Helmuth Schönauer bespricht:
Ludwig Roman Fleischer
Anamnesen
Geschichten vom Kranksein

Die beiden wichtigsten literarischen Genres in Österreich sind Amnesie und Anamnese. Im einen Fall wird alles ausgeblendet, was das Wohlbefinden stört, im andern Fall alles geadelt, was zu einer Krankheit führt.

Ludwig Roman Fleischer fischt seine Helden aus einem Berg von Krankengeschichten, verstörenden Befunden und schön geredeten Desastern heraus, wobei er unter Anamnese nicht nur die Vorerkrankungen einer heldenhaften Person versteht, sondern auch die Krankengeschichte eines Landes, einer Gesellschaft, ja der Geschichte überhaupt. Im Sinne der Erzählung Amras von Thomas Bernhard ist Geschichte nämlich Krankheit.

In zwanzig Geschichten vom Kranksein kommt allmählich eine Gesamt-Anamnese heraus, die ob ihrer Groteske jeden zum Schmunzeln bringt, der diese Befunde in die Finger kriegt. Die ausgewählten Krankengeschichten reichen in ihrer Entstehung bis an die Jahrtausendwende zurück und zeigen daher beinahe im Jahresrhythmus, wie krank die Gesellschaft ist. Oder im Volksmund formuliert: Irgendwer ist immer krank!

In der Eingangsgeschichte Das Magdalenenamulett wird die mittlerweile hundert Jahre alte Tragödie um Nord-, Süd- und Osttirol mit einem einzigen Mini-Plot erzählt. Wie so oft erklärt erst ein spontaner Tod ein undurchsichtiges Leben. Der Gastwirt Lukas Kandioler ist offensichtlich an jener Pandemie gestorben, die ein Schließen der Grenze notwendig gemacht hat. Und der Verstorbene war Grenz-Gastwirt in jeder Hinsicht, nicht nur geographisch, sondern auch historisch, denn er fühlte sich als spätes Opfer der Option, die im Zweiten Weltkrieg die Südtiroler zur Entscheidung aufgerufen hatte, ob sie Dableiber oder Wegzieher sein wollten.

Der Verstorbene hat sich am Trödelmarkt ein Amulett gegen falsche Entscheidungen gekauft, es ist der heiligen Magdalena geweiht.. Aber das Umhängsel hat ihm weder gegen die privaten, noch gegen die politischen Schicksalsschläge genützt.

Jenseits der Grenze sitzt der Sohn des Grenzwirts, er hat das Ristorante geerbt, kann aber nichts damit anfangen, weil er nicht hinüber darf. Er ist kinderloser Witwer im Homeoffice, und unterrichtet irgendwo im Netz Schüler, die keine Ahnung vom geistigen Zustand ihres beamteten Lehrers an der Grenze haben.

Wie so oft bietet die Geschichte eine Lücke an, durch die man hindurch schlüpfen kann. Nach der Teilung Tirols in drei Segmente ist ein Loch entstanden, wodurch Italien an Salzburg grenzt, die berüchtigte Birnlücke. Durch diese wird der Sohn jetzt schlüpfen und seinen toten Vater von der anderen Seite der Grenze aufsuchen, um ihn zu bestatten und das verwahrloste Erbe anzutreten. Das Magdalenenamulett wird auch ihm die Kraft geben, aus der historischen und privaten Anamnese geordnete Schlüsse zu ziehen.

Diese wundersame Krankengeschichte ist wahrscheinlich eine der dichtesten didaktischen Erzählungen, um das Schicksal Tirols quasi vom Jenseits aus zu diskutieren.

Am anderen Ende der Skala des Gemeinwesens stehen intime Schicksalsschläge im kleinen Familienkreis. Unter der lapidaren Bezeichnung Abstoßungsreaktion (15) muss eine Mutter ihren Anderl im Kindersarg begraben, eine Nierentransplantation hat nicht funktioniert, es ist zur berüchtigten Abstoßungsreaktion gekommen. Die Gesellschaft ihrerseits hat manchmal mit kranken Menschen nicht viel am Hut und stößt sie ab, wenn sie nicht billig im Arbeitsprozess untergebracht werden können. Mutter Marie jedenfalls verliert nicht nur ihr Kind, sondern auch den Schutz der sozialen Umgebung, sie muss gehen.

