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Ronald Weinberger
Christliche Jahreszählung bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag?
Festtags-Essay

Wir schreiben heute den 8. Dezember des Jahres 2021 nach Christus, abgekürzt „n. Chr.“, bekanntermaßen. Oder ist Ihnen eine etwas weniger religiös konnotierte Abkürzung genehmer? Da gäbe es beispielsweise das „n. u. Z.“ oder das „n. d. Z.“ auf dem deutschsprachigen Markt: Demgemäß befänden wir uns im Jahre 2021 „nach unserer Zeitrechnung“ beziehungsweise “nach der Zeitenwende“. Freilich stets 2021, denn Jesus Christus vermeidet man auch damit nicht; der soll ja vor 2021 – nein, genau gesagt, vor 2020 – Jahren geboren worden sein, da sein Geburtsjahr doch das Jahr „1“ n. Chr. sein soll.

Laut historischen Forschungen (siehe z. B. Wikipedia) dürfte Christus, der „Jesus von Nazaret“ ein wenige Jahre lang gewirkt habender jüdischer Wanderprediger gewesen sein, der mehrere Jahre vor dem Beginn der erwähnten Zeitrechnung geboren wurde und im Jahre 30 oder 31 hingerichtet wurde. Er selbst hat nichts Schriftliches hinterlassen; erste Berichte über sein Wirken scheinen erst einige Jahrzehnte nach seinem Tod verfasst worden und seine Aktivitäten dürften nur von regionaler Relevanz gewesen sein, denn wenige jüdische, griechische und römische Autoren der Antike haben ihn, zudem sehr kurz, erwähnt.

Bekanntlich wurde in der Folge dieser Mann mittels ausufernder Erzählungen und Legendenbildung hochgehievt bis zum Gottes(sohn)status. Eine Person, die zum Grundstein einer Religion evolvierte, und zwar einer, die sodann unter dem aus älteren Bibelübersetzungen bekannten Motto „Macht Euch die Erde untertan“ das Kommando übernahm und im Laufe der Zeit tatsächlich weite Teile der Erde unter ihre Kontrolle brachte.

Auch unter ihre kalendarische…

Mit anderen Worten: Eine Jahreszählung samt dazugehörigem christlichen Kalender, nämlich die „Gregorianische Zeitrechnung“, hat längst die Weltherrschaft angetreten und vermochte alle übrigen, selbst die anderen „großen“, wie den Islamischen und/oder den Buddhistischen Kalender zu marginalisieren. 

Praktisch alle Staaten benutzen heutzutage, bisweilen neben ihrem eigenen, den Gregorianischen Kalender. Das macht insofern Sinn, da dessen Schaltregeln ein Meisterstück darstellen und noch über Jahrtausende hinweg eine korrekte, enge Anlehnung an das tatsächliche (astronomische) Jahr gewährleisten. Dieses Herzstück des Gregorianischen Kalenders verdient es, weiterhin global in Verwendung zu bleiben. Es hat freilich mit der Jahreszählung, genauer, mit dem Beginn der Jahreszählung, nichts zu tun. Unsere, die „christliche“ Jahreszählung ist religiös/ideologisch/kulturell „grundiert“ – und wir könnten, ja sollten uns fragen, ob die Geburt eines vor zwei Jahrtausenden agiert habenden vorderasiatischen Kurzzeitpredigers ein angemessener Referenzzeitpunkt für eine weltweit angewendete Jahreszählung ist und auf Dauer bleiben soll.


„Blasphemische“ kalendarische Überlegungen

Ich denke, es „war“ (vonwegen „war“ siehe weiter unten) an der Zeit, eine hinsichtlich Jahreszählung kalendarische Alternative anzubieten. Eine, die sowohl der heutigen modernen, notwendigerweise auf Präzision und exakten Definitionen fußenden Welt als auch einer vermutlich künftig noch namhaft intensiver vernetzten zukünftigen Menschheit gerecht wird. Eine, die den (christlichen) Eurozentrismus ad acta legt und mit dem Anspruch auftritt, der Sachlichkeit einen größeren Platz einzuräumen, oder anders ausgedrückt, das Ziel hat, dem „Glauben“ das „Wissen“ vorzuziehen.

Bloß: „Darf“ ICH denn das? Nun ja, als (wenngleich längst pensionierter) Astronom gehöre ich schließlich einer Berufskaste an, die sich bereits vor Jahrtausenden dem Kalendermachen verschrieben hatte. Mithin: Ich meine, sowohl das fachliche als auch moralische Recht zu haben, mich einer solchen Thematik anzunehmen.

Wenn ich Sie daher ab jetzt mit einigen meiner bereits vor etwa einem Jahrzehnt angestellten Überlegungen zu malträtieren gedenke, hat das selbstverständlich auch damit zu tun, dass wir in Kürze eine andere Jahreszahl zu benutzen haben. „2022“ klingt und schreibt sich zugebenermaßen weich und rund, aber ich darf  erneut darauf hinweisen, dass all das auf religiösem Substrat gedeihen konnte, was wohl nicht nur meines Erachtens hinkünftig eher vermieden werden sollte.

