzung/Intervention“ zu einem „identitätsstiftenden Ort“ werden, ein Tunnel hingegen „thematisiert nicht das Überschreiten des Passes“. Daher 10 Punkte für die Brücke, immerhin aber auch 7 (warum eigentlich?) für den Tunnel.

Die Brücke „vermittelt den schwebenden Transit durch die Landschaft“, der Tunnel hingegen hat „die Konnotation des Verborgenen und Ungewissen“ und „thematisiert die kulturelle Metaebene nicht“, daher: 7 Punkte für die Brücke, 3 für den Tunnel.

Der Begleitweg unter der Brücke kann als „regensicherer Wanderweg“, „relativ schallgeschützt“ genützt werden (tatsächlich ginge man unter LKW-Rumpeln in einer Salzwüste), der Tunnel hingegen „setzt das durchgehende Band in der Wahrnehmung der Landschaft … aus“. Die „Narbe“, welche die abgerissene Brücke hinterlassen soll, wird ebenfalls dem Tunnel angelastet.

In diesen Beispielen kann man da und dort noch etwas Sinn hinter den Sätzen erahnen, bisweilen ist das unmöglich, etwa S. 101: „ Die Befürwortung der Brückenlösung beansprucht deren ästhetische Bewältigung als Voraussetzung für diese zu argumentieren und kann daher nur damit einhergehen sich zu einer entsprechenden Vorgangsweise in der Projektentwicklung zu bekennen“. Alles klar?


Umwelt

Im zweiten Thema, „Umwelt“, verstört, dass Lärm- und Luftbelastung nur in Bezug auf Wohngebiete bewertet werden. Die ‚restliche’ Natur kann man offensichtlich problemlos verlärmen und verschmutzen. Da sich an der Luegbrücke nur wenig Anrainer befinden, erhält die Brücke 8 Punkte (!), der Tunnel immerhin das Maximum von 10.

Bei den Abgasen wird die Möglichkeit, sie aus dem Tunnel mit Filtern zu reinigen, nicht in Betracht gezogen. Auch die beträchtliche Menge an Streusalz, die in einem Tunnel wegfällt, spielt als Verschmutzungsursache keine Rolle.


Nachhaltigkeit

Unter dem Titel „Nachhaltigkeit“ wird die CO2-Bilanz der beiden Bauten verglichen, wobei die Brücke etwas besser abschneidet (8 : 7 Punkte). Das würde sich bereits ändern, wenn man etwas kleinere Tunnelquerschnitte annähme, und es würde sich massiv zugunsten des Tunnels auswirken, wenn man die Lebensdauer ernstlich in Betracht zöge.

Für ‚Standardbrücken’ wird eine Lebensdauer von hundert Jahren angenommen, die sich am Lueg durch die höheren Belastungen (Frequenz, Winterdienst) wohl reduziert. Derzeit sind die Brücken der Brennerautobahn schon nach etwas mehr als der halben Zeit abbruchreif, während die Eisenbahntunnel der Brennerbahn bekanntlich schon über 150 Jahre ihren Dienst tun. Für den im Bau befindlichen Brennerbasistunnel z. B. wird eine Lebensdauer von 200 Jahren angesetzt. Bei langer Betrachtungszeit schnitte hier also der Tunnel um Welten besser ab.

Im Thema drei, „Behördenverfahren“, wird für den Tunnel mit einem UVP-Verfahren gerechnet, für die neue Brücke hingegen nicht, obwohl die Gemeinde Gries ein solches einklagt. Auch evtl. nötige Enteignungsverfahren gegen die Gemeinde u. a. können hier noch stark verzögernd wirken, ebenso ein präziseres, heutigen Standards entsprechendes Monitoring der geologischen Risiken bei der Brücke sowie die von den Gutachtern auch dort empfohlenen genaueren Erkundungen. Die „etwa“ 6 : 4 Punkte zugunsten der Brücke sind also mehr als wackelig.