Zwei Ottakringer Karrieren in Weiß (25) führen in die Scheinwelt von Göttern in Weiß. Aus ärmlichen Verhältnissen kommend studieren sie Medizin und spezialisieren sich im legendären Ottakring als Koryphäen. Der eine, Schnurzegal genannt, schreibt alle Beamten krank, die es wünschen, ihm sind die Anamnesen schnurzegal. Der andere trägt den Ehrentitel Befruchtungsmaschine, weil er auf Wunsch alle Geschlechtsorgane künstlich befruchtet, die ihm unter die Finger kommen. Da ist schon mal eine Eigenspende dabei, wie sich herausstellt, als eine Mitarbeiterin auspackt, nachdem sie den Kundenstock verscherbelt hat. 

So unterschiedlich die Bezirkskarrieren auch in der öffentlichen Wahrnehmung auflaufen, am Schluss enden beide im Altersheim. Ihr Glück: sie sind beide dement, sodass sie sich ihre Karrieren nicht neiden können. Eine gute Krankengeschichte macht alle gleich.

Manchmal erleben ganze Dörfer einen allergischen Schock durch die Zeitgeschichte. In der Dorfstory Allheym (43) aus dem Jahr 2017 erlebt der Ort eine typische touristische Dystopie, nach Schilift, Versiegelung der Landschaft und Bepflasterung dieser durch gastronomische Betriebe wird die Infrastruktur den Heuschrecken aus Quatar um den Hals gehängt. Diese ziehen den letzten Saft aus der touristischen Frucht, ehe dann die ganze Gegend abgesiedelt und durch Migration neu aufgemischt wird, Allheym wird zum Al Quarya.

Die Clownology (81) gilt als Krankheit, die salopp mit Narrologie übersetzt werden kann. Es geht dabei um die Phänomene Krankheit und Lachen, die oft durch Lachyoga aus dem Gleichgewicht gebracht werden. Die Krankheit mutiert täglich und wird vor allem im Chronik-Teil der Zeitungen der Öffentlichkeit vorgestellt. Oft gibt der Volksmund dieser Clownology skurrile Namen wie Dieselskandal oder Kickl-Pferd. Gegen diese lachhafte Krankheit ist noch kein Gegenmittel erfunden.

Als universelles Gegenmittel gilt an anderer Stelle die Infanstherapie, (105) die fast alles heilt, indem man die Patienten in die eigene Kindheit führt und ihnen dadurch die Wurzel allen Übels bewusst macht. Die grausamsten Anamnesen folgen oft dem erzähltechnischen Phänomen eines alpinen Kindes, das selbst wächst, während es zusieht, wie die Gletscher schmelzen. Einen ähnlichen Schrumpfungsprozess des Optimismus macht ein sogenannter Aussteiger durch, indem er sich selbst mit Erzähl-Kotze überschüttet und sich auf eine Alm zurückzieht. Wir sind mir zum Kotzen. Wir Männer vor allem. Der ganze europäische Zivilisationszinnober ist ja manngemacht. Vom Schwanz aufgezäumt. (171)

Beeindruckend sind diese Krankheitsgeschichten in ihrer prophetischen Vision, sie sind meist vor zwanzig Jahren entstanden und entfalten erst jetzt in der Zusammenstellung Anamnesen ihre volle Wahrheit. Dahinter steckt der Erzähl-Kunstgriff, wonach der Schöpfungsbericht eigentlich aus acht Tagen besteht: nach dem Sonntag kommt nämlich noch der Klimawandeltag als finaler Zwickeltag ins Nichts.

Ludwig Roman Fleischer: Anamnesen. Geschichten vom Kranksein.
Klagenfurt: Sisyphus 2024. 179 Seiten. EUR 15,80. ISBN 978-3-903125-91-9.
Ludwig Roman Fleischer, geb. 1952 in Wien, lebt in Wien.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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