Helmuth Schönauer
Innsbrucks diffuse Wohnmasse
Stichpunkt

Früher bist du nach Innsbruck gekommen, wenn du eine Wohnung in Aussicht hattest, die du im Umland hast erwarten müssen. Heute ziehen alle erst einmal in die Stadt und jammern, dass nichts frei ist, ehe sie ins Umland ausweichen.

Diese knappen Sätze eines alten Innsbruckers über den Wohnungsmarkt um 1960 lassen sich natürlich nicht mit heute vergleichen. Aber nach wie vor ist am Wohnungsmarkt nichts oder viel los, je nach Sichtweise. Drei Nachrichten aus der 31. Kalenderwoche zeigen, dass der Wohnungshut in der Landeshauptstadt überall brennt,

1. Innsbruck am teuersten
Mit 5.600 EUR pro Quadratmeter für eine gebrauchte Wohnung ist Innsbruck Spitzenreiter in Österreich. Nirgendwo kostet eine Eigentumswohnung gebraucht oder Anleger-neu so viel. Mit 90 qm bist du schon Halbmillionär und gleichst im Lebenswerk für ein paar Minuten einem Ö3-Moderator, der sich so eine Wohnung jedes Jahr erwirtschaftet, indem er die Leute weckt.

2. Kein Notstand am Wohnungsmarkt in Innsbruck
Vor zwei Jahren hat der damalige Bürgermeister den Wohnungsnotstand in Innsbruck ausgerufen und wollte über Nacht Wohnungen requirieren und mutmaßliche Leerstände besiedeln. Das Land hat dem grünen Ansinnen des Zuhör-Bürgermeisters zwar zugehört, aber sein Ansinnen abgelehnt. Der Stadt fehlen nämlich ein paar Zehntelprozentpunkte für den Notstand, weshalb dieser amtlich nicht feststellbar ist. (Zwei Prozent der Stadtbevölkerung müssten eine Wohnung suchen, dann könnte man von Notstand sprechen.)

3. Baustopp mitten in Innsbruck
In zentraler Lage am Franziskanerplatz hat offensichtlich eine Immo-Entwicklergesellschaft als Bauherr vergessen, eine Zufahrt für die Tiefgarage zu planen, man wollte einfach ungefragt zum Nachbarn durchstechen, der schon eine genehmigte Zufahrt hat. Was immer der Grund für den Baustopp ist, er zeigt, dass zum Teil recht unbürokratisch gebaut wird, wenn genug Geld im Spiel ist.

Welche Geschichte lässt sich aus diesen Nachrichten entwickeln?

– Alle Beteiligten erleben die Geschichte von der Wohnmasse in völlig anderem Licht.

– Wohnen ist in der Stadt schon seit Jahrzehnten ein Geschäftszweig, der vor allem mit Studierenden floriert. Zyniker sagen, bei dieser Qualität der Uni müssten die Studierenden wohl wegen der guten Wohnungen nach Innsbruck kommen, wegen der Uni kann das nicht der Fall sein.

– Die Zugezogenen der 1960er Jahre sind jetzt ins Sterben gekommen und hinterlassen der Reihe nach Wohnungen an ihre Nachkommen, die meist um die sechzig sind, und von diesen Wohnungen die Rente aufbessern. Am besten ist Airbnb, da erlebt man vor dem eigenen Tod noch ein Sümmchen.

– Man redet von mittlerweile einem Fünftel bis Viertel der einsässigen Innsbrucker, die eine Reservewohnung zur Vermietung haben und nicht arbeiten müssen. Faustregel: Mit einer Zweitwohnung brauchst du nicht mehr für den Lebensunterhalt zu arbeiten, mit einer Drittwohnung kannst du sogar auf Luxus machen.

– Das Gleichgewicht zwischen Kinder machen und Wohnraum schaffen, das in den 1960ern ganze Stadtteile geprägt hat, ist verschoben. Böswillige sagen, dass man heutzutage zuerst Kinder macht und dann schaut, dass einem jemand eine Wohnung gibt.

– Die Wohnfläche für jeden einzelnen hat sich verdoppelt. Soviel könnte die Stadt am Ende gar nicht bauen, dass sie den Wunsch nach mehr Quadratmetern unterbringen kann. Zumal sich mittlerweile über 5000 Hunde in der Stadt eingenistet haben, die Auslauf in der Wohnung und im Garten brauchen.

– Wenn sich die Wohnungslosen zusammentun, entsteht eine kritische Masse. Dieser tapfere Spruch aus der Nachkriegszeit ist mittlerweile unbrauchbar geworden, weil sich die Bedürftigen schon im Vorfeld der Solidarität misstrauen. Wie soll etwa die hochgepriesene Integration von Zugezogenen funktionieren, wenn nicht einmal Einheimische mit Stammbaum zurück bis ins Höttinger Bild eine Wohnung kriegen?

– Ohne Wohnung keine Integration, ohne Integration keine Staatsbürgerschaft, ohne Staatsbürgerschaft kein Wahlrecht. Das Proletariat wird in Innsbruck dadurch klein gehalten, dass man es vertreibt. Es bleibt ein Wohnungsbürgertum, das gut von den Anlagen lebt, solange die Allgemeinheit Mietbeihilfe und Stipendien zahlt.

– Wer in den Dampf der Innsbrucker Wohnmasse hineinsticht, verbrennt sich Finger und Nase. Der gelernte Saggener, Pradler oder Wiltener stellt bei solchen Anfragen zur Wohnsituation die Gegenfrage: Warum sollen die alle überhaupt in Innsbruck wohnen? Ich geh ja auch nicht nach Zürich und verlange dort eine Wohnung, weil ich gerade Lust auf Zürich habe.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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