Norbert Hölzl
Das Heilige Land Tirol war einst das unheiligste der Christenheit.
3. Teil:
Antisemitismus und religiöse Intoleranz

Als 1985 Bischof Stecher die grässliche antisemitische Propaganda verdecken ließ und den verrückten Anderl–Kult abschaffte, setzte es einen Sturm der Entrüstung vonseiten selbsternannter Vorkämpfer des Heiligen Landes Tirol. Von 1981 bis 1997, in den sechzehn Jahren seiner Zeit als Bischof, weigerte sich Reinhold Stecher, sonst der sprachgewaltige Liebling der Medien, im Radio in einer Live-Sendung aufzutreten. „Wenn ich das mache“, war Stecher überzeugt, „wird es keine Religionssendung, sondern eine abstoßende Diskussion über die verrückte antijüdische Ritualmordlegende.“

Als der weniger sprachgewandte Georg Eder 1989 Erzbischof von Salzburg wurde, konnte ich ihn überreden, sich in einer Live-Sendung den Tirolern vorzustellen, denn ein Teil Nordtirols gehört bekanntlich zur Diozöse Salzburg. Ich versprach ihm, den routiniertesten und beliebtesten Moderator auszusuchen, damit sicher nichts schiefging, denn Eders Ö3-Sendung war zu einem Fiasko geraten.

Gleich mit der ersten Wortmeldung wurde die gesamte Stundensendung im Tirol Journal ebenfalls zu einem Fiasko: „Wir freuen uns so, dass Sie der neue Erzbischof sind.“, begann die erste biedere Anruferin. Eder war entzückt. „Freut mich“, sagte er, „dass Sie das sagen. Freut mich sehr.“ Und die Dame „Sie, Herr Erzbischof, hätten uns das Anderle von Rinn sicher nicht weggenommen.“ „Ja“, sagte der Erzbischof, „da haben Sie ganz Recht. Bei solchen Entscheidungen muss man sehr vorsichtig und sehr sensibel sein.“ In der Folge entstand zwar keine sensible Sendung, vielmehr eine peinlich-schräge. Wochen später besuchte Eder seinen Amtsbruder Stecher und musste sich über die Judenhetze aufklären lassen. Seine Exzellenz soll sehr zerknirscht und durchaus einsichtig gewesen sein. Der Moderator Roland Staudinger verließ damals sichtlich erschöpft das Studio und sagte nur noch „Hier war nichts mehr zu retten.“

Vielleicht lässt sich im Heiligen Land Tirol doch noch etwas retten: In der 1899 eingeweihten Andreas-Hofer-Kapelle in Sankt Leonhard in Passeier eröffnet das Deckengemälde den Blick in den heiligen Himmel Tirols. Da schaut nicht nur die brave, heilige Notburga auf den Betrachter herab, sondern auch zwei nette, kleine, lachende Buben tun es: das Anderle von Rinn und sein Leidensgenosse Simon von Trient, ebenfalls Opfer eines angeblichen jüdischen Ritualmords.

Vielleicht könnte man die beiden Knaben, die nie existiert haben, überpinseln und eine wirkliche Heilige von Format darüber malen: Die Tochter einer Magd, geboren in einem der ärmsten der zweisprachigen Dörfer in Welschtirol, in Vigolo Vattaro. Paula Wisenteiner oder Wisenteiner (spricht EI getrennt aus), sie lebte von 1865 bis 1942, wanderte als Elfjährige 1876 nach Brasilien aus. Und sie bescherte dem größten katholischen Land der Welt, nämlich Brasilien, die erste Heiligsprechung seiner Geschichte im Jahre 2002. Sie hatte sich um kleine Buben und Mädchen gekümmert. Sie gründete 1890 einen Orden, der sich der verwahrlosten Straßenkinder in Brasilien annahm. So nett also die kleinen Buben in der Hofer-Kapelle auch sein mögen, eine wirkliche Heilige würde dem Heiligen Land Tirol mehr zur Ehre gereichen. Sechzig Jahre vor Hermann Gmeiner verwirklichte Wiesenteiner nämlich seine Idee bereits mit ihrer „Kongregation der kleinen Schwestern von der unbefleckten Empfängnis“.

