Vanessa Musack
Wie viel geplantes Glück wünschen sich unsere Kinder?
Essay

Zu Beginn meines Textes möchte ich darauf hinweisen, dass sich dieser auf Familien bezieht, deren Leben in sogenannten „normalen Bahnen“ verläuft. Es geht um die Wünsche ebendieser „normalen“ Eltern und es wird aufgezeigt, dass ihre Sehnsüchte Ausdruck einer zutiefst verunsicherten Elterngeneration sind.

Unsere Kinder sind unser Heiligtum und wir lieben sie über alles. Sie sollen es einmal guthaben, mit mehr Chancen und Möglichkeiten, als wir selber es hatten. Jede Türe soll ihnen offenstehen und sie sollen es leichter haben als wir.
Aus diesem Grund steht von Tag eins an ihre Vorbereitung auf die Zukunft im Fokus. Um sie möglichst effektiv dafür zu wappnen, kann die Frühförderung gar nicht früh genug beginnen. Wenn wir Eltern in einem übereinstimmen, dann ist es dies: alles in der Erziehung möglichst richtig und das auch noch zum richtigen Zeitpunkt zu machen.

Unsere Sprösslinge sollen nur das Beste bekommen: Angefangen bei den Freizeitaktivitäten über Spielzeug und Sportgeräte bis hin zur Kleidung. Unsere Performance steht zweifelsohne unter einem harten Diktat: Wir müssen ständig das Beste geben, die besten Eltern sein. Dem Durchschnitt stehen wir mit großer Skepsis gegenüber. Die Normalität, in der wir uns – ehrlich gesagt – die meiste Zeit unseres Lebens bewegen, werten wir ab.

Wenn ich mir die Kinder dieser Generation anschaue, so ist ihre Woche ausgefüllt mit Sport-, Musik- oder Kunstunterricht und mit weiß Gott welch anderen Übungen zur Steigerung der eigenen „Leistung“. Oft sind es dann auch gleich mehrere Sportarten oder Instrumente, mit denen sie glänzen müssen. Schließlich wünschen wir uns für sie nichts sehnlicher, als dass sie einmal richtige Gewinner werden. So findet sich manch einer nicht etwa, weil es Spaß macht, beim Kletter- oder Schwimmtraining wieder, sondern weil es die geistige und körperliche Entwicklung fördert. Von den anderen bewundert, werden sie mit Sicherheit einmal sehr glücklich und zufrieden sein, zumindest mehr als wir es sind, so unsere Annahme. Unsere Kinder sollen nicht traurig dasitzen müssen und denken, dass aus ihnen nichts wird oder geworden ist.

Wir leben heute weitestgehend in der Annahme, dass die Entwicklung unserer Kinder einzig und allein davon abhängt, wie engagiert wir uns bei der Erziehung ins Zeug legen. Wir haben weder Vertrauen in die Natur, noch in den Lauf der Dinge oder in das Umfeld: alles Faktoren, die genauso zur kindlichen Entwicklung beitragen. Unseren Kindern selbst trauen wir anscheinend auch nicht zu, etwas aus eigener Kraft heraus zu schaffen und sich gut bzw. ihrem eigenen Rhythmus entsprechend zu entwickeln. Wir wollen und können nichts dem Zufall überlassen und so schaffen wir es nicht, die Dinge auch einmal laufen zu lassen. In unserer Vorstellung sind unsere Kinder beliebig formbar. Angeborene Anlagen, Eigenheiten und das jeweilige Temperament werden komplett ausgeblendet.

Wir Eltern sind überdies sehr eitel geworden. Kinder können nicht einfach Kinder sein, sie müssen Vorzeigeexemplare sein. Die Abhängigkeit von großem Zuspruch und überschwänglicher Bewunderung liegt jedoch nicht im Naturell eines Kindes, sondern ist das Streben und Bedürfnis von uns Erwachsenen.

Wenn ich Ihnen von pränatalem Englischunterricht oder Musikerziehung im Mutterbauch erzähle, so müssen Sie bestimmt schmunzeln. Ich musste auch lachen. Natürlich ist das alles ein Ausdruck unserer großen Liebe und Zuneigung. Von daher ist es wirklich lobenswert, denn wer würde schon seine Liebsten und Teuersten verkommen lassen und unbekümmert danebenstehen? Jedoch sollten wir dabei nicht übersehen, dass unsere Kinder in ihrem Wachstum sehr wenig auf Angebote wie Frühförderung oder andere Formen der Vorbereitung auf das Leben angewiesen sind, sondern den Großteil ihrer Kompetenzen beim einfachen Spielen erlernen.

Dass wir bei all der Liebe und Sorge um unsere Kinder Gefahr laufen, uns in den für uns selbst erhofften Wünschen zu verlieren und das, was unsere Kinder möchten, zu vergessen, liegt auf der Hand.

Gehen wir doch von der Frühförderung im Mutterleib, die Sie mit Sicherheit auch noch als etwas befremdlich und durchaus amüsant empfunden haben, ein paar Jahre weiter. Wie schaut die Woche Ihres Kindes aus? Hetzen Sie auch jeden Tag von einem Termin zum nächsten, in der festen Überzeugung, die unzähligen Talente ihres kleinen Einsteins sonst zu vergeuden?

Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen, dass ich mich über die verbissenen „Förder-Eltern“ innerlich immer etwas lustig gemacht habe. Aber diesem Druck zu entgehen, ist tatsächlich alles andere als einfach. Als gute Eltern möchte man nichts verabsäumen, was man später vielleicht gar nicht mehr nachholen kann. Im schlimmsten Fall könnte man durch die eigene Nachlässigkeit und Unaufmerksamkeit dem lieben und teuren Kind sogar eine erfolgreiche Zukunft verbauen. Die Angst, hier einen irreparablen Fehler zu begehen, nagt ständig an einem, auch wenn man es zwischendurch überspielen mag.

Ich habe also noch einmal leise in mich hineingelacht und den Kopf geschüttelt und dann kam Corona. Meine guten Vorsätze sind allesamt umgefallen. Durch die Ausgangssperren und Schließungen aller möglichen Einrichtungen hatten wir so lange nicht die Möglichkeit, etwas zu tun, etwas zu planen und uns auf etwas zu freuen! Nach der ersten Welle bin ich daher gut gewappnet mit vier fixen Wochenterminen für meine älteste Tochter, die noch in die Volksschule geht, in den Herbst gestartet. Kurz nach Schulbeginn stand jedoch schon die nächste Corona-Welle vor der Tür und wir konnten die Kurse allesamt nicht besuchen bzw. wurde der Musikunterricht digital abgehalten. Was den dadurch vermiedenen Terminstress für meine Tochter betrifft, muss ich sagen, dass ich froh bin, dass alles wieder lahmgelegt war.

Im April, nach Ablauf des hoffentlich letzten Lockdowns, sah ich mich schließlich mit dem Ergebnis meines unbändigen Hungers, endlich wieder ohne Beschränkungen den Tag planen zu können, konfrontiert: Eine voll verplante und fix eingeteilte Woche, die keinerlei Freiraum für spontane Aktivitäten ließ.

Ich hatte wirklich vor, es bis zum Semesterende durchzuziehen… Bis ich mich daran erinnerte, was ich mir für meine Kinder immer gewünscht hatte. Ich wollte, dass sie so frei und unbeschwert aufwachsen können wie ich selbst. Mit keinen Terminen, keinem Zeitdruck und unendlich vielen Möglichkeiten, selbst zu entscheiden, was ich gerade tun, spielen oder entdecken wollte. Diese Freiheit und das intuitive Wissen, dass mir die Welt offensteht und alles, was ich mir erhoffe, auch möglich ist, ganz ohne lang und breit darauf vorbereitet zu werden, verliehen meiner Kindheit etwas sehr Unbeschwertes. Ich hatte endlose Nachmittage nur für mich und meine Freunde, in der Natur, bei den Pferden, auf Achse. Ich konnte spüren, dass alles gut ist und dass ich genau so wie ich bin – richtig bin. Dieses Gefühl in mir gibt es noch heute, und wenn ich es ganz nah an mich heranhole, dann weiß ich, dass es meine Kinder auch OHNE schaffen werden.

OHNE bedeutet nicht, dass sie gar keine Kurse besuchen. OHNE heißt ohne Druck, ohne Stress und ohne Zwang. Sie dürfen die Dinge in ihrem eigenen Tempo machen. Kein Kind vergeudet Zeit oder Talent, weil es sich am Nachmittag auch mal langweilt oder verträumt auf einem Heuballen sitzt und nur in die Luft schaut. Ich bin davon überzeugt, dass jedes Kind, das wirkliche Begeisterung für etwas hegt, es auch lernen wird, ganz egal ob früher oder später.

Auch wenn man sich später vielleicht einmal stolz brüsten kann, was man alles bereits im zarten Kindesalter gelernt hat, so darf man keinesfalls all die verlorenen schönen und unbeschwerten Stunden und den Müßiggang einer glücklichen Kindheit vergessen.

Oder möchten Sie das? Ich nicht. Und Ihr Kind vermutlich schon gar nicht.
Eine sehr lebenskluge Frau hat mir einmal geraten, dass man „Kinder und Uhren laufen lassen soll…“.

Und das ist wirklich so!

Vanessa Musack

Vanessa Musack wurde am 20. Juli 1981 in Wien geboren und wuchs im Hotel Windegg in Steinberg am Rofan auf. Von 2000 bis 2005 studierte sie Betriebswirtschaftslehre in Innsbruck, Groningen (NL) und Montpellier (F). Ihre Diplomarbeit, „Universitäre Spin-offs als Quelle Nationaler Innovationen“, wurde mit dem Graf Chotek Hochschulpreis ausgezeichnet. Nach dem Studium absolvierte Vanessa Musack ein einjähriges Praktikum bei der Firma Salomon in Annecy (F) in der Abteilung für Internationale Kommunikation. Ab 2007 war sie für die Österreich Werbung in Brüssel als Pressesprecherin tätig. Im Zuge ihres einjährigen Auslandsaufenthaltes auf Madagaskar arbeitete sie für ein einheimisches Reiseunternehmen und schulte Mitarbeiter im Bereich Marketing. Nach ihrer Heimkehr 2011 betreute sie für die Tirol Werbung die Reisepresse auf den deutschsprachigen Märkten. Vanessa Musack hat vier Kinder und arbeitet für das Tiroler Kammerorchester InnStrumenti.

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