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Helmuth Schönauer bespricht:
Armin Thurnher
Anstandslos
Demokratie, Oligarchie, österreichische Abwege

Wenn ein Begriff für sich genommen schon Grübeln auslöst, ist er ein gutes Starterkabel für das Anwerfen eines Essays. Leserschaft und Autor sitzen aufgewühlt um Anstandslos herum, ein Begriff, der vielleicht zur Beschreibung der jüngeren politischen Ereignisse in Österreich dient. Zudem eignet sich das Genre Essay besonders gut für die noch nicht verfestigte Lava in der Geschichtsschreibung, die künftig mit frischem Material bewachsen sein wird.

Anstandslos ist am ehesten mit wie geschmiert zu übersetzen, was ja auch wieder einen Essay auslösen könnte.

Armin Thurnher bearbeitet jedenfalls drei Themenkreise:
a) die Schreibblase eines Ruheständlers in einer Villa im Park
b) die Personen Kurz und Sobotka als Vertreter einer anstandslosen Politik
c) Journalismus in der Falle des Cloud-Kapitalismus

Das Buch ist hauptsächlich in der Quarantäne in einem Waldviertler Privat-Park entstanden, aus sogenannten Seuchenkolumnen hat sich abgeschirmt vom Alltagstrubel eine Geschichte über die beiden Helden Kurz und Sobotka ergeben.

Der Autor ist sich in seiner Schreibblase bewusst, dass er als Journalist mit drin hängt in der Story, denn die Verrücktheiten in der Politik könnten nie funktionieren, wenn nicht der Journalismus sie täglich verbreiten würde.

Als Journalist und Gründer seines Lebenswerkes Falter ist Thurnher auf einem solitären Stuhl im Sitzkreis der Medien angebunden, als Krokodil in der Medienlandschaft wird er nur dort zugeladen, wo man ihn als Quotenmann für den unabhängigen Journalismus zeigen kann.

Jetzt, aus dem Park heraus formuliert, saust die Kurz-Epoche noch einmal in schnellen Schnitten als einzigartige Inszenierung ab. Dabei werden die beiden Protagonisten begutachtet, nicht gewürdigt.

Hängengeblieben ist dem Autor eine Szene in der von Kurz inszenierten Tafelrunde, dabei werden bei Events die Rollen vertauscht, die Politiker fragen die Journalisten, und diese erzählen in ihrem Journalisten-Speech Politisches.

Kurz ist wie immer bestens gebrieft, aber wenn nicht die richtige Antwort kommt, wird er für einen Augenblick richtig wütend, ehe sich das vorbereitete Inszenarium wieder durchsetzen kann. Kurz war nicht rhetorisch, sondern eristisch geschult, was leicht in Rechthaberei übergehen konnte. (94)

Die Politik hinter dieser Inszenierung fällt schließlich wie Schuppen von den Augen: Er hievte unfähiges Personal, dessen einziges Kriterium Loyalität zu ihm war, in höchste Positionen. Er zeigte seine Verachtung für demokratische Ämter, indem er sie als Rangierbahnhof für seine Ambitionen behandelte. (60)

Als zweiter Vertreter der Anstandslosigkeit wird der Nationalratspräsident Sobotka vorgestellt. Die Eckpunkte seiner politischen Karriere sind eine missglückte Spekulation mit Wohnbaugeldern 2001, – sie konnte stracks unter den Teppich gekehrt werden, weil es bei Spekulation ja um fiktive Geschäfte geht, die vor Gericht nicht zählen, – und die kürzlich gelungene Wiedereröffnung des Parlaments mit einem goldenen Klavier, das über seine musischen Freunde organisiert worden ist.

Zwischen beiden Ereignissen verortet der Autor eine Anstandslosigkeit, die er nach einem Zitat von Harry Frankfurt Bullshit nennt. Wir werden täglich von politischen, medialen, werblichen Bullshittern zugeschissen, die Berge häufen sich. (66)

Angeblich gibt es einen feinen Unterschied zwischen dem Trump’schen Fakeismus, wo einfach Unwahres gesagt wird, und dem Bullshitismus, der die Nuance des Unechten in sich trägt. Das goldene Klavier im Parlament ist Bullshit, wenn zuvor sein Präsident einen Untersuchungsausschuss gegen sich selbst geleitet hat. Politisches Desaster soll mit goldener Musik zugeklimpert werden.

So ungefähr laufen die Argumentationsketten, die vor allem die unüberwindliche Dichotomie im Auge haben: Zwischen politischer und juristischer Argumentation gibt es keine Vermischung. Entweder ich argumentiere politisch, dann muss auch das Gegenüber politisch antworten, oder es geht auf die juristische Ebene, dann spricht das Gericht in seiner eigenen Sprache.

Was den Journalisten Thurnher schier in den Wahnsinn treibt, ist diese Vermischung der Welten. Argumentiert jemand politisch-journalistisch, wird er geklagt, stellt er sich auf die Jurisprudenz ein, indem er Zitate aus Untersuchungsausschüssen verwendet, wird er wiederum auf den Datenschutz verwiesen.

Aus diesem Dilemma entwickelt sich von selbst das dritte Thema. Wie können wir im Sinne der Aufklärung und Justiz argumentieren, wenn uns die Medien dafür abhanden gekommen sind?

Logischerweise geht es beim System Kurz um die drei Agenden: Privatisierung | Gleichschaltung der Medien | Renationalisierung Europas. (106) Als Quellen dieser Ideologie lassen sich beispielsweise Das Handorakel (1647) von Baltasar Gracián über die Weltklugheit des Einzelnen herleiten, sowie die Ego-Philosophien der Ayn Rand.

Befeuert von der Hemmungslosigkeit auf Social-media, die durch Bill Clintons Postulat von der Schrankenlosigkeit im Netz ausgelöst worden ist, tut sich eine Medien- und Netzlandschaft auf, die nur ein Wort kennt: Toxisch.

Versöhnlich kehrt der Autor in seinen Park zurück, er hat soeben anstandslos Breitband installiert bekommen.

Die Botschaft des Essays ist der Park. Auf die Denksituation kommt es an, nicht auf das Gedachte. So gesehen kann man allen verzeihen und alle bewundern, von denen man in einer berauschten Sprache gelesen hat.

Was immer man über die Anstandslosen auch denken mag, in der Hand eines aufgeklärten Journalisten wird daraus eine gute Story. Und das ist ja nach wie vor der einzige Sinn von Journalismus.

Armin Thurnher: Anstandslos. Demokratie, Oligarchie, österreichische Abwege.
Wien: Zsolnay 2023. 125 Seiten. EUR 19,60. ISBN 978-3-552-07278-7.
Armin Thurnher, geb. 1949 in Bregenz, Gründer des Falters. Lebt in einer Villa im Park im Waldviertel.


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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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