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Literarische Korrespondenz:
Reinhold Knoll an Norbert Hölzl
Betrifft:
Dürfen Grausamkeit, Willkür,  Erpressung und Nötigung
jemals von uns Verständnis fordern?

Wären andere Zeiten, könnten wir mit großem Vergnügen die Besonderheit Russlands fürs europäische Selbstverständnis debattieren. Es hat unmittelbar vor 1933 einen Schriftsteller gegeben, der sich mit allen Mitteln dafür einsetzte, eine korrekte Einschätzung Hitlers vorzunehmen. Bereits 1932 wurde eine von Konrad Heiden verfasste Geschichte des Nationalsozialismus bei Rowohlt (!) publiziert und dann 1933 im Europa-Verlag Ein Mann gegen Europa.

Konrad Heiden hat wesentliches Material zusammengetragen, um in drei Büchern vor dem Wahnsinn zu warnen. Dass er in zeitgeschichtlichen Quellen nicht vorkommt, besagt viel. Es kommen ja auch die Berichte und Analysen von Eric Voegelin und Hermann Broch über Österreichs Lage 1936 im Hinblick auf den Völkerbund in Genf in den zeithistorischen Untersuchungen nicht vor! Wer Hermann Broch war, muss nicht extra betont werden; Eric Voegelin emigrierte rechtzeitig und war der Pionier einer geistesgeschichtlich orientierten Politikwissenschaft. Sein vielbändiges Werk Order and History wäre eine sehr wichtige Leitlinie für unser politisches Denken.

Warum schreibe ich das?

Ich schreibe es, weil die Darstellung Russlands in der Nutzung der recht liebenswürdigen Skizzen bei Hugo Portisch den Eindruck erweckt, wir würden weiterhin dem Geheul der Nazis gegen den Bolschewismus folgen. Wir würden also Putin in der Genealogie von Dscherschinsky oder Beria sehen, in der direkten Nachfolge nach Stalin über Andropow und hätten seine Rufe nach Koordination und Kooperation bewusst verdrängt.

So sehr ich der Meinung bin, dass Jelzin, der doch den Zusammenbruch des Zar-Stalin-Reichs nur im Wodka zu überwinden vermochte, ohne CNN kaum an die Macht gekommen wäre, dass merkwürdige Kräfte Putin und letztlich nicht Medjejew nach oben spülten, der immer mehr zur Marionette verkam, so kann ich bei bestem Willen nicht auf Veränderungen vergessen, die Russland einen unermesslichen Schaden zugefügt haben.

Lassen wir alle diese nachrichtendienstlichen Spielereien aus dem Spiel, wobei Marsalek zu übersehen schwer gelingen wird, so fühle ich mich eher von Putin gelackmeiert als ich den Vorwurf, ihn nicht verstanden zu haben, einfach hinnehmen kann.

Herrn Hölzl möchte ich ersuchen, in Lockerung unseres Denkens in Geschichte – frei nach Barbara Tuchmann – das grandiose Werk von Eduard Meyer Vom Principat des Pompeius zur Monarchie des Caesar zu lesen, besonders das Vorwort von etwa 1905. Er würde erkennen können, dass Caesar ein politischer Halunke war, der sehr bewusst als Condottiere der Popularen Partei die Republik zu Grabe tragen wollte. Der arme Cicero degeneriert zur politischen Nebenfigur, Pompeius kann sich seines Untergangs kaum erwehren. Die Folge ist nach den strahlenden Jahren des Augustus, dass Renegaten, notorische Rechtsbrecher das Imperium leiten, eben Nero, Claudius und andere.

Wenn man nun ein Diagramm anfertigt, werden die Relationen der Personen in der Spätantike merkwürdige Parallelen zeigen zu unserer undurchsichtigen Gegenwart. Die Beziehungslinien werden bei Putin jene Eigenschaft erhalten, wie wir diese bei Macbeth lernen. Und Shakespeare war ein hervorragender Analyst des politischen Theaters.

Ich weiß nicht, ob Herr Hölzl jene Toten zählte, die aus der Umgebung Putins stammen. Prigoshin war davon der dümmste. Es werden rund 30 Personen sein, die einem Auftragsmord erlagen – also doch Macbeth.

Um Herrn Hölzl beizupflichten, sehe ich diese tragische Entwicklung um die Krim eher in russischer Optik, mag sein aus sentimentaler Erinnerung an die Maler, die auf der Krim arbeiteten, an die Schriftsteller, die dort schrieben, an die vielen Beziehungen, die einfach abgeschnitten wurden.

So wie Südtirol verloren ging, die Küsten bis Dubrovnik, die Region um Brünn, wie diese zauberhafte Landschaft zwischen Steiermark und Slowenien zerrissen wurde, wie Ödenburg abgetrennt wurde, so hat auch Russland nach Gorbatschow jenen Leidensweg beschreiten müssen, der mit dem 1. Weltkrieg begann. Wenigstens in der Frage Südtirols haben wir eine befriedigende Vereinbarung getroffen. In allen anderen Grenzgebieten nicht.

