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Reinhold Knoll
Über Europa
3. Teil: Eine Union ohne Geschichte

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Aus namenlosem Leid war die neue Idee von Europa nach 1945 geboren worden. Es waren Realisten, die in der Ortung der Konfliktzonen den Antagonismus zwischen Frankreich und Deutschland entdeckten. Und es war ja wirklich skandalös, dass Bismarck obszön das Kaiserreich in Versailles 1871 ausgerufen hatte –  als bewusste Beleidigung der Geschichte Frankreichs. Deshalb gründete man 1951 die Montanunion mit der gemeinsamen deutsch-französischen Verwaltung. Der geistige Inhalt war von Churchill in der Zürcher Rede 1946 entworfen worden. Daraus entstanden die Grundsätze für drei Wirtschaftsblöcke, die uns bis heute geläufig blieben: EWG, EFTA und COMECON. 

Der Erfolg war so groß, dass der erste im zweiten aufging und der dritte schlicht zusammenbrach. Im platten Verständnis des Materialismus glaubte man an die integrative wie suggestive Kraft gemeinsamen Wirtschaftens und einer gemeinsamen Währung. In Anlehnung an diese Überzeugung – fast einem neuen Religionsbekenntnis gleichzusetzen – hoffte man auch zuversichtlich, dass auch mit der EVG (Europäische Verteidigungsgemeinschaft) eine ebenbürtige Partnerin der NATO gelinge, mit der Vernetzung der Interpol ein Sicherheitsapparat existieren würde oder aus der ILO eine europaweite vereinigte Gewerkschaft entstünde oder gar mit EURATOM eine gemeinsame friedliche Nutzung der Kernenergie. 

Das Einigungswerk, das mit der Konstruktion der Europäischen Union einen Verwaltungsapparat in Brüssel etablierte, resultierte aus zwei nicht adäquaten Planungen der Verwaltungseinrichtung. Das deutsche Konzept orientierte sich an dem Subsidiaritätsprinzip nach dem Entwurf von Hallstein, womit vorher die deutschen Länder locker zusammengefasst worden waren. Die französische Intention war auch von Robert Schuman strikt zentralistisch gefasst, eine Tendenz, die seit der Revolution 1789 für Frankreich etabliert war. Ein einziges Mal wurde diese Verwaltungsideologie übrigens unterbrochen: mit der autoritären Beendigung der Algerienkrise 1962 durch Charles de Gaulle.


Ohne historische Wurzeln

Die Europäische Union hat sich inzwischen von ihren historischen Wurzeln vollständig emanzipiert. Wenn über die USA behauptet wird, über kein historisches Bewusstsein zu verfügen, so trifft es weit mehr auf die Europäische Union zu, an der in keinem Punkt mehr die historischen Zäsuren Europas und die Art ihrer Überwindung zu erkennen sind. Allgemein wird Europa als Territorium uneingeschränkter Reisefreiheit verstanden und akzeptiert. Als Chance auch, an allen Universitäten die vergleichbaren Studiengänge zu absolvieren. Und geschätzt wird ebenso die gemeinsame Währung. Die europäischen Krisen der Geschichte bewirkten keinen politischen Erkenntnisprozess, um in der Einigung Europas mehr zu erreichen als einen dicken und breiten Wirtschaftsblock, der allerdings nicht in der Lage ist, auch nicht in der Lage sein soll, staatliche Kompetenzen wahrzunehmen. 

Der allgemein anerkannte Vorteil der Europäischen Union beruht noch immer auf der zuverlässigen Ablehnung eines Kriegs, da die Grausamkeiten des Zweiten Weltkriegs, umfangreich in Bildern dokumentiert, als gemeinsame Erinnerung nachhaltig präsent sind. Darin liegt auch die willkommene Chance der Nationalisten und Populisten, die Mängel innereuropäischer Konsenspolitik als Beweis dafür zu nehmen, dass die Idee Europa undurchführbar sei.

Nun besteht sicherlich eine Schwierigkeit darin, dass die gegenwärtigen politischen Denkmuster, die nahezu alle Staaten der Welt übernommen haben, aus den politischen Archäologien Europas stammen, auch wenn es gelang, diese bis zur Unkenntlichkeit zu pervertieren. Erinnert sei an Schwarz-Afrika oder Südamerika. Der Theoretiker einer politischen Alternative zur Demokratie ist übrigens der südamerikanische, antimodernistische Philosoph Nicolás Gómez Dávila, dessen Essays gegen Liberalität und Parteienstaat auch in Europa Verbreitung findet.