Bauphasen

Das vierte Thema, „Bauphase“, befasst sich mit der geologischen Situation und den Naturgefahren, die beiden Bauwerken drohen könnten. Jene ist für die Brücke vor allem beim südlichen Widerlager und bei den südlichen Pfeilern problematisch (Felsgleitung Padauner Berg mit derzeit ca. 1 cm Verschiebung pro Jahr, die laut Gutachten stärker werden könnte, aber so schon bei der angenommenen Lebensdauer von hundert Jahren einen Meter ausmachte!).

Beim Tunnel ist vor allem die nahe „Wipptal-Störung“ heikel, Genaueres können hier aber erst Untergrunderkundungen erbringen. Da man sie nicht hat, wird schon einmal mit 7 : 2 für die Brücke gewertet.

Bei der Brücke ist stets mit Steinschlag zu rechnen, größere Felsstürze wie der im nahen Vals Ende 2017 können die Gutachter nicht ausschließen (!). M. E. würde ein solcher den betroffenen Brückenabschnitt wohl zerstören. Beim Tunnel ist nur das Südportal durch Sturzprozesse gefährdet, er schneidet hier mit 6 : 3 Punkten immerhin besser ab.

In das Thema „Bauphase“ werden auch andere Bereiche hineingenommen, u. a. die oben erwähnte „Verkehrsführung“ mit der nicht nachvollziehbaren Punktewertung von 7 : 4. Die Bauzeit wird für die Brücke auf knapp sieben, für den Tunnel auf sechs Jahre geschätzt, wobei als „Risikoaufschlag“ beim Tunnel 16, bei der Brücke hingegen nur 6 Monate eingerechnet sind – für das aufkommende Argument der Zeitknappheit nicht unwesentlich.

Die unterschiedliche Gewichtung des (ja stets gleichwertigen) Faktors „Zeit“ beim Behördenverfahren und bei der Bauzeit ist übrigens ein deutlicher Beleg für die Willkür in der Bewertungsmatrix.


Betriebsphase

Im fünften Thema, „Betriebsphase“, kommen endlich auch die Bereiche Schneeräumung und Streusalz zur Sprache, wieder mit einer bemerkenswerten Vergabe von Punkten: Obwohl im Tunnel außer an den Portalen weder Schneeräumung noch Streusalz notwendig wären, erhält die Brücke (statt erwartbar 1 bzw. 0) 4, der Tunnel immerhin 9 Punkte. Die Umweltbelastung ist hier, wie erwähnt, überhaupt nicht im Blick.

Die Bedrohung durch Naturgefahren, jener in der Bauphase (s. oben) vergleichbar, aber wegen der langen Dauer natürlich mit höherer Eintrittswahrscheinlichkeit, findet sich 4 : 2 für den Tunnel bewertet, obwohl hier die Relation viel deutlicher zu seinen Gunsten ausschlagen müsste.


Instandhaltung

Im sechsten Thema, „Instandhaltung“, wird zwar von einer Lebensdauer der Brücke von hundert Jahren ausgegangen, die offenbar durch Verbesserungen in der Bautechnik erreicht wird, beim Tunnel hingegen finden sich nur Angaben zur eher kurzen Lebensdauer der technischen Einrichtungen, nicht aber zum Bauwerk an sich. Länger als die Brücke dürfte es allemal halten, und es bekommt daher 8 gegenüber 5 Punkten für die Brücke.

Das wird allerdings mehr als kompensiert durch das Verhältnis von 8 : 4 zugunsten der Brücke bei den technischen Anlagen, denn diese gehen mit 60 % gegenüber 40% zuungunsten der Baustruktur in die Bewertung ein, obwohl es sich im einen Fall nur um den Austausch von Stromleitungen, Lampen, Abwasserkanälen u. ä., im anderen Fall aber um das Gebäude (und seinen Abriss bzw. Ersatz) insgesamt handelt – erneut ein Hinweis auf die Fragwürdigkeit dieser Pseudomessung!


