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Helmuth Schönauer
Vergreiste ÖVP-Oligarchie
Stichpunkt

Nach dem TV-Duell zweier verkalkter Präsidentschaftskandidaten in den USA stellt man sich in Tirol die Frage, ob nicht die ganze Tiroler ÖVP ähnlich verkalkt ist. Am Beispiel Fernpass etwa lässt sich zeigen, wie die Volkspartei aus der Zeit gefallen ist.

1.
Der Lenker wurde freigesprochen, weil er zum Zeitpunkt des Unfalls alkoholisiert und in seiner Wahrnehmung eingeschränkt war. Der getötete Fußgänger konnte nicht mehr befragt werden, ihm wurde eine Teilschuld zugesprochen!

So ungefähr wurden in den 1950er-Jahren Verkehrsunfälle auf dem Land ausjudiziert. Den Kindern wurden solche Urteile als Verkehrserziehung erzählt, damit sie nicht auf die Straße, sondern in den Graben sprängen, wenn sich ihnen ein Auto näherte.

Solche Geschichten wirken heute wie ein Schauermärchen, in dem der Auto-Kult als Diktatur dargestellt wird, Rechtsbruch inbegriffen.

2.
Der legendäre Verkehrsphilosoph Hermann Knoflacher hat diese Judikatur seinerseits relativ simpel erklärt. Man muss bei höchstgerichtlichen Entscheidungen stets einen Blick auf die Richter werfen, die immer aus einer anderen Zeit stammen als der verhandelte Fall. Selbst bei größter Unabhängigkeit können sie nie ein gewisses Bauchgefühl verdrängen, das sie während ihrer Ausbildung erworben haben und jetzt als Senioren aussitzen.

Was den Autokult betrifft, so sind auch die Höchstrichtenden nicht vor seinem süßen Verführungsduft gefeit, wenn sie in den 1970ern vor der Ölkrise ihre Führerscheine für freie Fahrt gemacht haben.

Diese Urteils-Verschiebung zwischen Ausbildung und Anwendung wohnt vielen Berufen im öffentlichen Bereich inne.
Salopp formuliert entsteht aus dem Gap zwischen Ausbildung und Anwendung die Bürokratie. Diese muss nämlich die Anforderungen der Gegenwart mit den in der Vergangenheit produzierten Gesetzen in Übereinstimmung bringen.

3.
Die Veränderung der Gegenwart im Angesicht historischer Gesetze macht auch der Politik zu schaffen, insbesondere dann, wenn eine gewisse Gruppierung ständig an der Macht ist. Dabei entsteht etwas, was man in politischen Diskussionen den Tiroler Fluch nennt. Wenn alle Macht über siebzig Jahre in einer Hand ist, sprengt es mit der Zeit jene Partei, die unter diesem Dach firmiert.

Die beste historische Beschreibung für dieses Ungemach liefert der mexikanische Partido Revolucionario Institucional (PRI), der sich mit institutionalisierte Revolutionspartei übersetzen lässt. Der Partido war von 1929 bis 2000 die dominierende Partei im Land.

Ähnlich ironisch lässt sich ÖVP übersetzen, worin vom Volk ja nur mehr eine folkloristische Anspielung wie in Volksmusik zu spüren ist.

Der Tiroler Fluch besteht darin, dass alles innerhalb einer Partei abgewickelt werden muss, während das Volk außerhalb der Parteizentrale unbekümmert in einer anderen Welt lebt. Ab und zu wird das ÖVP-Headquarter in der Innsbrucker Fallmerayerstraße mit einer Grußbotschaft beschmiert, welche aber sofort wieder übertüncht wird.

4.
Zyniker fragen sich längst, was eigentlich der Unterschied zwischen einer vergreisten Oligarchie und einer Bünde-Partei Marke ÖVP ist. Die ÖVP ist wahrscheinlich gegen ihren Willen vergreist, niemand nimmt an, dass sie das freiwillig vorhatte. Aber aktuelle Entscheidungen werden von Akteuren getroffen, die vor dreißig Jahren auf das Regieren im Monopolstatus eingeschworen worden sind.

Dazu kommt, dass Entscheidungen von heute oft erst in dreißig Jahren zum Tragen kommen.

Beispiel Verkehr über den Fernpass: Die jetzt ins Auge gefassten Tunnelpläne kommen als Fernpasssystem in dreißig Jahren zur Geltung. Die heutigen Entscheider wurden vor dreißig Jahren ausgebildet. Die Kluft zwischen Tunnelwunsch und Realisation beträgt also sechzig Jahre. Das ist historisch gesehen eine Erinnerungsstrecke, wie wenn wir jetzt die 1960er beurteilen wollten.

Ähnliche Fehlentscheidungen geschehen vermutlich gerade auch in den Themenfeldern Kraftwerke, Overtourismus oder Renaturierung.

Mit dem politischen Personal von gestern und der Klientelwirtschaft von Vorgestern (Bauern, Jäger, Frächter usf.) wird es politisch nur einen Weg geben: Wähler und Gewählte werden auf natürlichem Weg aussterben.

Die Themen selbst reagieren nämlich wie Wasser, sie suchen sich immer den tiefsten Weg. Sie werden auch ohne ÖVP ihre Lösung finden. Da wird also dann der Fernpasstunnel bereitstehen, aber die Zufahrten werden vermurt sein, den Speicherkraftwerken wird das Wasser fehlen und den Gletschern das Eis.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Robert Muskat

    Schüssel und Kurz, ausgerechnet die beiden, die Österreich am meisten geschadet haben. Ganz abgesehen von den aktuellen Unsympathlern, denen man beibringen muss, wie man Lächeln schreibt. Die 25% ÖVP glaubt doch immer noch, dass ganz Österreich den Wünschen von Wirtschaftsbund, Bauernbund und Industriellenvereinigung zu gehorchen hat. Diese Partei sollte sich überlegen, ob die Bezeichnung „christlich-soziale Volkspartei“noch gerechtfertigt ist, das wäre ein guter Neuanfang!

  2. Otto Riedling

    Diejenigen ÖVP-Obleute – die die Bünde in die Schranken wiesen (z.B. Weingartner, Platter, Schüssel, Kurz) – waren leider nicht lange genug in Ihrer Position, um dieses „Phänomen“
    nachhaltig zu beenden.

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