Literarische Korrespondenz
Marcel Looser: Sehr geehrter Herr Walcher!
Betrifft:
Geschichte eines Zitats
Ich habe Ihren Beitrag mit Vergnügen gelesen, ich hoffe Sie verzeihen mir , wenn ich als Altphilologe auf das Seneca-Zitat „errare humanum est, sed in errare perseverare diabolicum/Irren ist menschlich, aber im Irrtum zu verharren, ist teuflisch“ etwas näher eingehe.
Zweierlei ist mir aufgefallen. Der Ausdruck «in errare» ist im Lateinischen nicht möglich, es müsste «in errore» heissen, zweitens schien mir das Wort «diabolicus» (teuflisch) – ein Lehnwort aus dem Griechischen – aus dem christlichem Wortschatz zu stammen. Nun ist der Stoiker Seneca weder Christ noch macht er in seinen sorgfältig redigierten Briefen solche Fehler.
So habe ich ein bisschen nachgeforscht und bin dabei auf manch Amüsantes und auch Spannendes gestossen.
Ihr Zitat findet sich auch sonst im Internet; so schreibt z.B. ein gewisser Dr.W.Bühmann in der Zeitschrift «Der Urologe», Ausgabe 8, 2015:
«Den lateinischen Klassiker unter den Zitaten (errare humanum est) hat der Philosoph Seneca als Vertreter der stoischen Schule immerhin vor rund 2000 Jahren (ca. 62–64 n. Chr.) in seinen Epistulae morales VI,57,12 niedergeschrieben, allerdings mit einem wesentlichen zweiten Halbsatz: „Errare humanum est, sed in errare perseverare diabolicum“, …»
Schaut man nun in Seneca’s «epistulae morales» nach, so gibt es den Abschnitt VI, 57,12 gar nicht. Auch sonst steht das Zitat nirgendwo bei Seneca. Es erscheint in derselben Art jedoch auch im «Wiktionary», allerdings werden als Quellen zusätzlich der Politiker und Philosoph Cicero und der Kirchenvater Hieronymus angeführt. Dieselbe Zitierung findet sich noch bei manch anderem Eintrag im World Wide Web; da hat einer dem anderen abgeschrieben und die Fehler weitergetragen.
Cicero nun kommt der Sache in seiner «Philippica» (12,5,2; Attacke auf Marcus Antonius: Senatsrede Anfang März 43v.Chr.) schon zeimlich nahe:
«Cuiusvis hominis est errare, nullius nisi insipientis in errore perseverare.»
Jedwedem Menschen ist es eigen, sich zu irren, doch nur einem Dummen (Unklugen), im Irrtum zu verharren.
Der Bibelübersetzer Hieronymus (4./5.Jh.n.Chr.) beschreibt in seinen epistolae 57,12 die Grundsätze des Übersetzens: «Igitur quia et errasse humanum est et confiteri errorem prudentis, tu me, obsecro, emenda praeceptor et verbum de verbo exprime.» Daher, weil es menschlich ist, sich geirrt zu haben und auch klug, zu einem Irrtum zu stehen, verbessere mich bitte, mein Lehrer, und übersetze Wort für Wort!
Erst Augustinus (4./5.Jh.n.Chr.) verwendet das Adjektiv «diabolicus» in seinen «sermones» (164.14): «Humanum fuit errare, diabolicum est per animositatem in errore manere.» Zu irren ist (war) menschlich, teuflisch ist es, durch seine Arroganz im Irrtum zu verbleiben.
Aus Cicero, Hieronymus und Augustinus lassen sich nun die Einzelteile entnehmen, um das erstgenannte Zitat zu bilden – wer es gebildet hat bzw. wo es in dieser Art zum ersten Mal vorkommt, konnte ich nicht ergründen.
Wie auch andere kluge Gedanken geht aber auch dieser nicht auf die Römer, sondern auf die Griechen zurück; so meint z.B. bei Sophokles, Antigone 1023ff. der Seher Teiresias zu König Kreon, der Antigone aufgrund der Bestattung ihres Bruders zum Tode verurteilt hatte, Fehler zu begehen sei allen Menschen gemeinsam, doch sei jener Mann nicht unbesonnen, der – einmal ins Unglück gestürzt – nach Heilung suche und nicht unbeweglich bleibe; Eigensinn führe zu Hilflosigkeit.