Die Europäische Union ist heute jene Einrichtung, die sich der europäischen Geschichte weniger verpflichtet fühlt als etwa China der chinesischen oder die äußere Mongolei ihrer Geschichte. Das zeigen auch die Symbole auf den Banknoten der Europäischen Union, die entweder fiktionale Gebilde darstellen, fiktive Brücken oder Torbögen, und zugleich eine Unterschrift präsentieren, mit der der Unterzeichner für nichts steht und für nichts garantiert – im Unterschied zur Dollar-Note.

In einer früheren Expertise hat Robert Menasse gemeint, dass die gegenwärtige Krise und der Umgang mit ihr an das letzte Tabu der, ihrem Selbstverständnis nach, aufgeklärten Demokratie rührt. Dieses Tabu ist die Demokratie selbst….Kann es sein, dass Demokratie, so wie wir sie nach 1945 mühsam und ungenügend gelernt haben und wie wir sie gewohnt sind, auf supranationaler Ebene gar nicht funktionieren kann – im Gegenteil, dass sie das Problem ist, dessen Lösung wir mit wachsender Hilflosigkeit von ihr erwarten?…Demokratiepolitisch produziert diese Trias von Parlament, Rat und Kommission also ein schwarzes Loch, in dem das, was wir unter Demokratie verstanden, verschwindet.

Diese Anmerkung trifft auf eine Europäische Union zu, die wegen Donald Trump und wegen des Kriegs in der Ukraine, also eines Kriegs in Europa, unsanft aus ihren Träumen gerissen wurde.

Die fundierteste Kritik an der EU hatte Hans Magnus Enzensberger verfasst, allerdings hierzulande unbeachtet. Enzensberger diagnostiziert das Dahinschwinden des demokratischen Gedankens und Brüssel als jenen Ort, der viele demokratisch gewählten Politiker ermutigt, ihre demokratische Fesselung abzustreifen. Die beste Art, dies zu tun, besteht darin, die bisherige einzelstaatliche Kompetenz einzuengen.

In Österreich existierte dereinst eine Paritätische Kommission zur Regelung der Preise und Löhne, die um 2000 mehr oder weniger aus dem Bundeskanzleramt entlassen wurde. Das war in anderen Staaten bislang nie vorgesehen, doch erinnern wir uns, dass man diesem Gefüge unsere soziale Wohlfahrt verdankte. In Deutschland war es das sozialstaatliche Konzept zwischen Ludwig Erhart und dem Kultursoziologen Alfred Müller-Armack, die anfänglich ebenso diese ökonomischen Überlegungen für alle Mitgliedsstaaten in Europa etablieren wollten. Das alles ist längst Geschichte. 

Auch die Vorgeschichte wurde aus den Büchern gestrichen: nämlich der sogenannte Kathedersozialismus, dessen Vertreter nach Wien berufen wurde: Albert Schäffle um 1870. Oder der Gedanke eines Ausgleichs von Kapital und Arbeit bei Lorenz von Stein, ebenfalls nach Wien berufen nach 1866. Dieser Gesellschaftsvertrag, der der nucleus der Politik nach 1945 war, wurde im Prozess der Europäischen Einigung Schritt für Schritt aufgekündigt. 

Ab nun dominiert der moderne Kapitalismus, der nach Richard Sennett nicht als eine Einheit betrachtet werden kann, da in ihm bereits das spekulative Kapital die Herrschaft über das produktive übernommen hat. Schritt für Schritt dämmten wir in Europa unser bedeutendstes Kulturmodell ein: die Sozialpolitik – und überantworten die Menschen dem Stichwort der Flexibilität aller Art und Kategorie. Man kann mit Ironie behaupten, dass zwar kaum wer Marx liest, während seine Analysen erstmals zuzutreffen scheinen.


