Literarische Korrespondenz
Gerda Walton an Marcel Looser
Betrifft:
Sicht eines Schweizers auf Österreich
Sehr geehrter Herr Looser!
Danke, danke für Ihre liebevoll besorgten Zeilen über die Grenze. Sie haben völlig Recht, wir hier in Österreich scheinen uns in Schockstarre zu befinden, was in unserem Land neuerdings alles möglich ist.
Nicht wenige dürften allerdings nur sehr periphär überhaupt mitbekommen, in welches Desaster wir sehenden Auges schlittern und welch peinliches Bild wir international abgeben, da sie irgendwelche unsäglich dumme Soaps oder Krimis der Peinlichkeit der Parlamentsberichte im Fernsehen vorziehen bzw. lieber Rad- oder Schifahren gehen. Wen interessiert schon diese unsägliche Politik?
Ich sehe es hingegen als staatsbürgerliche Pflicht an, zumindest gelegentlich nicht sofort weiterzuschalten, wenn ich zufällig auf den Kanal mit den Parlamentsberichten stoße, aber lange kann auch ich nicht durchhalten. Und dann frage ich mich regelmäßig, ob es wirklich stimmt, dass jedes Volk die Politiker bekommt, die es verdient?
Ganz im Ernst, wer geht eigentlich noch in die Politik? Das kann und will sich doch kein halbwegs mit Vernunft ausgestatteter Mensch, alleine schon seiner Familie wegen, heute noch antun. Obwohl natürlich die Gage eines Parlamentariers, für die ein Normalbürger rund das Vierfache hart arbeiten muss, schon ein Anreiz zur Charakterverbiegung sein mag.
Die Situation in Österreich erinnert mich derzeit fatal an den Film „Die Welle“, in dem nach meiner Erinnerung ein Lehrer seiner Schulklasse in einem von ihm konzipierten Sozialexperiment vorführt, wie autokratische faschistoide gesellschaftliche Strukturen entstehen. Jetzt könnte man natürlich darüber nachforschen, wohin das „Experiment Untersuchungsausschuss Ibiza“ unser Staatsgefüge inzwischen bereits gebracht hat. Aber bitte ohne neuerlichen Untersuchungsausschuss über den Untersuchungsausschuss!
Es erfüllt mich mit tiefer Sorge, wenn ich z.B. die Demo-Teilnehmer in Wien mit ihren Tafeln „Kurz muss weg“ sehe. Ich würde gerne jeden einzelnen davon befragen, ob er mir plausibel erklären kann, warum eigentlich. Mit Sicherheit ist es keinem einzigen von selbst eingefallen. Die ersten Tafeln sind nämlich bereits aufgetaucht, noch bevor endlich, endlich unter einem riesigen Aufwand und in einer unsäglichen Wortklauberei dann letztlich doch etwas gefunden wurde, womit sich die Bredouille, in der, gemeinsam mit der gesamten übrigen Welt, auch Österreich angesichts der Pandemie steckt, mit viel Glück vielleicht doch noch ein bisschen vertiefen ließe.
Und wenn nicht, auch die Verleumdung ist bekanntlich ein Lüftchen!
Aber ein bisschen Randale machen ist lustig und bringt Farbe und Unterhaltung in den grauen Corona- Alltag! Wie schnell daraus eine alles verschlingende Welle entstehen kann, wen interessiert das schon, Hauptsache ein bisschen Frust wird abgelassen? No risk, no fun!
Da ganz ohne Wind eine Welle aber bekanntlich keinen Anfang nehmen kann, hat sich die sonst ewig zerstrittene Opposition, dalli, dalli bevor unser Bundeskanzler als Sieger über Corona womöglich endgültig zum Helden der Nation wird, jetzt rasch und in einer verzweifelten Kraftanstrengung gemeinsam vom Mailüfterl zur Windmaschine zusammengepackelt. Irgendetwas muss man als Opposition schließlich unternehmen, nachdem man mit selbstgestrickten Besserwisser- Ratschlägen, wie einfach Corona und erst recht die Wirtschaftskrise in den Griff zu bekommen wäre, wenn man nur täte, was jeder einzelne Oppositionelle im kleinen Finger hätte, nicht mehr punkten kann.
Hoffen wir, dass viele die Vernunft aufbringen, sich von der Welle nicht mitreißen zu lassen. Die neuerdings stark steigenden Umfragewerte für jene Politiker, die sich aus dem Parteiengezänk herauszuhalten verstehen, sprechen eine Sprache, die eigentlich leicht verständlich ist und zur Hoffnung Anlass gibt.