Ich denke an zwei zeitliche Bezugspunkte, wenn ich an den Beginn einer „weitgehend objektiven“, globalen Jahreszählung denke: Die erste ist von kulturellen Einflüssen, Religionen und Ideologien so gut wie frei: Ich beziehe mich auf das Entstehen des Homo sapiens vor, laut aktuellen und anscheinend gut abgesicherten Forschungsergebnissen, rund 300.000 Jahren.

Der zweite auf das erstmalige Betreten eines anderen kosmischen Körpers durch den Homo sapiens, die Mondlandung. Nun weiß ich sehr wohl um die „Politik“ hinter dem Bestreben, einen menschlichen (amerikanischen) Erst-Fußabdruck auf dem Begleiter unseres Planeten zu hinterlassen, ABER: Es stellt dennoch ein epochales Ereignis dar, dessen die gesamte Menschheit betreffende Bedeutung wohl erst in (naher?) Zukunft so richtig gewürdigt werden wird.

Man bedenke: Der auf diesem, unserem Himmelskörper entstandene Mensch hat, mittels eines beeindruckenden wissenschaftlichen/technologischen/soziologischen Kraftakts, am 21.07.1969 (Weltzeit) seinen Fuß zum ersten Mal auf einen anderen Himmelskörper gesetzt!

Ich propagier(t)e – siehe gleich unten – folglich: eine Jahreszählung möge mit dem erstmaligen Auftreten des Homo sapiens, des „weisen“ Menschen, vor 300.000 Jahren beginnen, und 1969 würde ob seiner Relevanz die Jahreszahl 300.001 zugewiesen. Im kommenden Jahr würden wir demnach im Jahre 300.054 (sinnvolle Kurzschreibweise: 3’054) leben.


Ein „Homo-Kosmischer“ Kalender

Vor einem Jahrzehnt habe ich ein schmales Büchlein verfasst, in dem ich diese Gedanken, ausgehend und umrahmt von allerlei Wissens- und Bedenkenswertem, relativ detailreich ausgeführt habe (dabei hatte ich aber, dem damaligen Wissensstand folgend, die Homo-sapiens-Entstehung 100.000 Jahre später angesetzt). Dennoch ist die gesamte Thematik unbestreitbar daueraktuell. Sollten Sie also für mein Buch mit dem Titel „Ist unsere Zeitrechnung noch zeitgemäß?“ ein Interesse haben, siehe unten!

Auf den Punkt gebracht: Wie umsetzbar sind derartige Ideen? Sind sie Produkte blühender Fantasie eines pensionierten Astronomen und (derzeit) unnötig? Mag sein. Undurchführbar? Zweifelsfrei. Zurzeit… Auch zukünftig? Abwarten… Indes sind sie als Denkanstoß womöglich bereits jetzt brauchbar.

Soll heißen: Sollte ich SIE, werte(r) Leser(in), dazu verführt haben, ein klein wenig über den Beigeschmack „unserer“ christlichen Jahreszählung nachzusinnen, waren meine Flausen so sinnlos nicht.

Literaturhinweis: studia.at/search?sSearch=ronald+weinberger

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Ronald Weinberger

Ronald Weinberger, Astronom und Schriftsteller, 1948 im oberösterreichischen Bad Schallerbach geboren, war von 1973 bis 1976 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg. Von 1977 bis zum Pensionsantritt im Dezember 2011 war Weinberger an der Universität Innsbruck am Institut für Astronomie (heute Institut für Astro- und Teilchenphysik) als Fachastronom tätig. Als Schriftsteller verfasst Weinberger humorvolle Kurzgedichte und Aphorismen, aber auch mehrere Sachbücher hat er in seinem literarischen Gepäck: Seine beiden letzten Bücher erschienen 2022 im Verlag Hannes Hofinger, im Februar das mit schrägem Humor punktende Werk "Irrlichternde Gedichte" und im September das Sachbuch „Die Astronomie und der liebe Gott“ mit dem ironischen, aber womöglich zutreffenden, Untertitel „Sündige Gedanken eines vormaligen Naturwissenschaftlers“.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. John-Dirk Schneider

    Die heutige Jahreszählung ist weltweit verbreitet und international (z.B. Flugverkehr oder die UNO). Auch Länder, die eine andere Jahreszählung haben (islamische Länder z.B), verwenden im internationalen Verkehr unsere Jahreszählung. Deshalb ist es aus pragmatischen Gründen sinnvoll, es dabei zu belassen! Auch wenn das genaue Geburtsdatum von Jesus Christus unbekannt ist. Die Frage, ob Jesus von Nazareth überhaupt gelebt hat, ist eine Glaubensfrage. Was aber keine Glaubensfrage ist, ist, dass er die Weltgeschichte sehr beeinflusst hat. Das muss man wohl auch als ungläubiger Mensch akzeptieren.

    John-Dirk Schneider

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