Statt eines Reichs geschichtsloser Kapitalismus

Wir sehen also, dass das wirtschaftspolitische Drahtziehen in Brüssel sich darin einig zu sein scheint, uns aus der historischen Identität zu lösen. Das ist am Umstand zu erkennen, dass die Differenz zwischen Staat und Reich grundsätzlich nicht mehr bedacht wird. In dem Fall hätte die Europäische Union die Rolle eines historischen Reiches nach 1648. So man den Geschichtlichen Grundbegriffen bei Reinhart Koselleck folgt, hätten sich die EU bzw. die Brüsseler Behörden darüber klar zu sein, die politische Weisheit für ein Reich aufzubringen und nicht kalkulierte Erfolgsrezepte für Staaten zu entwerfen, die noch immer verschiedene Mehrwertsteuer-Sätze haben. 

Was niemanden mehr verwundert, ist der Lissaboner Vertrag 2007 . Im gesamten Vertrag werden die Worte Gemeinschaft oder Europ. Gemeinschaft ersetzt durch Union, die Worte Europ. Gemeinschaften oder EG oder Europäische Wirtschaftsgemeinschaft durch Europäische Union, der Wortbestandteil Gemeinschafts- durch Unions und das Adjektiv gemeinschaftlich durch der Union, außer in Artikel 299 Absatz 6 Buchstabe c, wo der Artikel 311a Absatz 5 Buchstabe c wird. In Artikel 136 Absatz 1 betrifft die vorstehende Änderung nicht das Wort Gemeinschaftscharta

Dahingegen heißt es bei einer EU-Empfehlung: Die Durchsetzungsmaßnahmen direkt nach Inkrafttreten der Rechtsvorschriften sind entscheidend für deren Erfolg und für den Erfolg der zukünftigen Überwachung und Durchsetzung…Sobald die aktive Durchsetzung beginnt, wird empfohlen, eine aufsehenerregende Strafverfolgung zu betreiben, um die abschreckende Wirkung zu verstärken. Das findet sich im interinstitutionellen Dossier Nr. 23009/0088 auf insgesamt 24 Seiten, das sich um eine rauchfreie Umgebung bemüht. Und weiter: Die Kommission sieht sich gezwungen, zu drakonischen Mitteln zu greifen, da sich freiwillige Regelungen auf nationaler Ebene als unwirksam erwiesen haben. Fast ist man geneigt, den berüchtigten Mailänder Zigarrenrummel 1848 in Brüssel zu wiederholen, bei dem Raucher verprügelt wurden, so sie die österreichische Virginia rauchten. Radetzky hat das dadurch befriedet, dass er Soldaten mit Virginia spazieren schickte.

Nun hat Hermann Lübbe schon vor 20 Jahren geschrieben, dass es die Vereinigten Staaten von Europa nicht geben werde. Und das ist nicht das Ergebnis von historischen Reflexionen, nach denen es ja Europa geben könnte. Man muss nicht psychoanalytisch geschult sein, um an den Banknoten zu erkennen, dass hier ein sehr mangelhaftes europäisches Selbstverständnis vorliegt. Oder will die Banknote eine vulgärmarxistische Interpretation provozieren? Während jede Dollar-Note, wie geschrieben, die Beglaubigung aller möglichen Personen besitzt, so finden wir auf dem Euro-Schein nur eine Kraxn

Was bedeutet das? Wie soll man das bewerten? Während der Dollar zumindest eine Scheinbeglaubigung aufweist, da der Bankpräsident kaum über die Mittel verfügt, den Inflationsverlust den Amerikanern zu ersetzen, der ja angesichts der rotierenden Banknotenpresse ein Skandal ist und eine ökonomisch verkehrte Welt bewusst herstellt, so ist der Euro ein bemerkenswertes Symbol dafür, kein Symbol zu sein. Entschließt sich also die EU ausgerechnet dort zu nichts, wovon sie meinte, ihre Stärke zu beziehen? Es scheint so zu sein. Mit der vor kurzem noch geltenden Selbstaufgabe Europas bei der erschreckend falschen Einschätzung des russischen Präsidenten über zwanzig Jahre hinweg ist jegliche Selbsteinschätzung der Europäischen Union ohnehin Lügen gestraft worden.

Nun haben die Wahlen zum Europäischen Parlament die Problemlagen eher erweitert als verringert. Im Grunde ist der Austritt Großbritanniens nicht überwunden, da einige Mitgliedstaaten gern damit spekulieren, mit der Drohung des Austritts eine bevorzugte Behandlung zu erfahren. Das Verhältnis zu Osteuropa ist nach den Beitrittsritualen weiterhin unklar. Völlig offen sind die Fragen über die Gestaltung der künftigen Währungs- und Zinspolitik. Will man hier den USA folgen oder sich im Gegenteil versuchen? Welche künftige Minderheitenpolitik erhält den Vorzug oder wird jede föderalistische Alternative zum Schweigen gebracht? 