Wer trotz der brillanten katholischen Propaganda im 17. und 18. Jahrhundert in Tirol nicht katholisch bleiben oder wieder werden wollte, hatte zu verschwinden. Besonders brutal waren die Vertreibungen aus dem Zillertal und dem Defereggental 1680, 1685, 1732 und zuletzt 1837. Beide Täler gehörten kirchlich zu Salzburg. In diesen scheinbar entlegensten Orten Tirols fanden ketzerische Ideen immer wieder Verbreitung. Schuld waren die Armut und die Wanderhändler. Da das karge Land die Bevölkerung nicht ernähren konnte, zogen viele als Wanderhändler nach Norddeutschland, kamen bis nach Russland und sogar bis nach Nordamerika. Sie kehrten nicht nur mit Geld zurück, sondern auch mit gefährlichem Gedankengut und Luther-Bibeln. Die Vertreibungen im 17. und im 18. Jahrhundert waren an sich legal, sie entsprachen den Reichsgesetzen seit 1555: Alle hatten die Religion des Landesherrn auszuüben. Dass die Kinder der Vertriebenen vielfach zurückbleiben mussten, war zwar sehr grausam, aber gut gemeint. Zumindest sie, Nachfahren der verdammten Ketzer, sollten vor der Hölle bewahrt bleiben.

Die Austreibung der Zillertaler 1837 hingegen, die Matthias Schmid so ergreifend gemalt hat, war nicht nur sitten-, sondern auch rechtswidrig. Denn 1781 hatte, wie bereits erwähnt, Kaiser Joseph II. das Toleranzpatent erlassen, ein Reichsgesetz, das andere Religionen tolerierte und de facto Religionsfreiheit garantierte. Die Vorkämpfer eines heiligen, rein katholischen Landes begingen also einen Rechtsbruch. Die Täter waren insbesondere der eifernde junge Salzburger Erzbischof im unheiligen Bund mit dem Tiroler Landtag. Um die Zillertaler überhaupt vertreiben zu können, mussten Bischof und Landtag sich einer Lüge bedienen: Die Zillertaler seien keine Protestanten, wurde argumentiert, sie seien A-katholische. Sie nannten sie Inklinanten und seien einem Irrglauben verfallen. Deshalb wurden sie vertrieben – 56 Jahre nach der kaiserlich garantierten Religionsfreiheit.

Aufgenommen hat sie das protestantische Schlesien, wo es in Erdmannsdorf die Tiroler Häuser von 1837 immer noch gibt. Heute ist das Land polnisch. Davon sind die Zillertaler kaum betroffen, denn den meisten gefiel es in Schlesien ohne Berge ohnehin nicht, sie übersiedelten daher mit den ersten Deutschen nach Chile. Hundertfünfzig Jahre nach der Ausweisung entschuldigten sich die Bischöfe von Innsbruck und Salzburg, Stecher und Berg, in einem ökumenischen Gottesdienst in Mayrhofen bei den evangelischen Glaubensbrüdern für das einstige Verbrechen. Felix Mitterer schrieb für die Zillertaler dazu ein eindrucksvolles Theaterstück.

Nicht unerwähnt bleiben darf auch die brillanteste Ohrfeige in der Tiroler Geschichte. Ein Gastwirt am Ausgang des Zillertals in Jenbach nannte seinen Gasthof „Zur Toleranz“ – ein noch deutlicherer Hinweis auf das Unrecht wäre nicht möglich gewesen. Das Hotel „Zur Toleranz“ war 30 Jahre geschlossen. Heute ist es wieder tolerant als Flüchtlingsunterkunft. Bei den Feiern 1987, bei denen ich für den ORF eine Fernsehdokumentation produzierte, fielen mir deutschsprachige Besucher aus Südamerika auf, die ich nicht recht einordnen konnte. Zehn Jahre später bereitete ich einen Film über Österreich und Chile vor und besuchte auch die Nachkommen der Zillertaler in Südchile am Llanquihue-See unter dem herrlichen, vergletscherten Vulkan „Osorno“. Dort gibt es im Hochsommer, das heißt im Februar, Mozart-Festspiele nach Salzburger Vorbild, aber auch Hotels mit Namen wie „Salzburg“ oder „Tirolerhäuschen“. Den 100. Jahrestag der illegalen Vertreibung feierte man 1937 nicht traurig, sondern fröhlich als großes Tirolerfest. Viele der Chilenen kennen mittlerweile das Zillertal – vor allem Finkenberg, aus dem die meisten Inklinanten vertrieben wurden. Sie sind glücklich in Chile zu leben. Viele von ihnen sind begüterte Großgrundbesitzer und finden Finkenberg nur steil, steil, steil!