Auf den Punkt bringt es der Komiker Menander (Men.Mon.121; 4.Jh.v.Chr.):
«Δὶς ἐξαμαρτεῖν ταὐτὸν οὐκ ἀνδρὸς σοφοῦ.» Zweimal denselben Fehler zu machen ist nicht Eigenschaft eines klugen Mannes.
Diabolicus «teuflisch» ebenso wie diabolus «Teufel» sind wie vermutet kirchenlateinische Lehnwörter aus dem Griechischen (διάβολος bzw. διαβολικός),
in der Bedeutung «Verleumder, verleumderisch». Der διάβολος ist dann zum «Widersacher», zum «Feind» und schliesslich zum «Satan» geworden. Das Wort ist heute europäisches Gemeingut; so gehen z.B die Wörter «Teufel, devil, diable, diavolo, diablo usw.» auf das Kirchenlateinische «diabolus» zurück – eine wahrlich teuflische Erbschaft.
ERRARE HUMANUM EST
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Sehr geehrter Herr Looser!
Es ist die größte Freude und auch eine, wie ich meine, Wertschätzung für jeden Autor, wenn dessen schweißtreibend niedergeschriebene Gedanken und Worte (hoffentlich nicht nur Wörter?) ein Echo finden, das noch dazu derart ausführlich Ihrerseits ausgefallen ist. Und wenn dieses Echo obendrein aus der fernen Schweiz bis ins noch fernere Tirol (er)schallt, wäre das schon einen Schluck edlen Weines wert, wenn ich nicht Alkoholiker wäre. Sei’s drum!
Dass Sie, wie Sie schreiben, meinen Aufsatz über die (wie immer schon) beschissene Weltlage mit Vergnügen gelesen haben, empfinde ich als dickes Lob und macht mir Mut, weiterhin meine Gedanken schriftlich in die vernetzte Welt zu schicken, was mir Dank Alois Schöpf jetzt ermöglicht wird. Nun aber zu Ihren Ausführungen zu Senecas (oder wem immer) «Errare humanum est», für die ich mich herzlich bedanke.
Ich rühme mich ganz unbescheiden, dass ich alle zitierten Bücher tatsächlich gelesen habe, außer natürlich ausgerechnet den Lucius Seneca. Und das, obwohl ich den humanistischen Zweig des Akademischen Gymnasiums in Innsbruck (also mit Latein und Altgriechisch) bis zur Matura absolviert habe. Ich gestehe, dass es mir damals nicht um Seneca und all die anderen antiken – jedoch immer noch modernen – Philosophen gegangen ist. Die schlichte Wahrheit lautet, dass nur der humanistische Zweig dieser Schule koedukativ – also mit Mädchen – betrieben wurde. Auch hier gilt: errare humanum est. Sonst könnte ich jetzt fließend vier (lebende) Sprachen, anstatt zweier toter. Ich bereue aber nichts, die Mädchen waren nett und sind bis heute gute Freundinnen. Ich schweife ab. Zurück zum von Ihnen diskutierten Zitat über das menschliche Irren und das noch schlimmere Verharren im Irrtum.
Ich kann und will mich natürlich nicht auf eine wissenschaftliche Debatte mit Ihnen, dem Experten und Wissenschaftler, einlassen, denn Sie haben in allen Punkten Recht und ich kann mich nur für mein ungenaues (oder falsches) Zitieren entschuldigen. Und ich will mich auch nicht auf Wikipedia hinausreden.
Gestatten Sie mir jedoch ein kleines Schlupfloch zu meiner Ehrenrettung zu benützen: In einem früheren Aufsatz habe ich das Bonmot über Prognosen zitiert, wonach diese schwierig seien, besonders wenn sie die Zukunft beträfen. Meine Recherchen führten mich von Wilhelm Busch über Mark Twain bis Elias Canetti und noch gut zehn weiteren großen Geistern als Urheber dieser unbestreitbaren, aber eben brillant formulierten Einsicht. Vielleicht könnte die soeben zurückgetretene, österreichische Ex-Arbeitsministerin dazu Erhellendes beitragen.
Ich grüße Sie herzlich aus Tirol und bedanke mich nochmals für die Aufmerksamkeit, die Sie meinem Aufsatz geschenkt haben.