Putin in der Geschichtsregie von Portisch hätte mit keiner Waffe rasseln müssen, sondern mit dem Weg zur UN zeigen können, dass Vereinbarungen möglich werden. Wäre eine Regelung erfolgt, die das Internationale Recht kennt, würde heute Putin die zentrale Figur geworden sein, das Geld für den Krieg wäre der Modernisierung Russlands zu Gute gekommen und alle Anrainer-Staaten würden Putin beknien, doch eine Union zu errichten, in die Georgien und die Ukraine und andere bis Aserbeidschan und Armenien eingetreten wären.

Er hätte eine Ost-EU aufbauen können, deren Bedeutung gewaltig wäre. Nein, er wählte den Krieg. Und das ist der springende Punkt.

Ich erinnere mich, wie vor 25 Jahren die elektronischen Kontakte hergestellt werden konnten. Das Interesse junger Russen im Bereich der Logotherapie Viktor Frankls war ebenso aktiviert worden wie die Schachverbände den Austausch pflegten, Journalisten Fragen stellten. Ich selbst schrieb die Erinnerungen in einer russischen Zeitung an 1945, an das erhoffte Eintreffen der Roten Armee zur Befreiung in Wien, als mein Vater noch von der Gestapo gesucht wurde.

Und mein musikalisches Denken wäre ohne Glasunow oder Mussorgski, ohne Glinka bis Schostakowitsch nicht vom Fleck gekommen. Wir bemerkten nicht, wie sehr in den Zentren Russlands eine bleierne Stille eintrat, wie Petersburg diese Vitalität verlor, die sich einmal sogar unter Breschnew behauptete.

Glaubt man wirklich, dass alle ihre enorme Kreativität eingebüßt haben? Glaubt man hier, dass es in Russland über 20 Jahre keine Dichter, Lyriker, keine Malerinnen oder Objekt-Künstlerinnen mehr gibt? Glaubt man wirklich, dass der namenlose Kitsch für Putins Palast, der Nawalnij das Leben kostete, die repräsentative Architektur ist? Wohin ist die Tradition von Bruno Taut geraten? Was hat man mit Malewitsch gemacht, der noch 1995 einige Würdigung erfuhr? Wo blieb das Andenken an Jawlensky, der zum Gegenstand der russischen Spurensuche wurde – 1990!

Das alles ist weg. Ja bemerkt denn niemand, wie tot das tote Russland ist? War Portisch ein Reisender, der sich von Russland optisch beeindruckt zeigte, aber gerade noch die Vielfalt der Druckerzeugnisse bewunderte?

Wenn ich hier innehalte, so kenne ich bereits die Einwände. Plötzlich sind die kulturellen Zeugnisse dem Geschmack zugeordnet, gelten nicht als eminent politische Aussage. So wird man auf das Faulbett des Tagesjournalismus geworfen, der nur die Namen Selenskij und Waffen plappert, nur in vorauseilender Feigheit wie vor 1938 den missverstandenen heiligen Putin wie einen heiligen Sebastian anhimmelt und dahinter nicht die Perfidie bemerkt.

Das Unglück ist, dass durch Putin der berechtigte Anspruch Russlands, in dieser Welt zu sein, die Legitimation einbüßte wie das römische Imperium mit Caligula. Was Putin zu pardonieren scheint, ist der katastrophale politische Zustand der USA. Es ist der katastrophale Zustand des Westens, der nun zwischen zwei Sesseln zu sitzen versucht. Vielleicht hatte Putin dieselben Schlüsse gezogen wie jene Senatoren, die der Republik und deren Institutionen keine Resistenz mehr zuerkannten. Also Tyrannis.

Es gibt zwei Opern, oder drei, die heute zu hören wären, um diese schreckliche Zeit zu verstehen: Leos Janacek Aus einem Totenhaus, Györgyi Ligeti La danse macabre, Alfred Schnittke Leben mit einem Idioten. Und zur Pflicht zählt: Die Nashörner von Ionesco endlich ernst zu nehmen.

Wenn das Plädoyer lautet, man müsse Putin verstehen, werden wir wohl jenen nichts vorwerfen dürfen, die uns anmahnen, endlich Hitler zu verstehen….

Dürfen Grausamkeit, Willkür, Erpressung und Nötigung jemals von uns Verständnis fordern? 

Mit besten Grüßen Reinhold Knoll


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Reinhold Knoll

Reinhold Knoll, geb. in Wien 1941. Gymnasium und Studium der Geschichte und Kunstgeschichte in Wien. A.o. Hörer an der Akademie der Bildenden Künste. Promotion 1968 mit dem Thema „Früh. Und Vorgeschichte der christlich-sozialen Partei bis 1907 (gedruckt). 1969 bis 1972 innenpolitischer Redakteur im ORF. 1973 am Institut der Soziologie an der Univ. Wien. Habilitation zur „Österreichischen Geschichte der Soziologie", gedruckt, mit Beiträgen von Helmut Kohlenberger 1988. A.o. Prof. für Soziologie ab 1989; Letzte Publikationen: The Revelation of Art-Religion, New York 2018; Letters to my grandchilden, New York 2021; und Beitrag zu Joseph von Sonnenfels, 2024.

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