Seinen absoluten Tiefpunkt erreichte der Landtag des Heiligen Landes sodann am 9. März 1876. Im Jahre 1875 hatte die Regierung in Wien die Gründung protestantischer Gemeinden erlaubt. Die Konservativen im Tiroler Landtag bildeten sich ein, die alten Sonderrechte Tirols stünden über den Reichsgesetzen und über der Regierung in Wien. Da hatte man den Adel aus Norddeutschland und den Niederlanden ins milde Klima Merans gelockt. Als dann aber am 28. Januar 1876 in Meran eine protestantische Gemeinde gegründet wurde und kurz darauf auch in Innsbruck, war im Landtag der Teufel los. Ein unbekannter Karikaturist hat den Tumult 1876 gezeichnet. Einer der Bischöfe benutzt seinen Bischofsstab als Waffe. Das passte durchaus zur kuriosen Situation. Da gab es den Landesfürsten – damals war es der Kaiser. Vom Rang her war er aber, wie schon erwähnt, nur Graf von Tirol, nicht der Fürst des Landes. Dafür thronten gleich drei wirkliche Fürsten im Landtag, ohne je gewählt worden zu sein: die Fürstbischöfe von Salzburg, von Brixen und Trient. Eigentlich wären drei Bischofsstäbe als Waffe zur Verfügung gestanden.

Nach dem Tumult in Innsbruck wurde sogar der milde Kaiser Franz Joseph fuchsteufelswild. In Tirol ließ er den Landtag wegen ungebührlichen Verhaltens ein Jahr lang sperren. Es gab keine Landtagssitzung mehr. Das zeigt zweierlei: Franz Joseph hatte seit seiner Krönung nicht den geringsten Respekt vor demokratischen Einrichtungen. Ihm lag der Absolutismus im Stil des 18. Jahrhunderts viel näher. Und dann wird immer wieder gesagt: dieser Franz Joseph mit seiner Pünktlichkeit und seiner Fantasielosigkeit hätte einen perfekten Bahnhofsvorstand abgegeben. In Innsbruck zeigte er jedoch: Er hätte auch das Zeug gehabt für einen tüchtigen und strengen Schulinspektor.

Noch einmal machten die Meraner sich wichtig: Der Dom der protestantischen Kirche dürfe keinesfalls höher sein als der Dom der ehrwürdigen katholischen Pfarrkirche. Wenn man sich das Gelände in Meran vergegenwärtigt, wird rasch klar: Es bestand nie die geringste Gefahr, dass der protestantische Turm den katholischen überragen könnte. Das war nun endgültig ein Streit um des Kaisers Bart – und dies alles ein Jahrhundert, nachdem der in Tirol bis in die Gegenwart schlecht beleumundete Joseph II. den Religionen gesetzlich Toleranz zugesichert und mit seiner fortschrittlichen Haltung den österreichischen Ländern die Gräuel der französischen Revolution erspart hatte. Deshalb sagt man ja auch, der französische Adel landete auf den Lanzen der französischen Revolutionäre, der deutsche und der österreichische Adel dagegen nur in den Werken von Goethe, Schiller und Mozart. Bei Mozart etwa ist der Adel immer leicht dümmlich, die Chöre aber singen herrlich von Freiheit und Toleranz.

Und wie stand es nun um die Heiligkeit Tirols im 20. Jahrhundert? Es war im fernen Jahre 1980: In der ersten Klasse der Volksschule in Mutters gab es nur einen einzigen protestantischen Schüler. Er sollte in der Religionsstunde kein Störenfried sein. Er sollte ein bisschen zeichnen und möglichst weghören. Der Pfarrer fragte nach den sechs wichtigsten B, wie Beten, Bereuen, Beichten. Die Schüler schafften die sechs B damals nicht. Da wurde es dem Protestanten, der offensichtlich zu wenig weggehört hatte, zu bunt und er sagte alle sechs B richtig auf. „Schämt euch!“, rief der Pfarrer in die Klasse, „sogar der Ketzer weiß es besser als ihr“.

