Klaus Schredelseker
Ich kann es nicht mehr hören!
Über die Unschuldsvermutung

Es gilt die Unschuldsvermutung, ein Einstreusatz von Journalisten, wenn sie über Personen berichten, gegen die wegen allfälliger Malversationen ermittelt wird. 

Warum der Schreiber das tut, weiß ich nicht: Will er sich absichern gegenüber seinen Vorgesetzten oder seinen Lesern, fürchtet er Ungemach von Seiten des Betroffenen, will er seine grundsätzliche Gegnerschaft zu den ermittelnden Staatsanwaltschaften offenbaren, will er seine juristische Kompetenz zur Schau stellen, oder ist das einfach nur ein Placebowort, wie es häufig von der political correctness eingefordert wird? 

Worum es geht, ist klar: In einem Rechtsstaat ist schuldig nur, wenn gegen ihn ein rechtskräftiges Schuldurteil ergangen ist. Dies ist eine gesellschaftliche Konvention, hinter der ich vollinhaltlich stehe und auch bitte stehenbleiben möchte. 

Dennoch ist mir bewusst, dass es leider die berühmten Fehler erster Art (ein Schuldiger wird freigesprochen) und Fehler zweiter Art (über einen Unschuldigen ergeht ein Schuldurteil) gibt. Ein gut funktionierendes Justizwesen wird stets bestrebt sein, diese nie vollständig vermeidbaren Fehler gering zu halten: je mehr ihm das gelingt, umso mehr Vertrauen wird es genießen.

Mein Grundvertrauen in den Rechtsstaat ist trotz mancher Irritationen noch immer sehr hoch und das gilt auch für die beteiligten Akteure: Richter, Rechtsanwälte und Staatsanwälte: Honourable (wo)men. 

Ich gehe davon aus, dass die Staatsanwaltschaft gegen eine Person dann und nur dann ermittelt, wenn sie einen gut begründeten Verdacht auf deren Schuld hat, d.h. wenn eine klare Schuldvermutung besteht. Eine Unschuldsvermutung kann und darf kein Grund für eine polizeiliche Ermittlung sein! 

Natürlich kann die Schuldvermutung, wie eine Unschuldsvermutung auch, im weiteren Verlauf unbestätigt bleiben oder sogar widerlegt werden; sonst wären sie keine Vermutung. Die Unschuldsvermutung ständig zu betonen, zeugt somit nicht von rechtsstaatlichem Bewusstsein, sondern von Wertungsunsicherheit. Ich werde jedenfalls weiter vermuten, dass die Staatsanwaltschaft einen Grund hat, das zu tun, was sie tut.

Besonders absurd wird die Unschuldsvermutung, wenn sie auf die Opfer ausgedehnt wird. In der TT vom 18.7.2023 wird über die Vorwürfe wegen sexuellen Missbrauchs gegen Till Lindemann, den Lead-Sänger der deutschen Rockgruppe Rammstein, berichtet und gesagt, es gilt die Unschuldsvermutung. Für den Sänger genauso wie für jene Frauen, die ihre Eindrücke und Erfahrungen zum Teil anonym öffentlich machten. 

Was ist das jetzt? 

Wenn die Unschuldsvermutung auch gegenüber den Opfern gilt, muss zumindest implizit gegen die Frauen, die Anzeige erstattet haben, ein Schuldvorwurf im Raum stehen. Natürlich lässt sich da einiges denken: die Vorwürfe hätten sie nur deshalb erhoben, um mediale Aufmerksamkeit zu erlangen, um vom reichen Sänger Schweigegelder erpressen zu können, oder um sich dafür zu rächen, dass der Spaß nicht der war, den sie sich erwartet hatten. 

All das ist reine Phantasie, nichts davon steht an, gegen nichts davon wird ermittelt. Ermittelt wird gegen Till Lindemann und nicht gegen seine Opfer oder Gespielinnen. Somit gibt eine Unschuldsvermutung gegen diese keinen Sinn. 

Eine Unsinnsvermutung gegenüber dem Journalisten allerdings schon.

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Klaus Schredelseker

Prof. Klaus Schredelseker: 1962 – 1968, Studium der Betriebswirtschaftslehre und der Rechtswissenschaften in Paris, Mannheim, Berlin und Mailand; 1968 – 1976 Assistent bei Prof. Dr. Klaus v. Wysocki in München; 1976 – 1986 Professor an der Bergischen Universität - GH Wuppertal; seit 1986 Professor an der Universität Innsbruck; 1973 – 1999 Gastprofessuren in Poznan, Strasbourg, Bergamo, Trento, Siena. Begründer und Leiter des Studiengangs Internationale Wirtschaftswissenschaften und Gründungsratsmitglied an der Freien Universität Bozen.

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