Egyd Gstättner
Demokratien und Diktaturen
Oder: Es gibt keinen richtigen Song Contest im falschen.

Mittlerweile stehen alle Teilnehmer beim diesjährigen Song Contest fest: Allerdings sind alle falsch! In manchen Ländern herrscht Diktatur (z. B. bei uns), in den meisten Demokratie: Dort geht die Macht vom Voting aus. Der Souverän entscheidet in einer öffentlichen Vorausscheidung – manchmal von dubiosen Experten unterstützt. Aber das Resultat bleibt immer das gleiche: 43 Teilnehmer – 43 falsche Teilnehmer.

Eine wahre Tragödie spielte sich heuer in Norwegen ab: Nach wochenlangen Schlachtgesängen und Duellen landete die beste norwegische Musikgruppe aller Zeiten (Keiino) mit dem brillantesten norwegischen Beitrag aller Zeiten („Monument“) auf dem unfassbar undankbaren Platz 2. Das Land war gespalten! Wenn Sie mir nicht glauben, googeln Sie einfach das norwegische Melodienfestival. Sie werden staunen!

Und wenn Sie schon dabei sind, schauen (und hören) Sie weiter nach Schweden – und trauern Sie um Klara Klingenström. (Der Name klingt wie aus einem Pipi Langstrumpf-Film, ist aber realste Realität! „Behöver inte dig idag“: Eine popmusikalische Offenbarung – auch wenn meine Tochter, ebenfalls Song-Contest-Theoretikerin, meint, es helenefischert ein wenig…)

Ungeheuerlich, welchen Bärendienst die Lettinnen und Letten bei ihrer Vorausscheidung dem Kontinent und der Musikgeschichte mit der Ausbootung von Gabrielius Vagelis („My Guy“) angetan haben! Immer die prächtigsten Balladen auf den Mist!

Dem Fass den Boden schlägt heuer Sanremo aus! So viele grandezzaveredelte Canzoni! Und dann gewinnt … Ich nenne den Namen der Sieger nicht. Sie haben weder Namen, noch Sieg verdient! Die richtige Lösung wäre heuer selbstverständlich Max Gazzé (Il Farmacista) gewesen! Meinetwegen kann man über Ermal Meta („Un milione di cose da dirti“) oder Lo stato sociale („Combat pop“) verhandeln, aber über xxx sicher nicht!! Das krasse Fehlurteil ist so evident, dass ich es Kraft meiner Autorität wie auch alle übrigen außer Kraft setzen muss!

Nachdem also kein einziges richtiges Lied in Rotterdam an den Start gehen wird, kann es natürlich auch keinen richtigen Sieger geben. 43 diktatorische oder demokratische Entscheidungen: 43 falsche Entscheidungen, Fehleinschätzungen, Irrtümer!

Das heißt, wie jedes Jahr bleibt mir nichts anderes übrig, als mit meinen 43 richtigen Kandidaten zum Konklave in den Keller, in die Unterwelt zu gehen und meinen USB- Stick der alternativen Wirklichkeiten in den Player zu stecken: Das ist die politische Gesamtsituation meines Lebens: Vae victis! Als Gemeinsamkeit eine leere Menge.

Egyd Gstättner

Egyd Gstättner (* 25. Mai 1962 in Klagenfurt) ist ein österreichischer Publizist und Schriftsteller. Egyd Gstättner studierte an der Universität Klagenfurt Philosophie, Psychologie, Pädagogik und Germanistik. Schon während des Studiums begann er mit Veröffentlichungen in Zeitschriften wie manuskripte, protokolle, Literatur und Kritik oder Wiener Journal. Seit seiner Sponsion 1989 lebt er als freier Schriftsteller in Klagenfurt, wo er zahlreiche Essays u. a. für die Süddeutsche Zeitung, Die Zeit, Die Presse, Falter, Kurier und Die Furche verfasste. Besonders bekannt wurde er im Süden Österreichs mit seinen Satiren in der Kleinen Zeitung. Darüber hinaus schrieb und gestaltete er Features für die Österreichischen Radioprogramme Ö1 und Radio Kärnten sowie für den Bayerischen Rundfunk.1993 wurde er zum Dr. phil. promoviert. 1990 erschien die erste eigenständige Buchpublikation („Herder, Frauendienst“ in der „Salzburger AV Edition“). Bis 2018 wurden insgesamt 34 Bücher Gstättners bei Zsolnay, Amalthea, in der Edition Atelier und seit 2008 im Picus Verlag Wien publiziert. Seit 2016 hat er einen zweiten Wohnsitz in Wien. Gstättner ist verheiratet und hat zwei erwachsene Töchter.

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