Daheim beim Mittagessen fragte der Ketzer dann seine Ketzermutter, was ein Ketzer sei. „Ach, das ist nur ein anderes Wort für evangelisch“, sagte die Mutter. Dann kam das Jahr 1995. Der kleine Ketzer war inzwischen groß. Er war Student und vollausgebildeter Skilehrer. Er sollte die Grabrede halten für den verstorbenen Skischulleiter des Dorfes. „Kommt gar nicht in Frage!“, rief der Pfarrer. Es war der gleiche wie 1980, und der wusste alles über die Ketzer. Auf geweihter katholischer Erde kann doch nicht ein Ketzer die Grabrede halten. Und Sargträger wollte er auch noch sein! Niemals. Der Pfarrer vom Nachbardorf Natters versuchte in Mutters zu vermitteln. Als dann die trauernde Skilehrerfamilie drohte, für das Grab den heimatlichen Boden zu verlassen und nach Innsbruck zu ziehen, gab sich der Pfarrer dem Ketzer geschlagen.

Noch heiliger als das Heilige Land Tirol ist nur der Vatikan. Ihm ist es bis heute gelungen, den größten Kirchenmusiker der Christenheit nie erklingen zu lassen. Denn Bach war ja Protestant und damit ein Ketzer. Und womöglich würde sein überschwänglicher Weihnachtsjubel – jauchzet, frohlocket! – mit Pauken und Trompeten den Christbaum am Petersplatz zum Erbeben bringen. Der Christbaum in Rom ist übrigens eine Erfindung der Tirol Werbung. Tirol lieferte den allerersten. Altertümliche Chorknaben sind da sicherlich harmloser als der große Johann Sebastian mit seinen wilden Chören, die alle durcheinander singen. Papst Franziskus hätte gerne einmal Bach im Vatikan gehört, doch der heilige Klüngel drohte sofort – „auf keinen Fall im Rahmen einer heiligen Messe!“.

Vielleicht dient auch hier das Heilige Land dem Vatikan als Vorbild. In der Schuschnigg-Ära wollte der Innsbrucker Komponist und Dirigent Josef Eduard Ploner ein Instrumentalwerk von Bach aufführen. Er hatte zu wenig Holzbläser. Er bat daher die Militärmusikkapelle, ihm doch zwei Musiker zu leihen. Die Musiker hätten gerne mitgeblasen, aber es wurde ihnen verboten, denn Bach war Protestant, also ein Ketzer. (Mehr darüber steht in meinem Buch „1000 Jahre Tirol“ ab Seite 243).

PS: Noch heiliger als Tirol und der Vatikan war übrigens am 8. 12.2020 das „Gebetsfrühstück“ mit Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka im Parlament in Wien. Die vernichtendste Kritik kam dabei vom katholischen ÖVP-Mann und Ex-Flüchtlingskoordinator Christian Konrad: „Pharisäertum, unglaublich“, TT 11.12.2020.-

Norbert Hölzl

Norbert Hölzl, Prof. Dr., ehemaliger Referatsleiter im ORF, Radio- und TV-Autor, TV-Regisseur und Buchautor.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Markus Lobis

    Sehr wichtige Ausführungen! Ich erlaube mir auf ein interessantes Dokument hinzuweisen, das bei einer Publikumsveranstaltung in Meran entstanden ist, bei der es um die Geschichte der Juden in Meran gegangen ist.

    Hanno Loewy hat dabei über die Geschichte der Juden in Hohenems und deren Beitrag beim Aufbau der jüdischen Gemeinschaft von Meran gesprochen. Poldi Steurer hat dann einen kurzen Abriss über die Geschichte des historischen Anti-Judaismus in Tirol und vor allem in Meran skizziert.

    Die Videoaufzeichnung findet sich hier: https://judeninmeran.wordpress.com/2017/01/29/hervorgehobener-inhalt-2/

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