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Der epische Herr Thiem

Als ich am Montagabend nach Hause fuhr, hörte ich im Autoradio, wie einer unserer erleuchteten Sportreporter noch immer mit verquetschter Stimme von der „epischen Nacht“ des Dominic Thiem schwärmte. Ich gestehe: Ich leide schon unter Schweißausbrüchen, wenn erwachsene Zeitgenossen sich bei der Jugend oder dem Zeitgeist einzuschleimen versuchen, indem sie Worte wie „cool“, „Alter“, „krass“ oder „geil“ verwenden. Zumindest bei letzterem dürfte bekannt sein, worum es sich handelt.

Bei „episch“ jedoch, was in etwa „supertoll“ bedeutet, ist davon nicht auszugehen. Der Begriff stammt in seiner derzeitigen Verwendung aus dem Bereich der Fantasy-Computerspiele. Ursprünglich bezeichnet er jedoch jene umfangreichen literarischen Werke, die – wie etwa die „Odyssee“ des Homer, „Krieg und Frieden“ von Leo Tolstoi, „Die Buddenbrooks“ von Thomas Mann oder „Der Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil – eine ganze Epoche zwischen zwei Buchdeckel bannen.

In einer Zeit, in der sich fast alle, besonders wenn sie jung sind, über ein Handy beugen, muss man sich fast schon entschuldigen, wenn man sich ein Leben lang über Bücher gebeugt hat. Dennoch würde ich vorschlagen, dass jeder, der etwas als „episch“ bezeichnet, „zur Strafe“ auch eines der großen Epen der Weltliteratur lesen sollte. Sie sind selten geil, aber, sofern man wie ein Tennisstar die Anstrengung nicht scheut, garantiert „episch“!

Alois Schöpf

Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor und Journalist, lebt bei Innsbruck. Alois Schöpf schreibt seit 37 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 28 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Limbus: Vom Sinn des Mittelmaßes (2006), Heimatzauber (2007), Die Sennenpuppe (2008), Platzkonzert (2009), Die Hochzeit (2010), Glücklich durch Gehen (2012), Wenn Dichter nehmen (2014), Kultiviert sterben (2015) und Tirol für Fortgeschrittene (2017). Zuletzt erschien in der Edition Raetia Bozen gemeinsam mit dem Fotografen und Regisseur Erich Hörtnagl "Sehnsucht Meer, Vom Glück in Jesolo", die italienische Übersetzung wurde zeitgleich präsentiert. Und es erschien, wieder bei Limbus, "Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen". Schöpf ist auch Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte und leitete das erfolgreiche Bläserfestival fünfundzwanzig Jahre lang bis 2019.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Hermann Pallhuber

    Lieber Alois,
    ein sehr gutes Apropos von Dir heute in der TT…
    Ich dachte und denke mir das schon lange…. gerade vor dem Hintergrund der täglich erlebbaren Erweiterung der „sprachlichen Kompetenzen“ meiner beiden Junggymnasiasten zu Hause und in deren Peergroups…
    Köstlich am Ende die Pointe: „zur Strafe….“
    Ich würde jetzt glatt gern sagen: Echt geil, wie du das geschrieben hast, Alter, krass! Du bist auf einem epischen Level….

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