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Reinhold Knoll
Über Europa
2. Teil:
Statt Religion entstehen Institutionen
Essay

1. Teil: https://schoepfblog.at/reinhold-knoll-uber-europa-1-teil/

Die Papstrevolution hatte eine paradoxe Wirkung. Sie schwächte den Kaiser, der von Jahr zu Jahr um seinen universellen politischen Besitzstand bangen musste und verlieh erwartungsgemäß der Kirche eine gewaltige emanzipatorische Kraft, die aber in erster Linie dem frühen Bürgertum ungeahnte Vorteile schenkte. 

Ausdruck dieser neuen mittelalterlichen Libertät war die Gründung der Universitäten, die recht bald eine besondere Form der Unabhängigkeit bildeten. Die wirkungsvollste Änderung wurde dabei nicht in Prag oder in Bologna, in Cambridge oder Oxford erzielt, sondern durch eine winzige neu gegründete Universität im verschlafenen Städtchen Wittenberg. Was hätten Luther und Melanchthon anderes tun können als die Bibel aus dem Hebräischen zu übersetzen und an eine Reformation zu denken, gab es doch in Wittenberg nicht einmal ein attraktives Wirtshaus? Und die Obrigkeit war von Wittenberg mehr als 30 km entfernt: also war bereits diese Distanz reformatorischen Gedanken günstig. Bis ein Bischof endlich begriff, was da vor sich ging, war die Lawine schon im Anrollen. 

Die Reformation spaltete Europa, und von nun an gibt es die Einheit der Christenheit nicht mehr.

Die englische Revolution wiederum schlägt ein völlig neues Kapitel in der Geschichte Europas auf. Erstmals stehen sich zwei relativ neue Institutionen gegenüber. Die eine ist der König samt seinem Glaubensbekenntnis, die andere entwickelt sich aus der Magna Charta libertatum 1215. Das Parlament steht plötzlich als Institution gegen den König. Allerdings sollte man dieses Parlament eher als eine Kurie interpretieren. Es ist als säkulare Konzilskirche die Vertretung der politischen Freiheit der Stände gegen die traditionell-hierarchische Ordnung des Königs.

Dieses Spannungsverhältnis ist in der römischen Kirche schön länger akut. In Italien steht die libertas ecclesiae gegen den Kaiser – besonders in den Stadtstaaten Oberitaliens, und fördert damit indirekt die unbedingte, auch politische Autorität des Papstes. Nun gibt es wirklich den ominösen neuen Kirchenstaat – bis Sizilien. Gleichzeitig wird in Deutschland die Religionsfreiheit gegenüber dem Papst möglich. 

Der allgemeine Machtverlust des politischen Prinzips König drängt die weiterhin vorhandene politische Ordnung in die moderne Staatsräson. Diese benötigt für ihre Autorität Gesetz und Polizei – also Parlament und Exekutive. In England bleibt zwar die alte Stammesfreiheit bis über das Hochmittelalter erhalten, weshalb der König stets die Zustimmung der Stämme benötigt. Sie lassen sich auch ins Selbstverständnis des Parlaments gut einfügen, wenn man es als kuriale Institution wahrnimmt und aus dieser Position die Parlamentsherrschaft interpretiert. Diese Herrschaft legitimierte etwa Oliver Cromwell, gegen Karl II. den politischen Prozess zu eröffnen, der nun nach den gesetzlichen Regeln des Parlaments abläuft und nicht nach den Vorrechten eines Königs. Der Prozess endete mit der Hinrichtung des Königs.

Nun könnte man glauben, dass die Revolution in Paris ein ähnliches Motiv hatte. Überrascht ist man, wenn die Analyse auf der ökonomisch-juristischen Ebene durchgeführt wird. Hier steht die Freiheit des bürgerlichen Privateigentums der feudalen Privilegienwirtschaft entgegen. Es ist das weit wichtigere Kriterium als etwa die Forderung nach Freiheit oder Gleichheit. Beides hat ja Napoleon umgehend als Parvenu unterlaufen. Aufgrund erhöhten Steuerdrucks, der wahrscheinlich den Staatsbankrott auch nicht hätte abwenden können, wechselt der zweite, geistliche Stand nicht nur zum dritten Stand – gemäß der Rede von Abbé Sieyes -, sondern die Nationalversammlung macht gleich den König überflüssig. Daher benötigt man für die politische Ordnung eine geschriebene Verfassung: die Konstitution.

In Russland wird hingegen 1917 durch die Revolution die Arbeitskraft vom Kapital losgelöst, was aus der noch immer vorhandenen Leibeigenschaft recht gut gelingen konnte, man war aber nicht fähig, die Perversion einer neuen Wirtschaftsdiktatur zu vermeiden.

Deklinieren wir nun diese Zäsuren der europäischen Geschichte im Kräfteverhältnis zwischen Freiheit und Ordnung, so müssen wir dies in Verbindung mit dem soeben entworfenen historischen Abriss tun. Die Reformation, die die alte Universalität in Europa zerstörte, bewirkte zuerst einmal die Säkularisierung von Volk, indem es aus dem biblischen Kontext gelöst wurde. Eine vormals religiöse Unabhängigkeit wird eine politische, wobei Luther die politisch-theologische Mündigkeit des Volkes an die reformierten Fürsten verriet – auf Kosten der Bauern. 

An die Stelle der einen Kirche und des einen Glaubens müssen Substitute treten. So uns die politische Theologie der Habsburger in der Pietas Austriaca geläufig ist, kann diese nicht mehr über eine grenzenlose Loyalität zu Kaiser, Reich und Kirche abgerufen werden, sondern Institutionen haben den Verlust zu kompensieren – und treten an die Stelle der kirchlichen Funktionen in der Gesellschaft. 

Die Universalität der Kirche wird von der gemeinsamen Formensprache der Kunst im Barock weltweit nachgeahmt, für die Ordnung in der Gesellschaft – man sieht sich nicht mehr als Volk, sondern als Ständegesellschaft – kommt das Verwaltungsrecht auf, für die nötige Erkenntnisproduktion die eigenständig gewordene Wissenschaft, organisiert in der Universität. Ab nun wird auch die Wahrung der Integrität der Person über die Idee eines Rechtssystems vorstellbar, 1648 im Religionsfrieden und dann später in der Deklaration der Menschenrechte 1776 im Zuge der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten von Amerika.

Fortsetzung nächsten Mittwoch 3. und letzter Teil

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Reinhold Knoll

Reinhold Knoll, geb. in Wien 1941. Gymnasium und Studium der Geschichte und Kunstgeschichte in Wien. A.o. Hörer an der Akademie der Bildenden Künste. Promotion 1968 mit dem Thema „Früh- und Vorgeschichte der christlich-sozialen Partei bis 1907" (gedruckt). 1969 bis 1972 innenpolitischer Redakteur im ORF. 1973 am Institut der Soziologie an der Univ. Wien. Habilitation zur „Österreichischen Geschichte der Soziologie", gedruckt, mit Beiträgen von Helmut Kohlenberger 1988. A.o. Prof. für Soziologie ab 1989; Letzte Publikationen: The Revelation of Art-Religion, New York 2018; Letters to my grandchilden, New York 2021; und Beitrag zu Joseph von Sonnenfels, 2024.

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