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Johannes Sprenger
Antisemitismus in Österreich?
Zu Berichterstattung und Kommentar
in der Tiroler Tageszeitung
Analyse

In der Tiroler Tageszeitung vom 14.3. 2024 ist auf der Titelseite ein Foto zusammen mit folgender Schlagzeile: Bedrohtes jüdisches Leben und der Unterschrift: In Österreich nimmt zuletzt von muslimischer Seite der Antisemitismus stark zu abgedruckt. 

Es ist ein (offensichtlich) orthodoxer Jude zu sehen, der vor einer BIPA-Filiale steht und auf sein Handy blickt, sowie zwei (offensichtlich) muslimische Frauen, die sich anschicken, die Straße zu überqueren. 

Abgesehen davon, dass auf diesem Bild irgendeine Bedrohung in keiner Weise zu erkennen ist, bringt es eine eigentümliche, aber nicht ungewöhnliche, reduzierte Sicht auf diese beiden Bevölkerungsgruppen zum Ausdruck: Offenbar zählen nur sich nach außen als religiös zu erkennen Gebende dazu; was ist mit den zahllosen säkularen Juden und Muslimen, nicht nur bei uns, sondern weltweit? Zählen die nicht? Warum identifizieren wir ganz selbstverständlich die Religiösen, deren radikale Vertreter beider Lager gerade das Gemetzel im Nahen Osten zu verantworten haben, mit der ganzen Bevölkerung, als würde diese ausschließlich aus Orthodoxen und Islamisten bestehen?

In den darunterstehenden Spalten ist von einer Zunahme antisemitischer Vorfälle pro Tag von 1,55 vor dem 7.10. 23 auf 8,31 nach dem [zweifellos] grausamen Überfall der HAMAS und der [zweifellos] brutalen militärischen Antwort Israels danach die Rede, und dass der Präsident der IKG, Oskar Deutsch, dies als eine Horrorzahl bezeichnet. Dann wird auf die Seiten 2 und 11 verwiesen, und während ich mir noch denke 31.000 tote Palästinenser seit dem 7.10. 2023 sind auch eine „Horrorzahl“, blättere ich weiter.

Auf Seite 2 schreibt Michael Sprenger (mit dem ich weder verwandt noch verschwägert bin) über die Wiederkehr des Unerträglichen, und auch er beschränkt sich auf die Religiösen und nimmt diesen Teil für das Ganze, nicht ohne Bruno Kreisky in eine Reihe mit antisemitischen Stereotypen zu stellen: Zweifellos hat sich Kreisky mit Friedrich Peter und Simon Wiesenthal nicht mit Ruhm bekleckert, aber ich möchte es einmal ganz deutlich sagen: Die Österreicher haben, nach Ständestaat, Nazizeit, Krieg, Niederlage, Besatzung und Wiederaufbau den säkularen Juden Bruno Kreisky dreimal mit absoluter Mehrheit zu Ihrem Regierungschef gewählt. 

Das sagt natürlich nicht nur über die Österreicher, sondern auch, und wohl mehr, über das Geschick und die Integrität dieses Mannes aus – bei allen Fehlern, die er gehabt haben mochte. Dennoch ist es festzuhalten. (Ebenso wie, übrigens, die Tatsache, dass der säkulare Jude Wolodymyr Selenskyj von 73% der Ukrainer zu ihrem Präsidenten gewählt wurde – und dies nicht etwa nur zur Widerlegung der russischen Propagandalüge von der Nazi-Herrschaft in der Ukraine).

Doch will M. Sprenger wohl eher, dass Österreich mehr stolz darauf sei, vielen Religiösen wieder Heimat geworden zu sein; von den Säkularen ist wieder keine Rede – ja, natürlich, die fallen nicht so auf, mit denen kann man sich nicht schmücken. Zweifellos sollten wir hellhörig werden, wenn, wie er im Weiteren schreibt, Oskar Deutsch von einer Explosion antisemitischer Vorfälle berichtet, und dass Jüdinnen und Juden aus Angst keine religiösen Symbole mehr tragen, wenn sie hierzulande auf die Straße gehen.

So geht es Musliminnen und Muslimen (Musliminnen mehr, wir sind ja so frauenfreundlich) bei uns schon lange, denke ich mir und lese weiter.

Dabei sei es egal, von welchem ideologischen Hintergrund die Judenfeindlichkeit gerade gespeist wird. Zuletzt waren es Corona-Leugner, die über die jüdische Weltverschwörung dahinschwurbelten…Stop!! denke ich mir – Stop! Da geht es doch um Bill Gates (dem man das Judentum nur angedichtet hat), oder George Soros, Rothschild, oder Goldman Sachs usw. – also die Säkularen!