Kosten

Beim siebten und letzten Thema schließlich, den „Kosten“, schneidet die Brücke mit 222 Millionen Euro gegenüber dem Tunnel mit 325 Millionen deutlich besser ab, auch die Erhaltungs- und Prüfkosten sind dort deutlich niedriger, was dem Laien zwar – etwa angesichts von Winterdienst und Salzschäden an der Brücke – nicht einleuchtet, wo er den Experten aber wohl vertrauen muss. Die Brücke schlägt den Tunnel hier also mit 10 : 8 bzw. 10 : 4. Ein kleinerer Tunnelquerschnitt würde das stark verändern, auch eine schmalere Brücke wäre natürlich etwas billiger, allerdings sind dort vor allem wegen der Verkehrsführung während der Bauzeit Grenzen gesetzt, die beim Tunnel wegfallen.


Resümee

Die kritische Durchsicht zeigt eine Fülle von Mängeln und Fragwürdigkeiten, die (außer bei Thema 1) kaum den befassten Experten, sehr wohl aber den aus ihrer Expertise gezogenen Schlüssen und Bewertungen zuzuschreiben sind. Dieses Gutachten taugt daher eindeutig nicht als Basis für weitreichende Entscheidungen, wie sie aktuell am Lueg zu fällen sind.

Für solche Entscheidungen haben die Bürgermeister der betroffenen Gemeinden aus dem Wipptal und dem Stubai in ihrer Resolution vom 31. Mai 2021 wesentliche Kriterien herausgestellt: Seit Jahren zeigt sich, dass den Bemühungen, den LKW- und PKW-Transit durch Tirol für dessen Bewohner erträglicher und für die Umwelt verträglicher zu machen, kein Erfolg beschieden ist.

Im Gegenteil, die Belastung steigt kontinuierlich. Sektorale und temporäre Beschränkungen, wie sie derzeit gesetzt werden, um den Verkehrsfluss in Tirol irgendwie aufrecht zu erhalten, sind Notmaßnahmen und ständig durch Gegenkräfte von der EU-Kommission abwärts bedroht. Als Mittel bleibt daher nur die Gestaltung der Infrastruktur, die noch in Landes- bzw. Bundeskompetenz liegt.

Hier wird gerade mit dem Bau des Brennerbasistunnels eine gewaltige Vorleistung erbracht. Im Gegenzug muss an der Autobahn, wo immer es geht, die Belastung der Anrainer und der Natur reduziert werden, durch Schallschutz, Einhausung, im besten Fall durch Untertunnelung, und keinesfalls darf es irgendwo noch eine Kapazitätserweiterung geben. Diese aber wäre bei der geplanten Breite der neuen Brücke möglich.

Der Luegtunnel ist also aus mehreren Gründen einem Brückenneubau vorzuziehen: Er kann die Autobahn hier eindeutig auf jeweils zwei Spuren begrenzen, er gewinnt für zwei Kilometer Lebensraum zurück und schützt dort die Natur vor Lärm, Abgasen sowie einer Brühe aus Öl, Ruß und Salz.

Schließlich vermeidet er durch seine Langlebigkeit erneute Baubelastungen und riesige Mengen an Abbruchkosten und CO2-Ausstoß. Am Tunnel sollte daher kein Weg vorbeiführen.

Karlheinz Töchterle, Telfes im Stubai



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Karlheinz Töchterle

Karlheinz Töchterle ist österreichischer Altphilologe und Politiker. Er war von 2007 bis 2011 Rektor der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck und vom 21. April 2011 bis zum 16. Dezember 2013 Bundesminister für Wissenschaft und Forschung. Von Oktober 2013 bis November 2017 war er Abgeordneter zum Nationalrat. Privat: Konditionsstarker Bergsteiger, begeisterter Flügelhornist und Fußballtrainer der dörflichen Jugendmannschaft.

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