H.W. Valerian
Walli als Dauerzustand
Essay
„Der Walli“, das war früher eindeutig und allgemein verständlich: Es bezeichnete Eduard Wallnöfer, Langzeit-Landeshauptmann von Tirol 1963 bis 1987. Diese lange Regierungszeit führte natürlich zu einer gewissen Stagnation, zu so etwas wie einem Dauerzustand. Er zeichnete sich einerseits durch das überproportionale Gewicht aus, welches der Bauernbund genoss. Andererseits hatte sich eine Schicht von behäbigen, selbstzufriedenen Patriarchen herausgebildet. Für viele von uns, der damals jüngeren Generation, waren sie nachgerade unerträglich. Gegen Ende der Ära hatten wir das Gefühl, in einem Druckkochtopf zu arbeiten, oben hermetisch verschlossen von einem Deckel, auf dem dick und breit eben diese Patriarchen hockten.
Dementsprechend hofften wir nach Wallis Abdankung auf bessere Zeiten: frischer Wind, ein bisschen Offenheit, ein bisschen Urbanität. Aber da hatten wir uns getäuscht. Es änderte sich nichts, nicht in Tirol – bis heute! Da wird uns dieser Zustand eindrucksvoll vor Augen geführt, wenn solche Herrschaften im Fernsehen auftreten. Eben dies ist denn auch der Anlass meiner Gedanken hier.
Inzwischen ist diese Führungsschicht nämlich schon so machtgewöhnt, so überzeugt von sich selbst, dass sie sicht- und hörbar verknöchert. Damit erkläre ich mir die haarsträubende Öffentlichkeitsarbeit dieser Leute anlässlich der Corona-Krise. Österreich mag lachen, Europa mag ungläubig den Kopf schütteln – was tut’s?
Es läge nahe zu sagen: Die Verknöcherung wird zum Untergang führen. Wir stehen am Anfang vom Ende.
Aber so läuft das nicht in Tirol. Wenn’s nach Walli keinen Wandel gab, dann wird’s ihn wahrscheinlich nie geben. Das liegt allerdings auch daran, dass es eine Vielzahl von Tirolern gar nicht anders will. Wie groß diese Vielzahl ist, darüber traue ich mir kein Urteil zu. Außenstehende machen sich kaum einen Begriff von der indigenen Unterwürfigkeit, Dienstfertigkeit, bis hin zum vorauseilenden Gehorsam. Auch das gehört zum Tiroler Wesen. Schon im mythenumwobenen Jahr 1809 erhoben sich Wallis geliebte „Schitzen“ nicht etwa im Namen von Freiheit oder womöglich gar Gerechtigkeit (Gott behüte!), sondern zwecks Unterwerfung unter Kirche und Krone. Von der Selbstdarstellung der Tiroler als kernig, trotzig und widerspenstig sollte man sich nicht täuschen lassen. Das sind meine Landsleute nämlich in genau dem gleichen Maße wie alle anderen Österreicher auch, nicht mehr und nicht weniger.
„Die Wiener sind herzlich, aber falsch“, hat Hans Weigel einst konstatiert. „Die Tiroler hingegen sind rau – aber falsch.“
Bloß ist das heutige Tirol nicht so. Rau, mein’ ich. Zumindest nicht das ganze Tirol. Wir sind auch ein modernes Land, gut bis hervorragend ausgebildet, viel stärker industrialisiert, als wir das selbst wahrhaben wollen, wobei es sich überwiegend um so genannte KMUs handelt, also kleine bis mittlere Unternehmen, die es trotz allem schaffen, sich gegenüber weltweiter Konkurrenz zu behaupten. Dessen ungeachtet wollen die Leute immer noch Tiroler bleiben, sie klammern sich an ihre Tirolität, wie man so sagt. Wie ist so was möglich? CIM (computer-integrated manufacturing) in der Schützentracht?
Bis heute wird der Walli dafür verehrt, dass er Tirol modernisiert habe, vor allem durch Straßen und Autobahnen. Aber abgesehen davon, dass da möglicherweise Danaer-Geschenke mitverpackt waren, muss doch festgestellt werden: Österreich besteht aus neun Bundesländern, acht davon hatten keinen Walli, doch sind sie deswegen zurückgeblieben?
Was nicht heißt, Walli sei ohne Verdienst um unser Land. Angehörige meiner Generation werden sich daran erinnern, wie er der – damals sozialistischen – Bundesregierung mit einem Schützenaufmarsch an der Osttiroler Grenze zu Kärnten drohte, falls sie nicht von ihren Zusammenlegungsplänen abließe. Das Entscheidende daran war die Art, wie er das tat – mit diesem verschmitzten Lächeln, ganz leicht bloß, gerade genug, damit das, was eigentlich eine Ungeheuerlichkeit darstellte, mit amüsiertem Schmunzeln quittiert wurde. Das machte ihm keiner nach. Und genau darin bestand seine einzigartige Leistung: den Tirolern einen Weg zu weisen, wie sie in modernen Zeiten leben konnten, wie sie von diesen Zeiten sogar profitieren konnten, ohne indes auf ihre so heiß geliebte Tirolität verzichten zu müssen.
Was wir in letzter Zeit an Seilbahnchefs und Wirtschaftskämmerern im Fernsehen gesehen haben, das waren letztlich Produkte von Wallis Dauerzustand. Bloß dass inzwischen halt mehr als dreißig Jahre vergangen sind, und dass nicht jeder, der als Tiroler Größe auftritt, das Format eines Wallnöfer hat.
Aber Änderung, Wandel?
Nein, nicht in Tirol. Ich erinnere mich, wie ich im Regionalfernsehen einmal vor einer Landtagswahl die Befragung von Passanten mitverfolgte. Einer von ihnen, ein männlicher Tiroler mittleren Alters, äußerte ätzende Kritik an der dominierenden Partei, also der ÖVP. Die werde er bestimmt nicht wählen.
Und die Opposition?
Wegwerfende Handbewegung: „Die sind viel zu schwach.“