Hier wird wieder einmal, wie so oft, alles durcheinandergewürfelt, als wäre die religiöse Judenfeindschaft des alten Europa, der rassistische Antisemitismus der Aufklärung, der ideologische Antisemitismus des 19. Jhdts., der nihilistische Antisemitismus der Nazis und die Judenfeindschaft der Moslems alles ein und dasselbe, und als bedürfte es nur eines orthodoxen Juden auf der Straße, um die eine oder andere Form ganz allgemein als Judenhass manifestiert zu sehen. 

Damit macht man es sich zu einfach – einerseits benutzt M. Sprenger hier eine konkrete Form des Antisemitismus, nämlich jenen, der sich aus dem 19. Jhdt. bis in die heutige Zeit gehalten hat und sich gegen Geldjuden, Ostküstenjuden etc. richtet, also gegen jene, die angeblich die Weltherrschaft anstreben oder sie bereits ausüben, um ihn  kurzerhand zu verallgemeinern, obwohl er sich gar nicht gegen den religiösen Juden auf der Straße richtet (und damit die Säkularen, die er zuvor so geflissentlich ignoriert hat, in den Fokus rückt), andererseits ignoriert er aber vollständig das Politische, das im israelisch-palästinensischen Verhältnis aber das Entscheidende ist – als hätten die Palästinenser nicht besseres zu tun als all die blödsinnigen Zuschreibungen der Europäer zu übernehmen, wo es doch so einfach wäre, alle menschlichen Ansprüche aufzugeben und als Menschen dritter Klasse friedlich neben den Israelis zu leben, oder, noch besser, gleich zu verschwinden.

Dann fährt M. Sprenger fort, dass wir mit dem Nahostkrieg einen muslimischen Judenhass erleben würden. Über dessen Hintergrund kein Wort – aber dann erlaubt sich M. Sprenger einen Klammersatz (warum erlaubt er sich einen solchen? Braucht man dazu eine Erlaubnis? Und, von wem?) 

Der Satz lautet: Kritik an der aktuellen rechtsnationalen israelischen Regierung ist per se nicht antisemitisch, sollte auch nicht so bezeichnet werden, wenn die Kritik eben dezidiert nicht antisemitisch ist

Abgesehen von der logischen Unklarheit dieser Aussage freue ich mich darüber – nicht ohne mich zu fragen: Warum erlaubt er sich nur diesen Klammersatz, aber nicht eine Kritik an der israelischen Regierung? Gibt es denn an dieser nichts zu kritisieren – wo dies ja nicht per se antisemitisch ist? Hier wäre doch der geeignete Ort dafür! Eine Regierung (und nicht nur eine, über die Jahre und Jahrzehnte), die Millionen Menschen ihrer Rechte beraubt und sie unter unwürdigen Umständen gefangen hält, ihnen Zugang zu wichtigen Ressourcen verwehrt und sie, durch Verweigerung jeder politischen Repräsentanz über 20 Jahre hinweg (ich spreche von Gaza, das Westjordanland ist ein anderes Thema) der Gewaltherrschaft durch Verbrecher ausliefert, und schließlich durch die Verbrechen eben jener und die daraus resultierenden Reaktionen seitens der genannten Regierung(en) den Hass gerade erzeugt und nährt, hat eine solche Regierung, egal ob sie von Juden gebildet wird oder nicht, nicht jede erdenkliche Kritik verdient, solange sie nicht dezidiert antisemitisch ist?

M. Sprenger schreibt über eines der brennendsten Themen unserer Gegenwart und verzichtet auf die gesamthafte Betrachtung des Phänomens, die ihm nur einen Klammersatz wert ist, während er den Standpunkt der Religiösen einnimmt. Warum nur? Ist jetzt das Wohlergehen der Orthodoxen unser Maßstab? Hat man sich vielleicht einmal angesehen, wie es säkularen Jüdinnen in Jerusalem ergeht, die sich in ein orthodoxes Viertel verirrt haben?

Aber M. Sprenger kehrt lieber zum Alltagsleben in Österreich zurück – und dem der Religiösen – und beantwortet die Frage danach, was jetzt passieren sollte, um einen respektvollen Umgang miteinander zu finden, mit der Forderung nach Bildung, Bildung, Bildung und der Ablehnung von Sonntagsreden

Da kann ich ihm nur zustimmen – Bildung ist tatsächlich etwas Unverzichtbares, gerade wenn es um den Umgang mit Medien geht, um die Entwicklung von Urteilsfähigkeit, um den Unterschied zwischen religiöser Judenfeindschaft und rassischem oder ideologischem Antisemitismus verstehen zu können, oder eine Antwort auf die Frage zu erhalten, welche Pflichten rechtlose Menschen haben. Und Sonntagsreden, in denen die Zweistaatenlösung beschworen wird, aber die Zustände in den besetzten Gebieten und Gaza nicht beeinsprucht werden, haben wir auch genug gehört.

All das wird auf Seite 11 präzisiert, manches wiederholt, und auf Seite 13 von der Luftbrücke berichtet, die die Hungerkrise in Gaza lindern soll.

