Manfred A. Schmid
Vom Volkstheater zum Kritikertheater
Ein Wiener Erfolgsmärchen
Notizen

In der vergangenen Saison – die erste unter der Intendanz von Kay Voges – verzeichnete das Volkstheater Wien eine Auslastung von 47 Prozent, und die Zahl der Abonnements verringerte sich von 2.500 auf 250.

Voges macht für diese „katastrophale“ Bilanz“ drei Gründe verantwortlich:
1. Die Pandemie, die viele Menschen vom Besuch eines Theaters abgehalten hat.
2. Den Umstand – wohl ein Seitenhieb auf seine glücklose Vorgängerin Anna Badora -, dass die Existenz des Volkstheaters inzwischen überhaupt aus dem Bewusstsein der Wiener verschwunden sei.
3. Das negative Image des Hauses. Daran werde man arbeiten müssen.

Vom Spielplan her aber habe man so gut wie alles richtig gemacht: Voges „Wir sind ganz schön stolz darauf, was wir hier für ein Feuerwerk gezündet haben.“

Der Erfolg in der Presse gibt ihm Recht: In einer Kritikerumfrage des Fachmagazins Theater heute landete das Volkstheater bei der Kür des BESTEN THEATERS IM DEUTSCHSPRACHIGEN RAUM auf dem zweiten Platz (nach Bochum) und konnte von den befragten sieben Jurorinnen und Juroren zudem noch gleich sechs weitere Auszeichnungen einheimsen.

Claudia Bauers Ernst-Jandl-Stück „humanistää!“ ist die INSZENIERUNG DES JAHRES. Platz zwei geht ebenfalls an das Volkstheater für das Stück „All Right. Good Night“ von Helgard Haug & Rimini Protokoll (Koproduktion). Beide Produktionen des Volkstheaters wurden zum Berliner Theatertreffen eingeladen.

SCHAUSPIELER DES JAHRES ist Samouil Stoyanov für seine Leistungen in den Stücken „humanistää!“ und „Karoline und Kasimir – noli me tangere“.

STÜCK DES JAHRES darf sich das am Volkstheater uraufgeführte Drama „All right. Good night“ von Helgard Haug, Text (Koproduktion), nennen.

BÜHNENBILD DES JAHRES und KOSTÜME DES JAHRES gehen ebenfalls an das bereits erwähnte Jandl-Stück „humanistää!“ bzw. an die Ausstatter Patricia Talacko und Andreas Auerbach.

„Mehr geht wirklich nicht,“ jubelte das Volkstheater in einer Aussendung. Und das zu Recht. Nur die Bezeichnung „Volkstheater“ will hier nicht mehr so recht passen.

Die Bühne sollte sich wohl umbenennen: Vielleicht in „Kritikertheater“. Denn sollte das undankbare Publikum weiterhin die Vorstellungen boykottieren und ignorieren, kann man immer noch die Fachpresse einladen, für sie exklusiv den Vorhang hochgehen lassen und für sie spielen. Die wird dann den Ruhm in die Welt hinausposaunen.

Oder frei nach Bert Brecht: „Das Volk hat das Vertrauen des Volkstheaters verscherzt. Wäre es da nicht doch einfacher, das Theater löste das Volk auf und wählte ein anderes?“

Welches andere? Die sieben Theaterkritiker aus dem Märchen!

.

Wenn Ihnen schoepfblog gefällt, bitten wir Sie, sich wöchentlich den schoepfblog-newsletter zukommen zu lassen, und Freundinnen und Freunde mit dem Hinweis auf einen Artikel Ihres Interesses zu animieren, es ebenso zu tun.


Weitere Möglichkeiten schoepfblog zu unterstützen finden Sie über diesen Link: schoepfblog unterstützen

Manfred A. Schmid

Manfred Schmid hat am Konservatorium in Klagenfurt Violine und Tonsatz und an der Universität Wien Philosophie und Psychologie studiert. An der University of Strathclyde in Glasgow, wo er als Lektor tätig war, hat er ein Postgraduate-Studium der Literaturwissenschaft absolviert. Nach einigen Jahren als Universitätsdozent an der Universidad Nacional dé Mexico kehrte er nach Österreich zurück, wo er zunächst als Cheflektor und Verlagsleiter die Edition S, den Belletristik-Zweig des Verlags der Österreichischen Staatsdruckerei, leitete. Es folgten rund zehn Jahre als Redakteur bei der Wiener Zeitung (Medienressort-Leitung, Theater- und Musikkritik, Kolumnist der „Extra“-Beilage) und eine mehrjährige Tätigkeit als Trainer und Coach (Kommunikation, Berufsorientierung). In der Pension schreibt Schmid regelmäßig Opernkritiken auf www.onlinemerker.com und widmet sich intensiv dem Komponieren – eine Leidenschaft, die ihn seit der Kindheit bis heute begleitet.

Schreibe einen Kommentar