Überhaupt bleiben Antworten auf die politischen Bereiche des Föderalismus und/oder Regionalisierung unbeantwortet und offen. Dass die Europäische Union sich bisher zu keiner gemeinsamen Migrationspolitik entschließen konnte, zeigt eine Schwäche an, die für das Gefüge der EU von weitreichenden Folgen ist.

Es gilt: Was ist zu tun?

Eine Rückbesinnung tut Not. Man könnte wieder die Gedanken zu Europa von Karl Jaspers lesen, von Jan Huizinga, von Friedrich Heer, von Robert Musil, Eugen Rosenstock-Huessy oder Henri Pirenne.

Man könnte einmal die europäische Bildungspolitik ordentlich durchforsten, in der man ehrgeizigere Projekte verwirklichen will als die schleichende sogenannte Amerikanisierung unseres Bewusstseins durch Schulen oder gar Universitäten….Man könnte die Wahlordnung für Europa europäisieren, in der vorgesehen ist, dass ein Bewerber auch in einem anderen Land kandidieren und gewählt werden kann….Man könnte dafür Sorge tragen, dass die Grundnahrungsmittel oder Medikamente in Europa ein halbwegs gleiches Preisniveau haben…… Man könnte…


Eine Gegenstimme

Die hier vorgelegte Hypothese fußt auf der Zusammenstellung von fünf wesentlichen Ereignissen in Europa. Es waren dies die als Revolutionen apostrophierten politischen Erdbeben: 1. der Investiturstreit, 2. die Reformation, 3. die englische und hierauf 4. französische Revolution, denen 5. die bürgerliche Revolution 1848 und die russische Revolution 1917 folgten.

Der erste Einwand, der im Sinne einer marxistischen Geschichtsauffassung erhoben werden muss, liegt wohl an der Unterschätzung der industriellen Revolution. Sie hat einerseits einen Modernisierungsschub in Europa verursacht, dem Goethe fassungslos und im Grunde hilflos gegenüberstand – etwa in Wilhelm Meisters Lehr- und Wanderjahre – die andererseits aber jene Veränderung bewirkt, die dann als Klassengesellschaft apostrophiert werden konnte. War es bis zum marxistischen Manifest noch weit, so hat die ökonomische Theorie mit Adam Smith jene Kulturanthropologie provoziert, deren Beispiel in Robinson Crusoe von Daniel Defoe verkörpert erscheint. Es ist sowohl ein Wirtschaftsliberalismus, der sich als Beitrag zur Wealth of Nations deklarieren will, aber auch als individualistisches Naturrecht andere Saiten im Konzept des individual man anschlägt – im Extremfall ist es Herbert Spencers Survival oft the Fittest

So sehr auch der frühe Sozialismus sich der emanzipatorischen Kraft der Aufklärung bediente, so mündete er letztlich im Gehäuse der parteienstaatlichen Demokratie ab 1900, um der Gefahr des Totalitarismus zu entgehen. Der Gefahr des Kapitalismus war man hingegen fast schutzlos ausgesetzt, hatte man doch der Formel von Friedrich Hayek geglaubt, dass Kapitalismus eine Demokratie stärke und die Demokratie durch Kapitalismus zum Wohlstand führe.

An diesem Punkt fehlt auch der Hinweis auf die Besonderheit der technischen Entwicklung. Technik wird selten als revolutionäre Kraft verstanden. Das war selbst Marx entgangen, welcher individuelle Wandel mit der Technisierung verursacht wird. Die Technik wird erstmals von Wolfgang Kapp 1877 in dessen Technikphilosophie als gesellschaftspolitischer Faktor bezeichnet. Aus ihr entstehen verschiedene Modelle eines neuen Selbstverständnisses des Menschen, womit die Abgrenzung der Moderne von der bisherigen Geschichte erfolgt. Zu erwähnen ist auch, dass eigentlich Sigmund Freud diesen Wandel des Ich in der Technisierung neu interpretiert, indem er die Triebstruktur des Menschen wie ein technisches Modell in der Traumdeutung vorstellt.