Warum haben wir es so weit überhaupt kommen lassen? Warum haben wir uns nicht schon viel früher mit der prekären Lage der Menschen in Gaza beschäftigt? Hätten wir nicht die letzten zwanzig Jahre einfach zugesehen, hätten wir weder diese widerlichen Morde, noch die 31.000 Toten, noch die Hungerkrise.

Auf Seite 11 wird Oskar Deutsch dahingehend zitiert, dass es im Kampf gegen den Antisemitismus, der auf der ganzen Welt zunehme, keinen Knopf gibt, auf den man drücken kann“ 

Das finde ich nicht. Man könnte ja einmal ehrlich über eine gerechte Lösung des Konfliktes nachdenken und einmal damit beginnen, die Palästinenser nicht als Menschen dritter Klasse zu behandeln. Am besten mit Hilfe von außen, denn nach all den Jahrzehnten der Heuchelei können wir nicht erwarten, dass die Konfliktparteien, derer wir uns die ganze Zeit bedient haben, noch vernünftig miteinander reden können: Wir haben uns Israels bedient, um unseren Antisemitismus als vergangen und überwunden darzustellen, so wie z.B. die Unterstützung Israels in Deutschland als Staatsräson bezeichnet wird. Deshalb haben wir nur sehr selten Einspruch erhoben gegen bestimmte, nicht zuletzt völkerrechtswidrige Formen der israelischen Politik – wir sind ja keine Antisemiten mehr. 

Daher auch die wiederkehrende Frage, ob Kritik an der israelischen Politik antisemitisch sei – es gibt nicht wenige unter uns, die diese eindeutig mit ja beantworten würden. 

Und wir haben uns der Palästinenser, und in der Folge der Muslime insgesamt bedient, indem wir ihnen unseren Antisemitismus angehängt haben, sie sind also unser Sündenbock. Während wir unsere Rechnungen von den Palästinensern bezahlen lassen, lassen wir uns von der israelischen Rechten dahingehend moralisch erpressen, dass wir nichts gegen ihren fortgesetzten Rechtsbruch unternehmen, um nicht wieder als Antisemiten dazustehen.

Wir haben uns unserer Verantwortung nicht ausreichend gestellt, wenn wir einen Zweig der israelischen Politik für das ganze Judentum nehmen und ausschließlich dessen Politik unterstützen. Das ist es, was ich sagen will – dass wir moralisch erpresst werden. Und wir nehmen das alles hin, mit all der Arroganz und indolenten Heuchelei, deren der europäische Geist fähig ist.

Und da sind wir beim eigentlichen Thema: Mit welcher nonchalanten Selbstzufriedenheit wir es gutheißen, dass Andere unsere Rechnungen bezahlen. Mit welchen haarsträubenden Winkelzügen wir unser Gewissen vor einer, nach 1700 Jahren wohl immer noch irgendwie latent vorhandenen jüdisch-christlichen, göttlichen Gerichtsbarkeit reinzuwaschen versuchen, indem wir Taten rechtfertigen, begangen von jenen, die unsere Opfer waren, um deren Opfer zu unserem Sündenbock zu erklären. 

Die apokalyptischen Vorstellungen, die mir dabei kommen, möchte ich lieber nicht formulieren. Ich bin jedenfalls nicht bereit, irgendeine Form von Rassismus zu rechtfertigen, egal, wo und von wem er praktiziert wird.

Es wird Zeit, dass wir unseren Beitrag leisten zur Lösung dessen, was wir über Jahrzehnte verbockt haben.

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Johannes Sprenger

Johannes Sprenger, geb. 1958 in Innsbruck, ist Saxophonist, Komponist und Musikpädagoge, studierte Saxophon und Musiktheorie in München, Innsbruck, Graz und Wien. Zahlreiche Aufenthalte in Ländern des Spätstalinismus der 1980-er-Jahre und daraus resultierende persönliche und berufliche Beziehungen. Kompositionen für Kammerorchester, Kammerensembles, Bühnen- und Filmmusik, Lyrik und Kurzprosa. Von 1993 - 2011 als eine Hälfte von „AkkoSax“ zusammen mit Siggi Haider Theater-, Film-, Hörspiel- und CD-Produktionen, Österreichischer Weltmusikpreis 2008. Seit 2013 zusammen mit Klemens „Klex“ Wolf „FransenMusik“ - freie Improvisation, Elektronik, Musik und Literatur. Zusammenarbeit mit dem Tiroler Kammerorchester InnStrumenti, dem Orchester der Akademie St. Blasius und dem Tiroler Ensemble für Neue Musik (TENM). Letzte Veröffentlichungen „Aspekte des Nahostkonfliktes“ Edition BAES 2023, „Bad Relations“, LP der Rockband „Fennymore“ hs productions 1980/2021, mit Johannes Sprenger als Sänger, Texter, Saxophonist und Produzent.

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