Ein weiterer Punkt der Kritik bezieht sich auf die Defizite in der europäischen Entwicklung. So unterschiedlich die historischen Ereignisse rezipiert und interpretiert wurden, – so hatte man die Ziele der französischen Revolution in England verurteilt, woraus dann eine spezifische Form des Konservativismus mit Edmund Burke entstand – so waren die Kopien der Revolution auch nicht gerade beispielhaft. Zwar hatten noch Hegel, Hölderlin und Schelling um den Tübinger Freiheitsbaum 1793 getanzt, doch einige Jahre später fielen die Schlagworte der Revolution in die Hände der ersten Burschenschaften. In diesen Kreisen, vornehmlich Theologie-Studenten, wurde die Ermordung von Kotzebue geplant. So schnell entgleiste der Freiheitstraum in den Attentismus. Dieser hatte Metternich während einer Rom-Reise bestärkt, ein Regime in Europa zu etablieren, das die Aufklärung des 18. Jahrhunderets abrupt zu beenden versuchte.

Somit fehlen die beiden Initiativen in der europäischen Geschichte schmerzlich: Humanismus und Aufklärung. In Mitteleuropa war der Humanismus verdrängt worden, denn diese Staatenwelt befand sich im 16. Jahrhundert in einer gewaltigen Identitätskrise. Sie war die Voraussetzung für den Machtgewinn der Habsburger. Sie haben den Geist und die Rechtstradition des Kaiserreichs nach Maximilian I. unterlaufen und ihr Reich in eine Erbmonarchie transformiert. Das war Karl V. gelungen, der vor der politischen cross pressure dann in den Escorial flüchtete. Seine persönlich aussichtslose Lage hat Tizian zu zwei Portraits des Kaisers bewogen, was er zuvor am Höhepunkt der Macht Karls V. abgelehnt hatte.

In dieser Hinsicht bleibt der Exkurs zu Europa eine Skizze. Sie stimmt in vielen Fällen mit dem Entwurf einer Darstellung Europas bei Eugen Rosenstock-Huessy überein, dabei stellt sich aber die Frage, ob diese ereignisreiche Geschichte als Voraussetzung zur Erklärung und Wirkungsweise der Europäischen Union herangezogen werden kann. Der EU wird unterstellt, eine unhistorische Konfiguration geworden zu sein.

Also wird man der bisherigen Hypothese des Werdegangs Europas eine andere gegenüberstellen, die außerordentlich heikel zu formulieren ist: Wenn, wie erwähnt, die Einigung Europas nach dem Schock des Nationalsozialismus – weniger des Stalinismus – erfolgte, so muss man wohl oder übel zu der bitteren Einsicht kommen, dass die Zustände Europas heute immer deutlicher zu den Voraussetzungen seiner Gründung retardieren: zum Faschismus. 

Es ist eine leidvolle Einsicht, dass die vielen Facetten des Nationalsozialismus den Menschen in Europa ein befriedigenderes Erklärungs- und Weltmodell anboten als eine demokratische Überzeugung, die sich in der Beantwortung existentieller Fragen als zu kompliziert, als zu langsam oder gar zu unentschlossen zeigte. Das Problem der Europäischen Union und der meisten Staaten Europas liegt derzeit also darin, dass es der Nationalsozialismus vermochte, ab 1933 der Referenzrahmen für das politische Selbstverständnis zu bleiben, womit schon seit dieser Zeit die europäische Vorgeschichte eliminiert wurde.

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Reinhold Knoll

Reinhold Knoll, geb. in Wien 1941. Gymnasium und Studium der Geschichte und Kunstgeschichte in Wien. A.o. Hörer an der Akademie der Bildenden Künste. Promotion 1968 mit dem Thema „Früh- und Vorgeschichte der christlich-sozialen Partei bis 1907" (gedruckt). 1969 bis 1972 innenpolitischer Redakteur im ORF. 1973 am Institut der Soziologie an der Univ. Wien. Habilitation zur „Österreichischen Geschichte der Soziologie", gedruckt, mit Beiträgen von Helmut Kohlenberger 1988. A.o. Prof. für Soziologie ab 1989; Letzte Publikationen: The Revelation of Art-Religion, New York 2018; Letters to my grandchilden, New York 2021; und Beitrag zu Joseph von Sonnenfels, 2024.

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